Erschütterungen. Dann Stille.: Übler Nachgeschmack

Über die Kurzgeschichte “Übler Nachgeschmack” aus “Erschütterungen. Dann Stille.”

Mit den Worten Sie liegt noch immer in der Küche beginnt die Kurzgeschichte Übler Nachgeschmack im Erzählband Erschütterungen. Dann Stille.. Was ich mit diesem Anfang bewirken wollte, wie es zur Erzählung gekommen ist und warum Sehnsuchtsgeschichten in jede Anthologie passen, kläre ich in diesem Blogartikel. Ohne Spoiler ist das nicht zu machen. Lest also bitte zuerst die Geschichte und dann den Artikel!

Content Notes: Mord, Essen, Liebe(skummer)

Hunde?

Die erste Assoziation, die ich selbst immer habe, wenn ich den Anfang von Übler Nachgeschmack wiederlese, ist eine Szene aus dem Film In China essen sie Hunde. (Vorsicht Filmspoiler!) Arvid, der Protagonist, hat seine dauernörgelnde Freundin umgebracht. Auf die Frage, wo sie sich befände, antwortet er: Zuhause. Im Flur… und in der Küche. Auch wenn es nichts mit meiner Geschichte zu tun hat, mag ich die Andeutung von extremer Wut in einem sonst ruhigen Charakter sehr. Arvid hatte die Schnauze voll und hat seine Freundin nicht bloß erschlagen, sondern offenbar mindestens in zwei Stücke zerlegt. Dass es ausgerechnet Gewalt gegen Frauen sein muss, die hier als Scherz genutzt wird, gibt natürlich einen üblen Beigeschmack. Zack, Überleitung.

Ähnliche, weniger spezifische Assoziationen würde ich bei Leser*innen von Übler Nachgeschmack gern auslösen mit dem ersten Satz. Da man noch nicht weiß, worauf sich das Sie zu Beginn bezieht, denkt man zuerst an eine Frau. Da sie noch immer in der Küche liegt, tut sie das wohl schon länger. Und warum sollte man ausgerechnet in der Küche liegen? Nur Verletzte und Tote liegen längere Zeit (regungslos) in der Küche herum. Das oder etwas Ähnliches hätte ich gern in die Köpfe der Leser*innen projiziert. Doch nicht die Partnerin ist tot, sondern die Liebe, und nicht sie liegt herum, sondern die Pizza.

Die Pizza

Ursprünglich ist die Geschichte entstanden, als jemand (auf Twitter oder in einem Forum?) dazu aufrief, Geschichten über Pizza zu schreiben. Das war Teil eines Scherzes, den ich vergessen habe, im Rahmen einer Unterhaltung, die ich ebenfalls vergessen habe. Und dennoch war das der Auslöser. Pizza. Was kann man mit Pizza literarisch anfangen? Gar nicht mal so wenig. Slice of Life – gilt das schon als Pun? – wäre eine passende Assoziation. Oder man nutzt die Pizza eben eher symbolisch, wie ich es getan habe.

Zwei Dinge sollte man mit der Pizza in Übler Nachgeschmack verbinden: Hunger und das Festhalten an Dingen, die man loslassen sollte. Die Ich-Erzählinstanz (oder Ich-Erzähler*in?) erwähnt den Hunger zum Zeitpunkt des letzten Streits des Paares. Aber man kann den Hunger auch als Sehnsucht interpretieren. Etwas fehlt, etwas Essenzielles. Nahrung, um zu überleben, oder Seelennahrung, Nähe, Liebe, um zu leben. Loslassen sollte die erzählende Person die Beziehung der beiden, die offensichtlich zerbrochen ist, schlecht geworden, nachdem sie zu lange schlechten Einflüssen ausgesetzt gewesen war. Irgendwann reicht es. Eine ungesunde Beziehung oder gammelige Lebensmittel sollte man wegwerfen, so schade es auch manchmal sein mag. (An dieser Stelle verlinke ich meinen Blogeintrag über Lebensmittelmetaphern in Alte Milch.)

Das große Fehlen

Ich habe keine Ahnung, wie glücklich du gerade bist. Du liest das hier. Das bedeutet, du hast immerhin die Zeit dazu. Vielleicht interessiert dich das Thema sogar und du liest nicht aus einem Gefühl der Verpflichtung heraus. Dann könntest du zufrieden sein. Wie groß ist der Anteil der zufriedenen Momente an deinem kompletten Leben? Oder einem Zeitabschnitt, sagen wir innerhalb dieses Jahres?

Auch wenn du glücklich bist, vermisst du sicherlich Dinge, Zeiten, Menschen. Sehnsucht ist etwas, das jede*r kennt. Oder? Ich weiß es nicht, vermute es aber. Auch wenn heutzutage klar ist, dass nicht alle (gesunden wie ungesunden) Menschen romantische Liebe empfinden, fühlen doch alle (gesunden) Menschen irgendeine Form von Liebe. Und immer gibt es in Biographien Zeiten, die es mehr oder weniger verdient haben, vermisst zu werden und Sehnsucht auszulösen. Sehnsucht ist menschlich (wie Irren, was zu Fehlern führt, was wiederum zu Sehnsucht führen kann).

Das große Fehlen von Dingen, Zeiten, Menschen, Zuständen treibt uns voran (und manchmal zurück). Sehnsucht ist ein Zustand, der uns beflügeln kann. Evolutionär sinnvoll. Emotional anstrengend. In der Literatur liegt man selten falsch, wenn man Liebe zum (Neben)Thema macht, und eben so wenig, wenn man Sehnsucht dazu macht. Deshalb sind Sehnsuchtsgeschichten, die auch gerne mal getarnt sind, immer eine gute Wahl für Anthologien. (An dieser Stelle verlinke ich mal wieder den Auftritt von Neil Hilborn: Neil Hilborn – OCD, einem perfekten Beispiel für einen Sehnsuchtstext.)

Du fehlst mir

Simplizität bedeutet Direktheit bedeutet schnelles Verstehen bedeutet Mitfühlen. Literatur kann und darf verkopft und seltsam und schwierig sein, aber geht es um Gefühle, geht es um Sehnsucht, ist nichts besser als eine direkte, knappe, scheinbar alltägliche, deutliche Aussage wie Du fehlst mir. Du fehlst mir hat mehr Macht als alle Jahreszeiten- und Blumenvergleiche der Welt. Du wirst mich niemals so an mich selbst und mein Leben und Leiden erinnern, als wenn du Aussagen nutzt, die auch Kindern einfallen könnten: Ich will nach Hause. Du fehlst mir. Lass mich! Ich brauche Hilfe.

Versucht man also, Gefühle in Leser*innen auszulösen, sind direkte Formulierungen unschlagbar. Sie sind da. Sie sind nah. Sie sind so kurz, dass sie sozusagen plötzlich im Auge, im Kopf, im Herzen der Leser*innen sind. Ist der Satz gelesen, ist er bereits verarbeitet und verknüpft. Kein Nachdenken. Nur Fühlen. Sätze mit etwa 2 oder 3 Wörtern brechen Herzen. Ich liebe dich. Ich vermisse dich. Du bedeutest mir nichts. Geh weg. Sätze, die man hört und sagt, wenn der Kopf im Chaos versinkt und nichts mehr hält. Stil ist egal. Du fehlst mir.

Erschütterungen. Dann Stille.: Trauben

Über die Kurzgeschichte “Trauben” im Erzählband “Erschütterungen. Dann Stille.”

Content Notes: Massenpanik, Enge Räume, Explosionen

Wenn Panik die Dynamik einer Menschengruppe übernimmt, geht der Verstand unter und mit ihm meist die eine oder andere Person. Wer erinnert sich an die Panik-Szene in Sorck? Die habe ich in winziger Abwandlung im Urlaub erlebt. Ein Vorgeschmack von dem, was Schlimmeres hätte passieren können. Im folgenden Blogeintrag geht es um die Kurzgeschichte Trauben aus Erschütterungen. Dann Stille., meinem neuen Erzählband. Es geht um das Rezept für Massenpanik, Wortassoziationen und Erinnerungen. Doch lest zuerst die Geschichte und dann den Text, denn ohne Spoiler ist es nicht zu machen!

Wie man eine Massenpanik kreiert

Zunächst einmal braucht man Menschen und zwar ausreichend viele. Diese sollten nicht alle miteinander bekannt sein. Eine gut organisierte Gruppe gerät weniger schnell in Panik und beinhaltet eher Autoritätspersonen, die Ordnung und Ruhe schaffen können. Nehmen wir also eine lose Gruppe, sagen wir: Touristen.

Am wichtigsten für eine Massenpanik ist neben der Masse selbst der Ort. Es ist logisch, dass ein Ort, von dem man jederzeit verschwinden kann (ein offener Platz o.Ä.), sich nicht für eine Panik eignet. Ein Tunnel, eine Unterführung, abgesperrtes Gelände (durch Zäune, Mauern, Polizei etc.) oder eben ein U-Bahn-Eingangsschacht. Damit hätten wir quasi die Seiten geklärt. Man läuft von Punkt A nach Punkt B und auf dem Weg befinden sich an beiden Seiten Absperrungen.

Bleiben noch Eingang und Ausgang. Die Masse bedingt den Eingang zur Panikfabrik. Das heißt, es rücken immer mehr Menschen nach. Entweder sie wissen nicht, was weiter vorne vorgeht (siehe Love Parade), oder sie werden getrieben (siehe durch die Polizei ausgelöste Paniken). Und dann kommt der Knackpunkt. Der Ausgang ist zu. Er muss gar nicht wirklich zu sein, aber er ist blockiert oder einfach zu schmal, um den Andrang verarbeiten zu können. Diese Engstelle ist der Ursprung eines Staus, der immer länger wird und schließlich immer dichter, weil mehr und mehr Menschen nachströmen.

Es gibt noch weitere Faktoren, die das Geschehen verschlimmern oder entschärfen können. Komplette Studien haben sich damit beschäftigt. Wer sich dafür interessiert, sollte sich nicht auf mich verlassen, sondern selbst recherchieren. Ich biete nur ein sehr oberflächliches Bild hier.

Das Beispiel aus Sorck / Erinnerung

Wir waren in der Eremitage, dem großen und hochinteressanten Museum in Sankt Petersburg. Während wir hindurch geführt wurden, haben Mitarbeiter*innen immer mehr Türen geschlossen. Auf Nachfragen unserer Reiseführerin wurde uns mitgeteilt, dass das Museum früher schließen würde, weil später noch ein Politiker kommen würde. Keine Info im Voraus. Ich tendiere nicht dazu, im Urlaub zu meckern, wenn einmal etwas schiefgeht, aber es kann gut sein, dass ich niemals wieder nach Russland kommen werde und außerdem habe ich ein Visum beantragen müssen für einen einzigen Landgang von etwa 6 Stunden Dauer … Nungut, weiter im Text.

Alle Besucher*innen wurden mehr oder weniger unsanft zum Ausgang gedrängt.

Der Ausgangsbereich sieht folgendermaßen aus: Man kommt durch eine Tür in eine Halle. Alles verteilt sich, kein Stress. Die Ausgangstür wiederum ist wirklich nur eine Tür. Draußen hat es geregnet. Ohne sich etwas dabei zu denken, haben sich diejenigen, die aus dem Gebäude kamen, nicht weiterbewegt, sondern blieben stehen, um nicht nass zu werden. Sie stellten sich unter oder öffneten gemächlich ihre Regenschirme. Man kam also nur sehr langsam heraus. Gleichzeitig strömten weitere Menschen (angetrieben von den Mitarbeiter*innen) in die Halle. Es wurde immer und immer enger.

Hier haben wir ein gutes Beispiel für eine mögliche Massenpanik, auch wenn vermutlich mit einigen Hundert Besucher*innen zu wenig Menschen vor Ort waren für eine richtige Panik. Glaubt mir, ich habe den Menschen in die Augen gesehen: Die Angst war überall. Es gab einen schmalen Eingang in die Halle, durch den man nicht mehr flüchten konnte, weil noch mehr Menschen nachstrebten. Dann gab es den schmalen Ausgang, der wiederum halbwegs von Menschen blockiert worden ist. Dazwischen gärte es.

Wortassoziation

In Trauben spiele ich mit der Vermischung einer Panik-Szene und Kindheitserinnerungen des Protagonisten. Früh innerhalb dieser Erinnerungen taucht die Assoziation von Substantiv Weingut mit dem Wunsch schlaf gut! auf. Wenn man das Wort Weingut also wein gut! liest, ist die Verwirrung des Kindes verständlich. Es scheint keinen Sinn mehr zu ergeben.

Einerseits ist die Erwähnung dieser Wortassoziation dazu gemacht, um die Unschuld und eben das geringe Alter des Kindes zu unterstreichen. Andererseits deutet sie bereits den grundsätzlichen Wortspielcharakter des Titels und der Verbindung zwischen der Beobachtung des erwachsenen Protagonisten und seiner Kindheitserinnerung an.

Die Geschichte ist nur entstanden durch die Assoziation Weintrauben – Menschentraube. Wem die Wortverbindung bekannt vorkommt, denkt vielleicht an das Gedicht Stadt Land Fluss aus Alte Milch. Man kann durchaus 2 völlig unterschiedliche Texte aus einer einzigen Assoziation machen. Damit haben wir auch die direkte Verbindung aus der Menschentraube, die Protagonist Simon beobachtet, und seiner Erinnerung.

Unschuld als Beschleunigungsfaktor

Neben der Assoziation von Menschentraube zu Weintraube haben wir noch die weniger schönen Konsequenzen beider Beobachtungen. Aus den Weintrauben wird Wein gemacht, eine rötliche Flüssigkeit (sofern wir von Rotwein ausgehen). Aus der Menschentraube wird Weinen gemacht. Die Menschen bluten.

Ich hätte nun einfach voyeuristisch Panik und Verletzungen beschreiben können. Aber warum sollte ich? Ich sehe keinerlei literarischen Wert darin. Durch die Verbindung mit der Kindheitserinnerung scheint die Geschichte auf einer Ebene entschleunigt zu sein, da eben Einschiebungen vorkommen, die keinerlei Action enthalten. Aber die Auswirkungen dessen, was Simon beobachtet, werden verstärkt durch die Verbindung zur Weinherstellung und zur Spielerei mit den Worten Wein/Weinen. Sobald die Bilder im Kopf entstehen, ist die Sache klar: Der Bottich (der Eingang zur U-Bahn), in dem die Trauben (Menschen, Menschentraube) liegen, auf denen Füße trampeln, bis der rote Saft austritt. So kunstvoll und künstlerisch die Idee beginnt, so brachial und körperlich endet sie.

Verarbeitung, Aussage, Handwerk?

Warum das alles? Das ist eine Frage, die ich mir ständig stelle, aber vergleichsweise selten im Zusammenhang mit meinen Geschichten. Ich brauche ein Warum fürs Leben, nicht fürs Schreiben. Und dennoch! Woher kommt das alles? Trauben ist wie eigentlich alles entstanden aus einer Vermengung verschiedenster Aspekte, Wörter, Ideen, Erfahrungen und immer auch der Frage, ob ich so etwas umsetzen kann.

Mich faszinieren Assoziationen. Warum verbindet mein Gehirn im Traum scheinbar völlig unverbundene Elemente und baut daraus eine wahrlich aussagekräftige Message? (Das tut mein Hirn übrigens wirklich. Meine Träume sind ähnlich strukturiert wie meine Geschichten, aber leichter interpretierbar.) Wieso verbindet man manchmal uralte Erinnerungen mit neuen Erlebnissen? Oder warum sterben Heroinabhängige an einem Ort, an dem sie sonst nicht spritzen, an einer Überdosis, obwohl sie nicht mehr nehmen als sonst? Hier ist die Antwort übrigens, dass sich der Körper quasi vorbereitet ist am Standard-Konsumort und woanders nicht. Die Assoziation geht also über das rein Geistige hinaus. Der Körper spielt mit.

Mehr als um eine Aussage oder voyeuristische Action geht es mir also ums Nachdenken über Assoziationen an sich. Alle, die mehr herausgelesen haben, sind herzlich eingeladen, dabei zu bleiben und mitzunehmen, was sie können!

Sicherheitshalber

Im Zuge dieses Blogeintrags wurde das Thema Massenpanik etwas flapsig besprochen. Das soll keineswegs ein Zeichen mangelnden Respekts gegenüber Personen sein, die derartige Situationen durchleben mussten oder, schlimmer noch, nicht überlebt haben, oder fehlenden Bewusstseins, wie schrecklich eine solche Situation ist. Wie bereits mehrmals erwähnt, gehöre ich zu den Menschen, die schreckliche Dinge besser (oder nur dann) verarbeiten können, wenn sie Humor verwenden (dürfen).

Passt auf euch auf und versucht in allen angemessenen Situationen, die Ruhe zu bewahren. In allen anderen dürft ihr ausrasten und manchmal solltet ihr das sogar!

Das Ende des Blogeintrags, das Ende der Welt

Im Blogeintrag Apokalyptische Bilder habe ich, wie der Titel bereits besagt, über Bilder und Vergleiche in der Literatur geschrieben, die die Offenbarung des Johannes aufgreifen. In der Kurzgeschichte Trauben kommen ebenfalls einige Bilder vor, die sich an der Apokalypse orientieren, weil jeder Tod zugleich der Weltuntergang ist (Hermann Burger). Wir brauchen nicht das Ende der Welt als solcher, es reicht das Ende einer Welt.

Erschütterungen. Dann Stille.: Der Spinner

Über “Der Spinner” in “Erschütterungen. Dann Stille.”

Die meisten Autor*innen veröffentlichen nicht direkt ihr erstes Manuskript. Ich auch nicht. Sorck war bei mir Manuskript Nr. 3. Zuvor hatte ich bereits Der König der Maulwürfe und Schildbürger geschrieben. Aus Schildbürger ist schließlich Der Spinner in Erschütterungen. Dann Stille. geworden, also eine kurze Erzählung. Wie ist es dazu gekommen? Dieser Blogeintrag wird es ein Stück weit erklären. Ohne Spoiler ist das unmöglich. Lest also zuerst die Geschichte und dann den Blogeintrag!

Von der Überheblichkeit des Anfängers

Mein erstes Romanmanuskript habe ich ohne Planung geschrieben. Ich weiß, manch eine*r kann das. Ich nicht. Es hat nicht ausschließlich daran gelegen, dass 80% des Manuskripts unter Alkoholeinfluss entstanden sind, dass das Ergebnis zu nah an mir als Person liegt. Grundsätzlich tendiere ich dazu, autobiographisch(er) zu werden, je weniger Planung vorliegt und je länger der Text wird. Der König der Maulwürfe ist ein persönliches Auskotzen mit einigen Kunstelementen und ohne viel Struktur geworden. Immer Nr. 1, aber niemals veröffentlichungswürdig.

Während des Verfassens des zweiten Manuskripts habe ich gerade hochmotiviert die Vorlesungen und Kurse des ersten und zweiten Semesters Komparatistik/Philosophie absolviert. Die meisten Ideen habe ich in der S-Bahn zwischen Bochum und Dortmund entwickelt, wenn ich nicht gerade gelesen habe. Ich vermisse diese Zeit.

Ein dreischichtiger Aufbau, der sich dem Verfasser (mir), der sich wiederum selbst als Kunstfigur und verfälscht darstellt, annähert:

  1. Die Geschichte,
  2. die angebliche Poetik,
  3. die hinterlassenen Aufzeichnungen.

Rahmen waren die Bemerkungen der Familie, die angeblich Manuskript, Poetik und Aufzeichnungen gefunden haben und nach dem mysteriösen Tod zu einem Buch zusammengefasst haben, um mir meinen Lebenswunsch zu erfüllen. Wirres Zeug. Für ein Debüt unmöglich irgendwo unterzubringen. Außerdem musste ich einsehen, dass ich für derartige Experimente noch nicht das notwendige Niveau erreicht hatte. Das Manuskript wurde schweren Herzens beiseite gelegt.

Die Macht des Rotstifts

Jahre später habe ich das Manuskript wieder herausgekramt. Und wieder weggelegt. Jahre später habe ich es erneut hervorgeholt. Es gab Stellen mit Potenzial und lange Passagen, die restlos gestrichen werden mussten. Das habe ich getan. Zunächst habe ich den dreiteiligen Aufbau gesplittet. Part 2 und 3 gehören zusammen und fließen ineinander über. Aber Part 1 konnte für sich stehen. Diesen Teil habe ich mir also vorgenommen.

Noch immer war die Geschichte voll gezwungener Passagen und Ausflüge in Bereiche, die nichts mit dem Kern der Story zu tun hatten. Es wurde erneut einiges ersatzlos gestrichen, ungefähr 2/3 fielen weg, würde ich sagen. Danach wurde mehrmals gefiltert und die Kernidee herausgearbeitet: den Kreislauf der Geschichte und das Spiel mit der Identität (die ursprünglich der Kern des gesamten Romans sein sollte). Ein paar schöne Ideen mussten rausfliegen. Allerdings sind sie nicht vergessen. Vielleicht werden sie in anderen Geschichten auftauchen. Ich habe also jetzt ein komplettes Romanmanuskript zu einer kurzen Erzählung abgespeckt. Weit über 100 Buchseiten weg.

Die Reste

Die erwähnten Parts 2 und 3 beinhalteten ebenfalls einige sehr gute Szenen. Auch wenn eine fiktive Poetik kaum verwendbar sein dürfte, von einigen Sätzen abgesehen, ist dieser Part nicht für Nichts gewesen. Die erwähnten Sätze werden (irgendwann) zu den brauchbaren Teilen aus dem angeblichen Notizbuch (Part 3) gestellt und eine neue Geschichte ergeben: Eine Reise in die Kindheit, eine kreisförmige, sich selbst auflösende Geschichte. Ich mag so etwas ja bekanntlich. Aber zurück zu Der Spinner:

Die Sache mit den Namen

Im Blogartikel Figurennamen suchen und finden habe ich meine allgemeine Vorgehensweise auf der Suche nach Figurennamen dargestellt. Auch Der Spinner wird kurz erwähnt. Hier nun die Details. Im obersten Rahmen erzählt der Erzähler (Maskulinum, weil man idealerweise die Figur der ersten Ebene, den Erzähler und den Autor gleichsetzt – was natürlich ein gewollter Fehler ist) von Matthias. Matthias wiederum schreibt über Matias, aber erst nachdem er sich gegen die Verwendung des eigenen Namens entschieden hat. Später schreibt er über Mateusz. (Randnotiz: Die polnischstämmigen LKW-Fahrer in einem Betrieb, in dem ich einige Jahre gearbeitet habe, nannten mich stets Mateusz, was die polnische Variante meines Vornamens ist.) Im gleichen Absatz wird über Matheo geschrieben. Das Namenskonzept ist offensichtlich, denke ich. Sämtliche Figuren sind nach verschiedenen Ablegern des Namensstammes Matthias/Matthäus benannt. Ursprünglich stammen diese Namen übrigens (über ein paar Zwischenschritte, Übersetzungen und Kürzungen) aus dem Hebräischen, von Mattitjahu ab, was „von JHWH [das Tetragramm des Namens Gottes] gegeben“ bedeutet, was man wiederum als „Geschenk Gottes“ übersetzen kann.

Multiversen?

Neben Daniel Kehlmann und der Pflichtlektüre für die Uni habe ich zur Zeit der Abfassung des ursprünglichen Manuskripts gerne populärwissenschaftliche Bücher über Physik, speziell Multiversentheorien, gelesen. Eine dieser Theorien besagt, dass in einem Universum von unendlicher Größe und endlicher Menge an Kombinationsmöglichkeiten für die vorhandenen Elemente nicht nur unendlich viele Kopien der Erde existieren würden, sondern auch jede Abwandlung davon. Das bedeutet, dass auf unendlich vielen Erdkopien (sofern wir unsere Erde als Original betrachten) jede der Figuren existiert, die ich erfunden habe, und dass sie genau das tun, was ich beschreibe. Die Einschränkung ist hier nur, dass ich die Figuren nicht so erfinde, dass sie den Regeln des Universums widersprechen. Sie existieren allerdings nicht, weil ich sie erfinde, sogar lediglich genau so, wie ich sie erfinde.

Für die Geschichte Der Spinner bedeutet das, dass meine „Kommunikation“ mit der Figur (beziehungsweise jene des Erzählers) tatsächlich stattgefunden hat. Wenigstens in dem Sinne, dass die Person, die der Figur entspricht, eine Stimme mit den exakt gleichen Worten, wie im Text geschrieben, gehört und auf die gleiche Art und Weise reagiert hat. Um Goldmember (aus Austin Powers) zu zitieren: „Ist das nicht abgefahren?“

Was bedeutet es für die Literatur, wenn alles, was sie hervorbringt, tatsächlich passieren würde? Hätte man eine moralische Verpflichtung, ein Happy End zu verfassen? Dann müsste es eine Korrelation zwischen Erfindung des Figuren und Existenz ihrer realen Gegenparts geben. Aber mir ist es um etwas anderes gegangen.

Was ist Gott, wenn die Welt Literatur ist?

Ich bin Autor. Aber in Der Spinner schreibe/erfinde ich jemanden, der ebenfalls Autor ist. Dann erfinde ich eine Kommunikation zwischen Erzähler und Figur. Ich bin jetzt mal ehrlich und gebe zu, ich finde das sch**ß gruselig. Die Überlegung, dass nicht nur ich jemanden erfinden kann, sondern dass auch mich jemand erfinden könnte, erfunden haben könnte. Erfinden, lenken und ins Unglück stürzen. Damit kann ich nicht allein dastehen. Oder? Was bedeutet mein Leben, wenn ich bloß Teil einer Geschichte bin? Wir sind längst im Gedanken einer prädeterminierten Welt. Ich lasse euch mit dem Gedanken allein, wie ich damit allein gewesen bin. (Zur Sicherheit betone ich, dass ich zwar den Gedanken gruselig finde, aber ihn nicht glaube. Das würde wohl an paranoide Wahnvorstellungen grenzen.)

Jorge Luis Borges und der Einfluss der Literatur auf die Realität

Keine Sorge, es wird nicht endlos weitergehen, auch wenn ich noch einige Stunden hier sitzen und tippen könnte. Die Einflüsse, Ursprünge und Ideen von Der Spinner sind Legion. Aber das hier muss noch sein. Eine der bekanntesten Geschichten von Jorge Luis Borges ist Tlön, Uqbar, Orbis Tertius. Ein Meisterstück der Gedankenverdrehung. Brain F*ck, könnte man sagen. Lest die Geschichte (und generell viel mehr von Jorge Luis Borges)!

Jedenfalls geht es um den Einfluss der Erfindung auf die Realität. Was sagt uns, dass es das Erfundene als eigenständige Welt nicht gibt? Dass nicht jede Fiktion irgendwo eine Realität wird? Schöpfung durch Fantasie. Spätestens seit Die unendliche Geschichte kennen die meisten Deutschen dieses Konzept. Es ist hochspannend, wenn man ernsthaft darüber nachdenkt. Die Konsequenzen, die sich daraus ziehen lassen, und die Ohnmacht, die uns befällt, wenn unsere Welt als Fiktion eines fremden Wesens aufgefasst werden würde. Außerdem: Wer ist Protagonist*in und wer ist Statist*in?

Mehr Gedanken als Worte

Jetzt bereits ist dieser Blogeintrag länger als die meisten Texte auf meiner Seite. Ich habe sämtliche Punkte nur angerissen und könnte noch weit mehr anführen. Tatsächlich ist Der Spinner nicht umsonst eine meiner Lieblingsgeschichten in Erschütterungen. Dann Stille.. Die Story stellt die Essenz der Gedanken mehrerer Jahre und der Arbeit an einem kompletten Romanmanuskript dar. Ich bin sehr froh, dass ich euch diese Erzählung präsentieren darf und all die Gedankenarbeit nicht umsonst gewesen ist.

Ich weiß leider, dass viele Leser*innen nicht viel Wert auf die Gedanken nach dem Lesen legen, sondern währenddessen unterhalten werden wollen. Dennoch bitte ich euch, die Geschichte auch insofern zu würdigen, dass sie viel mehr enthält, als man bei einem Lesedurchgang miterleben könnte!