Slipknot und die Wahrheit über aggressive Musik

Über Slipknot und die Vorteile aggressiver Musik.

1999 war ich 14 Jahre alt und im gleichen Jahr erschien das erste Album von Slipknot mit Sänger Corey Taylor. Ich hasste die Welt so sehr. Etwa ein Jahr später entdeckte ich Slipknot für mich. Endlich hatte ich nach mehreren Jahren wieder echte Freunde gefunden, die mich ein Stück weit auffingen, aber gerettet war ich noch lange nicht.

Ich erinnere mich, wie ich in jeder Pause am gleichen Ort saß neben meinem besten Freund, der mich noch heute begleitet. Mit dem rechten Ohr hörte ich Slipknot und er mit dem linken. In meiner Erinnerung redeten wir in diesen Momenten wenig bis gar nicht. Die Musik packte mich und ich starrte auf all die Mitschüler, die ich zum Kotzen fand. Aber es lag natürlich nicht an der Musik.

Wenn mal wieder ein junger Mensch durchdreht, wird die Schuld gern auf Videospiele, Filme und auch aggressive Musik geschoben. Doch die Wahrheit ist, dass Jugendliche, die sich von Killerspielen oder Action-Filmen anspornen lassen, um Gewalt zu üben, längst hätten gerettet werden müssen. Zu den beiden Faktoren möchte ich nichts sagen, sondern nur zur Musik. Die Songs von Slipknot zeigten mir vieles, das mir vorher nicht klar war. Meine Wut war nicht meine Schuld, sie war nicht die Ausgeburt eines schlechten Menschen und nicht nur ich spürte sie. Meine Wut wurde mir von außen aufgezwungen und anderen ging und geht es auch so. Jemand hatte Worte gefunden für meine Gefühle, die ich nur stillschweigend in mir kochen lassen konnte (und sie waren so furchtbar kurz vorm Überkochen). Die Worte mochten nicht meine gewesen sein und die Musik war roh, aber beide trafen es auf den Punkt.

Running out of ways to run
I can’t see, I can’t be
Over and over and under my skin
All this attention is doing me in

Fuck it all! Fuck this world!
Fuck everything that you stand for!
Don’t belong! Don’t exist!
Don’t give a shit!
Don’t ever judge me!

Picking through the parts exposed
Taking shape, taking shag
Over and over and under my skin
All this momentum is doing me in!

You got all my love, livin’ in your own hate
Drippin’ hole man, hard step, no fate
Showin’ you nothing, but I ain’t holdin’ back
Every damn word I say is a sneak attack
When I get my hands on you
Ain’t a fucking thing you can do
Get this cuz you’re never gonna get me
I am the very disease you pretend to be

I am the push that makes you move

Slipknot – Surfacing

Erinnert ihr euch, wie Marilyn Manson als das absolut Böse verschrien wurde? Es gab Proteste und Beinahe-Anschläge und so viel Hass gegen ihn wie selten gegen einen Künstler. Und warum? Er war angepisst von der Welt und sprach damit Hundertausenden aus der Seele. Über Manson werde ich sicherlich auch noch mehr schreiben, aber hier soll es ja um Slipknot gehen. Bei ihnen war es im Grunde das selbe, nur mit etwas weniger oder anderer Öffentlichkeitswirkung. Solche Musik (und auch andere Kunstformen, die diese geballte Wut und Traurigkeit ausdrücken) haben nicht nur eine Existenzberechtigung, sondern sind ein unumgängliches Muss, beinahe eine Verpflichtung. Wir sind nicht alle gemacht für die glatt gebügelte und ewig beruhigende Pop-Welt.

Aggressive Musik hat mir nicht nur gezeigt, dass ich nicht allein und gestört bin, sondern schenkte mir auch ein Ventil. Ich habe mehrmals darüber geschrieben und werde es wohl noch häufiger tun. Die Energie, die nicht sanft herausgelockt, sondern brutal gegriffen und an die Oberfläche gerissen wird, kommt endlich raus. Ich erinnere mich, wie ich mitgeschrien habe, wie ich zitterte vor Wut und Aggression, wie ich herumsprang, headbangte, pogte und plötzlich – endlich! – für Momente befreit war. Kein Ritzen und keine Verbrennungen gaben mir diese Art von Erlösung.

Die Teenager-Jahre sind prägend fürs Leben, denke ich. Heute bin ich nicht mehr der Junge von damals, aber irgendwie eben doch. Mir geht es zum Glück sehr viel besser, aber noch heute brauche ich Musik, die wehtut und mich zwingt, die Wut auf gesunde Weise herauszulassen, Musik, die mir zeigt, dass es anderen auch so geht.

Clown von Slipknot sagte vorletztes Jahr in einem Interview: I don’t need the new fan, I need the fan that has anxiety, parents are getting divorced, social problems, gender problems — I need them to come […] und das ist mir im Gedächtnis geblieben. Sie sind sich ihrer Bedeutung bewusst trotz allem Erfolg und allen Geldes. Ich habe entschieden, das nicht für reine Publicity zu halten. Dieses Interview ist 19 Jahre nach Erscheinen des ersten Albums gegeben worden. Ich mag das meiste ihrer Musik, aber dieses erste Album hat immer eine besondere Bedeutung behalten. Es war roh und brutal und genau das, was ich damals dringend brauchte. Natürlich gab es andere aggressive Musik, Slayer usw. Aber Slipknot fühlten sich echter an, ehrlicher. Ich halte das für einen wichtigen Faktor und ich rede nicht vom albernen Attribut, das Metalheads gerne als true bezeichnen. Es fühlte sich an, als wären sie genau so wütend wie ich.

Und wie beende ich den Artikel jetzt? Ich habe wohl mehr offenbart, als ich eigentlich wollte. Heute würde ich mich nicht mehr als Fan der Band bezeichnen, aber ich betone es noch einmal ganz deutlich: Slipknot und andere aggressive, deprimierende, abgefuckte und verstörende Bands haben eine Berechtigung und eine wichtige Aufgabe. Sie holen diejenigen ab, die von allen anderen zurückgelassen worden sind. Musik ist für dieses emotionale Abholen wohl am besten geeignet, aber auch andere Kunstformen sollten offen dafür sein und als Autor ist es auch meine Hoffnung, dass ich Menschen anspreche, die sich in meinen Werken wiederfinden und ein klein wenig verstanden fühlen. Erschafft, was euer Herz von euch verlangt, und passt euch nicht an für möglicherweise größere Erfolgschancen! Dann klappt das schon.

Autor: Matthias Thurau

Autor, 1985 geboren, aus Dortmund. Schreibt Romane, Erzählungen, Lyrik. Rezensent beim Buchensemble, Mitglied von Nikas Erben.

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