Jahresrückblick 2020: Musik

Musikalischer Jahresrückblick 2020.

Zu meiner großen Enttäuschung steht das Jahr 2020 im Zeichen einer globalen Pandemie, und das ist keine gute Voraussetzung für Konzerte. Stattdessen bin ich (noch) häufiger zuhause geblieben. Um dabei nicht (noch mehr) durchzudrehen, habe ich mir alte und neue Musik gesucht und empfehlen lassen. In diesem Jahresrückblick soll es um also um Songs und Alben gehen, die mein Jahr 2020 geprägt haben.

Alter Bestand

Die Bands, die ich 2019 gerne gehört habe und im musikalischen Jahresrückblick beschrieben habe, sowie jene, die ich auch vorher schon gehört habe, waren natürlich weiterhin Bestandteil des Musikrepertoires des Jahres 2020. Dazu zählen Genres wie Metal, Stoner, Sludge, Doom, ein wenig Punk, 70s Prog Rock, 60s Rock, Post Punk, Post Hardcore, Post Thrash, etwas Pop, etwas mehr Blues, Country, Western, Bluegrass, und ein kleines bisschen elektronische Musik. Wer sich generell für meinen Musikgeschmack interessiert, sollte im Klappmenü oder auf der Überblicksseite schauen. Nun weiter zum Jahr 2020 und seinen Einflüssen.

Workoutmusik

Üblicherweise trainiere ich zu einer Playlist aus hartem Metal, Hardcore und Punk. Aber in diesem Jahr habe ich festgestellt, dass ausgerechnet Happy Hardcore nochmal etwas mehr Leistung herauskitzeln kann. Das mag an der gebesserten Laune und der Nostalgie liegen oder an der Geschwindigkeit, aber es wirkt. Ob nun Charly Lownoise & Mental Theo, Dune oder Scooter, das kitschige Technogeballer hat mich zu neuen Höchstleistungen bewegt. Lieblingsmomente sind dann beispielsweise, wenn H.P. Baxxter I want to see you sweat ruft, während man ohnehin aus allen Poren schwitzt.

Dunkle Nostalgie

Happy Hardcore hatte ich hauptsächlich in meinen späten Kinder- oder frühen Teenagerjahren gehört: Mitte/Ende der 1990er. Etwas später war eine Goth-Phase angesagt. Vor einigen Jahren habe ich glücklicherweise einige Bands aus der Richtung für mich wiederentdeckt (Type O Negative, HIM, The 69 Eyes etc.). 2020 hatte ich dann erneut einen Goth-Lustschub, der bedient werden wollte. Dank meiner Kollegin Nika Sachs habe ich Kirlian Camera gefunden, die mir peinlicherweise zuvor unbekannt gewesen ist. Passenderweise – manche von euch werden wissen warum – habe ich im gleichen Zug auch wieder das Album Rebirth von Mechanical Moth zu hören begonnen. Schließlich habe ich mich der Vorband einer Vorband eines Konzertes des Jahres 2002 erinnert: Charon. Wikipedia erzählt mir, dass ich diese Band am 22.08.2002 gesehen haben muss, zusammen mit After Forever und Nightwish. Damals war ich gerade süße 17 Jahre alt. Gerade Charons Album Downhearted, das sie auf der Tour 2002 vorgestellt haben, lief 2020 wieder häufig bei mir.

Ganz neu (für mich)

2020 ist auch das Jahr guter Online-Musikempfehlungen gewesen. 4 davon werde ich vorstellen. Auf Twitter ist mir die Band Skott empfohlen worden. Einfühlsame Elektrotöne waren zuvor nie wirklich mein Ding. Doch manche Songs haben es mir angetan. Ganz vorne dabei sind Mermaid und Midas.

Ebenfalls elektronisch und doch ganz anders kommen Aesthetic Perfection daher. Eine schöne Mischung aus angeschmuddelter Verzweiflung und Musik, zu der man wunderbar strippen könnte. Wer möchte traurig in einem Käfig tanzen? Bitte hinten anstellen!

Weiter geht es mit Brutus. Diese Musikempfehlung ist eine von vielen, die ich von einer ganz besonders musikbegeisterten Person erhalten habe. Den Song War habe ich zuerst gehört und noch immer zählt er zu meinen Lieblingssongs von Brutus. Es ist wohl die Mischung aus Gefühl, Post-Irgendwas-Atmosphäre und Black Metal-artigem Brett, das mich überzeugt. Ich mag diese traurig-halbverzweifelten Gewaltlandschaften, die mich an Wutbesäufnisse in dreckigen Bars und gierige Küsse voller Hass, Abneigung und Leidenschaft erinnern. Zu empfehlen sind eigentlich alle Alben, aber müsste ich mich festlegen, würde ich Nest den Vorzug geben. Hört rein, legt los, geht mit!

Die vermutlich ungewöhnlichste Musikverliebung 2020 für mich ist Billie Eilish. Rein klanglich hauen mich die Bässe um. Aber auch textlich sind viele Songs ausgesprochen gut. Die Mischung macht’s bekanntlich. Bury a Friend ist ein gutes Beispiel für das, was ich an dieser Musik liebe. Es ist ein tanzbarer Song mit herrlichem Basssound (ich empfehle Kopfhörer oder eine dicke Anlage!), aber gleichzeitig haben die Lyrics einige zerstörerisch deprimierende Parts, allen voran die perfekte platzierte Zeile I wanna end me. Der Song Bury a Friend ist mein Songfavorit 2020. Ich hatte 2020 einige psychotisch-lange Ohrwurmnächte dank Billie Eilish und musste zeitweise aufhören, ihre Musik zu hören, um sie aus dem Kopf zu kriegen. Dennoch bin ich sehr froh, dass mir auch diese Künstlerin empfohlen worden ist. Danke an dieser Stelle an DuWeißtWerDuBist.

Kurz vor Ende noch mehr

Im Dezember sind noch weitere Entdeckungen hinzugekommen, die eigentlich keinesfalls neu sind. Ich habe endlich angefangen, Limp Bizkit, Linkin Park und Korn zu hören und zu würdigen. Irgendwelche diffusen und unbegründeten Abneigungen hatten mich jahrelang davon abgehalten. Endlich habe ich meine Feier-Palette wieder erweitern und Vorurteile abbauen können. Success!

Schließlich wurde ich noch an ein Album erinnert, das ich als Teenager besessen hatte und das einige großartige Songs enthält: The Score von Fugees. Neben (natürlich) Killing Me Softly und Ready or Not stehe ich sehr auf das Cover von No Woman, No Cry.

Fazit

Dieses Jahr ist nicht gut gewesen. Konzentriere ich mich allerdings rein auf die Musik, freue ich mich. Einige der Neu- und Wiederentdeckungen werden für lange Zeit zum Kunstschatz meiner Playlists zählen. Andere haben mir immerhin eine Weile viel Freude gemacht und werden es vielleicht hin und wieder erneut tun. Danke für die Empfehlungen!

Wie meine Texte klingen

Über Musik, die klingt, wie sich meine Texte für mich anfühlen.

Am 21.10.2020 durfte ich zu Gast sein beim Podcast Buch und Bühne (Spotify | Apple Podcasts | Anchor) des Thriller-Autors S.D.Foik: Der Krieg des Autors mit der leeren Seite. Vorab hatte er mir angekündigt, dass ich ein Musik-Ranking zu einem passenden Thema aufzustellen hätte. Ich habe mich für „Alben, die wie meine Texte klingen“ entschieden. Da ich nur 5 Alben nennen durfte, sehe ich mich gezwungen, ergänzend diesen Artikel zu verfassen.

Alben, die wie meine Texte klingen

  • Eels: Blinking Lights and Other Revelations | Song: Ugly Love
  • Battle of Mice: A Day of Nights | Song: Bones In The Water
  • Tom Waits: Small Change | Song: The Piano Has Been Drinking
  • Igorrr: Savage Sinusoid | Song: Probleme d’Emotion
  • Dopethrone: Hochelaga | Song: Sludgekicker

Wie im eingebetteten Tweet oben zu sehen, verbinde ich Musik und Bücher im Kopf mit Farben (und manchmal mit räumlichen Dimensionen). Eindrücke sind verwoben. Deshalb klingen die 5 Alben oder viele Songs davon für mich tatsächlich wie Texte von mir, beziehungsweise sehen so aus. Das trifft allerdings auch auf andere Songs zu. Deshalb hatte ich mich hingesetzt und überlegt, welche Aspekte ich unterbringen wollte. Folgende Liste kam dabei herum:

  • Traurig
  • Versoffen
  • Verzweifelt
  • Dreckig
  • Mit Humor
  • Verdreht/Weird

So sehe ich meine Gedichte und Geschichten. Sie tragen alle mindestens einen der Aspekte, meist mehrere in sich. Traurig auf verschiedenen Levels sind auch alle 5 Beispielsongs der Alben, versoffen klingen besonders The Piano Has Been Drinking und Sludge Kicker, verzweifelt wäre definitiv Bones In The Water (die Schreie kriegen mich jedes Mal), dreckig ist erneut Dopethrone, humorig Tom Waits und weird ist wohl die passendste Beschreibung für alle Tracks von Igorrr.

Subjektivität

Vermutlich nehme ich Texte als auch Musik anders wahr als andere. Sicherlich sogar. Dadurch, dass ich extremere Genres zu hören gewohnt bin, lösen die 5 Songs möglicherweise nicht das in mir aus, was sie in anderen auslösen (oder umgekehrt). Das ist mir klar, weshalb ich die Erklärung sowie den doppelten Ansatz (Gefühl und Aussagenliste) für nötig gehalten habe.

Enge Konkurrenz

Von allen 5 Künstler*innen(-gruppen) gäbe es noch weitere Beispielsongs und Alben, die ich hätte wählen können. Außerdem gab es auch noch enge Konkurrenz mit anderen Interpret*innen und Bands. Platz 5 beispielsweise ist nur sehr knapp nicht an Saint Vitus mit I Bleed Black gegangen. Da fehlte mir ein wenig der „dreckig“-Aspekt. Anstelle von Ugly Love hätte beinahe Not In Love von Crystal Castles gestanden. Außerdem wurden A Solitary Reign von Amenra, Stress Builds Character von Dystopia und Bleed Me An Ocean von Acid Bath aus der Liste verdrängt. Sie hätten alle eine Erwähnung verdient. In einer 10er-Liste wären sie aufgetaucht.

Andere Listen

Zwei weitere Listen waren optional angedacht, aber nie vollständig ausgearbeitet worden. Songs, die mich aktiv zu Texten inspiriert haben, wären Sad Eyes und Not In Love von Crystal Castles. Beide liefen auf Repeat, während ich die Geschichte Not In Love für den neuen kommenden Erzählband geschrieben habe.

Eine Liste mit großartigen Tracks, die entweder von Literatur beeinflusst worden sind oder selbst als Spoken Word Tracks literarische Qualitäten besitzen, sollte niemandem vorenthalten werden. Vielleicht arbeite ich diese noch vollständig aus. Bisher habe ich:

  • John Doran: Hubris (Album; Spoken Word Tracks)
  • Santana: Abraxas (Album; inspiriert von Hermann Hesses Demian)
  • Tom Waits: What’s He Building? (Track auf Mule Variations)
  • Clutch: Release The Kraken (Track auf Jam Room; inspiriert von griechischer Mythologie)

Musik in Sorck

Im Roman Sorck tauchen ebenfalls einige Songs und Bandnamen auf, besonders in der Bar-Szene, als Martin Sorck Eduardo kennenlernt. Martin will zu Bohemian Rhapsody von Queen abgehen, während die Prollo-Urlauber Schlager fordern. Monday Monday von The Mamas And The Papas wird als Kompromiss gespielt. Später wird Martin verwöhnt mit Black Sabbath, Led Zeppelin und sogar Slayer. Nicht viel später hören wir die wummernden Bässe einer Techno-Party andernorts.

Gegenseitige Inspiration

Dass Autor*innen und deren Arbeit andere Autor*innen inspirieren, ist logisch. Eben so logisch ist es eigentlich, dass sämtliche Künste sich gegenseitig beeinflussen und inspirieren. Schon immer hat es Musik zu Texten und umgekehrt gegeben, Skulpturen von literarischen Figuren und Bilder natürlich auch. Auch wenn ich leider keine Musik machen und auch nicht zeichnen/malen kann, genieße ich diese und andere Künste mit voller Kraft. Das merkt man meinen Texten immer wieder an und mit Sicherheit auch meinem Auftritt im Podcast „Buch und Bühne“ von S.D.Foik.

Sleep: Dopesmoker

Über den Song “Dopesmoker” von “Sleep”.

Es gibt Songs, die jede*r in einer bestimmten Musikszene kennt und die kaum jemand nicht liebt. Absoluter Kult, Teil der Grundbildung jeder Person, die sich zugehörig fühlt. Dopesmoker ist ein ein solcher Song für die Stoner-Szene.

Mit beinahe 65 Minuten Länge ist Dopesmoker der längste Song, den ich kenne. Das komplette Album besteht nur aus diesem einen Song und es wird niemals langweilig. Nach einem Intro von etwa 8 Minuten und 30 Sekunden setzt der Gesang ein:

Drop out of life with bong in hand
Follow the smoke toward the riff-filled land

… und jede*r weiß Bescheid. Doch da ist mehr. Über das grandiose, sich endlos wiederholende und variierende Riff, das durchgehend fesselt und von mehreren Soli ergänzt wird, möchte ich gar nicht mal sprechen. Natürlich ist es das Herzstück des Songs. Aber es gibt viele gute Stoner-Songs mit guten Riffs. Was den meisten Liedern dieser Szene fehlt, sind gute Lyrics. Dopesmoker beweist den meiner Meinung nach kreativsten Umgang mit der Thematik des Kiffens überhaupt. Schauen wir mal rein.

Erzählt wird die Geschichte einer Karawane durch die Wüste nach Jerusalem. Sie folgen einer Prophezeiung. Die Karawane besteht aus Priestern, Stoner-Priestern, die den Samen aus dem Garten Eden – Cannabis – in die heilige Stadt transportieren. Das ist also der Aufbau: Ultimative Stonedheit in einem rituellen, kultischen, religiösen Rahmen. Mein liebster Teil davon sind die vielen Bezeichnungen für die Priester. Sie sind Weedians, Lungsmen, Weed-priests, Smoke-covenant, Herbsmen und mein absoluter Favorit: Marijuanaut. Dieses Wort wurde Jahre später, 2018, Titel eines Songs auf dem Album The Sciences, das eine würdigen Rückkehr der Band nach 15 Jahren Pause darstellt. Dopesmoker ist nämlich schon von 2003, ist allerdings eigentlich eine Überarbeitung des Songs/Albums Jerusalem von 1999.

Die Umgebung der Wüste wird mehrmals als sandsea oder sandscape besungen, was mir immer einen lebendigen Eindruck von Dünen und endlosem Sand vermittelt und mich außerdem entfernt an den Wüstenplaneten aus Dune erinnert (man könnte sogar das „Spice“ mit etwas gutem Willen mit Weed gleichsetzen, weil es eine Droge ist und lange Weltraumflüge erlaubt). Andere Assoziationen meinerseits wären noch Tatooine, obwohl Star Wars eine zu brave Optik hat für den Song, und die Priester und Technokraten aus der Warhammer 40k-Welt. Berühmt und passend ist die Darstellung der Karawane von Mönchskutten tragenden Steampunk-Weed-Priests mit Kiff-Rucksack auf dem Cover des Albums – nicht in allen Auflagen –, die gut wiedergibt, was ich ohnehin im Kopf habe beim Hören.

Unterstützt wird die Wirkung der Musik und des Textes durch den grandiosen, lang gezogenen Vortrag von Al Cisneros, den manche vielleicht eher vom Projekt Om kennen. Wie ein Priester in einer okkulten Messe streckt er fast jeden Vokal und zerstückelt die Einheit der Sätze unnatürlich in passende, neue Einheiten. Der Effekt ist genial. Man spürt zugleich das Wandern der Karawane und das Zurücklassen der irdischen Dinge durch die zugedröhnten Pilger, während man sich in ein quasi-religiöses, meditatives Gefühl hineinsteigern kann. Die Pilgerfahrt der heiligen Stoner kann losgehen. Zugegebenermaßen bekomme ich immer Lust auf einen fetten Joint bei diesem Song (ich war niemals ein Freund von Bongs).

Wenn wir schon über Sleep sprechen und bereits Om erwähnt haben, müssen wir natürlich noch auf Matt Pike (Gitarrist bei Sleep) und seine Band High on Fire hinweisen. Vielleicht schreibe ich irgendwann mal einen Artikel über High on Fire, aber hier sei erst einmal der Hinweis ausreichend, dass man unbedingt reinhören sollte. Der Sound der Band erinnerte mich immer an eine sich kraftvoll drehende Turbine oder das riesige Rad einer Dampflok. Die Riffs drehen sich weiter und weiter und es geht stets voran. Live sind sie übrigens auch absolut geil.

Von langen und ultralangen Songs kann man halten, was man will. Mir können sie auf die Nerven gehen, obwohl ich manche von ihnen sehr mag. Was ich aber liebe, ist die Tatsache, dass kleinere Musikszenen wie die Stoner-/Doom-/Sludge-Szene – Fans wie Labels – Künstler*innen die Freiheit erlauben, sich auszutoben, solange die Qualität stimmt. Kein Pop-Label würde ein 65-minütiges Album, das nur aus einem Song besteht, veröffentlichen. Viel zu unsicher. In kleineren Szenen bekommt man das Gefühl, dass alle Beteiligten aus Liebe zur Musik dabei sind, auch wenn die Realität anders aussehen mag. Musiker*innen (genau wie andere Künstler*innen) sollten immer so frei und unbekümmert an ihre Arbeit herangehen (können), wie Sleep es im Falle von Dopesmoker getan haben: Einfach mal ein Jahr lang an einem einzigen, ungewöhnlich und unbequem langen Song über bekiffte Kleriker in der Wüste arbeiten und dabei das vermutlich epischste Stoner-Werk aller Zeiten zu erschaffen, herrlich! Follow the smoke toward the riff-filled land!

The Tallest Man On Earth

Über die Musik von The Tallest Man On Earth.

Man kennt mich eher als Fan von harter oder trauriger Musik und doch, es gibt auch andere. Ein Künstler, den ich gerne höre, wenn es mir gut geht, wenn ich entspannt bin oder ruhigere Töne brauche, ist The Tallest Man On Earth.

Es gibt ein Gefühl, das ich nur beim Hören dieser Musik habe und das sich aus Nostalgie, Melancholie und Glück zusammensetzt. Diese wunderbare Laune, in der man singt und summt, sich leicht bewegt und in Erinnerungen von kurzen Verliebtheiten schwelgt.

Es muss fast über 10 Jahre her sein, als ich jemanden kennenlernte, mit dem ich heute keinen Kontakt mehr habe, denn diese Person gehörte eben in die Zeit damals und nicht ins Heute. Sie zeigte mir ein paar Songs von The Tallest Man On Earth: King of Spain und Where Do My Bluebird Fly. Es waren Live-Aufnahmen. Mich erinnerten sie (vielleicht wegen der etwas näselnden Stimme?) an Bob Dylan, aber frischer, aktiver, wacher. Seitdem höre ich diese Musik.

Seit etwa zwei Wochen höre ich das Album I Love You. It’s A Fever Dream. von 2019 regelmäßig durch, manchmal drei- oder viermal am Tag. Es klingt anders als die ersten Alben, erwachsener, ein wenig trauriger, aber wirklich schön. Wieder kommt der Vergleich mit Dylan, denn auch dieser hatte damals den Sprung von Musik, die nur auf Stimme und Gitarre basierte, zu elektrisch oder sogar orchestral unterstützter Musik. Das erste Album dieser Art, Dark Bird Is Home, gefällt mir als einziges Album weniger gut. Aber so etwas passiert. Vier Alben ohne schwache Songs und dazu mehrere Singles und EPs stellt für mich eine große Leistung dar.

Zu meinem großen Glück habe ich The Tallest Man On Earth mehrmals live sehen können. Nur einmal stand er mit Band auf der Bühne, ansonsten immer allein. Das letzte Konzert in Konzerthaus Dortmund: Eine Bühne, auf der ich einmal ein doppeltes Orchester mit fast 80 Leuten habe spielen sehen, für ihn allein, für seine Gitarren und einen Flügel. Seine Präsenz reicht aus. Er gehört zu den Menschen, die mich bewegen, wenn sie nur sind, wie sie sind. Etwas verrückt, immer etwas melancholisch – mit Tränen in den Augen und der Stimme, als er wegen des Todes von Aretha Franklin kurz vorher einen Song von ihr sang – und niemals auch nur für einen Moment langweilig oder nicht voll präsent.

Während ich diesen Text verfasse, höre ich (eigentlich viel zu laut) die passende Musik und unterbreche ständig, um zu singen. Gerade läuft The Gardener, eines meiner Lieblingslieder von ihm. Was sollte noch in einen solchen Text? Bringen euch meine Schwärmereien etwas? Statt Unfug oder weitere Begeisterung zu verbreiten, gebe ich euch lieber eine kurze Liste von Songs, die ich (neben fast allen anderen) empfehlen würde, um mal reinzuhören:

The Gardener
King of Spain
Little Brother
All I Can Keep Is Now
Alle anderen.

Kanntet ihr The Tallest Man On Earth bereits? Wenn ihr jetzt erst reinhört: Was meint ihr? Verliebt ihr euch gerade in die Musik?

Coversongs

Über Coversongs, die besser sind als das Original.

Im Blogeintrag über die Band Grantig habe ich deren Cover vom Ton Steine Scherben Song Warum geht es mir so dreckig? erwähnt. In der Folgezeit sind mir mehr und mehr Coversongs in meiner üblichen Playlist aufgefallen, von denen einige signifikante Bedeutung für meine Hörgewohnheiten hatten. Hier möchte ich über einige gelungene Coversongs schreiben. Aufgrund meines persönlichen Geschmacks sind die Genres Rock und Metal verstärkt vertreten, aber nicht ausschließlich.

Ich erinnere mich vage an eine Nacht als Teenager, ich war vielleicht betrunken, stoned, deprimiert oder alles zusammen, mit Sicherheit deprimiert, und hing vor dem Fernseher. Da nichts Besseres lief, schaltete ich MTV ein und da begegnete ich zum allerersten Mal Johnny Cash. Ein alter Mann, der mit beinahe gebrochener Stimme sein Lied mit I hurt myself today begann. Hurt ist bekanntlich im Original von Nine Inch Nails, doch damals war mir das eben noch nicht bekannt. Ich hatte mir sofort aufgeschrieben, wie der Song hieß, kurz darauf das passende Album gekauft und habe nie wieder aufgehört, Johnny Cash zu hören. Ich glaube, seine Songs wurden selbst auch etliche Male gecovert. Ein anderer Country-Sänger, dessen Songs häufig neu aufgenommen worden sind, ist Towns Van Zandt. Bei weitem nicht alles von ihm mag ich, aber einiges dafür sehr und ebenfalls einige Cover. Ganz vorn in diesem Bereich wäre wohl Colter Walls Version von Snake Mountain Blues. Nothin’ hat er ebenfalls neu eingespielt, genauso wie Wino (dem ehemaligen Sänger von Saint Vitus) es auf dem Album Songs Of Towns Van Zandt es tat, zusammen mit Scott Kelly und Steve Von Till. Für Fans langsamer, trauriger Musik wäre das vielleicht etwas.

Als Frontmann von Saint Vitus hat Scott „Wino“ Weinrich außerdem 1987 einen weit weniger ruhigen Song gecovert: Thirsty and Miserable von Black Flag. Die rohe Ehrlichkeit dieses Punksongs über Alkoholismus hat mich immer gepackt und verkörpert recht gut die Paradoxie der Szene, die Saint Vitus mitbegründen und prägen sollten. Lieder über Drogenmissbrauch, Abstürze, Alkoholismus und Depression, zu denen Bands wie Fans betrunken und high feiern. Diesen inneren Widerspruch empfand ich immer als faszinierend, auch und weil ich mich nie ausschließen konnte.

Kommen wir zu einer meiner Lieblingsbands: Crowbar. Crowbar haben im Laufe der Zeit gleich zwei großartige Coversongs aufgenommen. Ihre Umsetzung von Dream Weaver (im Original von Gary Wright) auf dem Album Equilibrium ändert die Bedeutung des Songs, der nicht mehr seicht und hoffnungsvoll I believe you can get me through the night daherschalmeit, sondern es verzweifelt und hart herausballert, was völlig anders wirkt. Einen ähnlichen Effekt hat ihr Cover des Led Zeppelin Songs No Quarter, den Crowbar auf ihrem Selftitled Album veröffentlicht haben. Zu diesem Lied habe ich eine persönliche Geschichte. Ein guter Freund, der leider inzwischen verstorben ist, brachte zu gemeinsamen Kiffabenden eine CD mit, auf der etwa 15 Tracks waren. Ein Gutteil davon bildeten im Laufe der Zeit die Grundlage meines Musikgeschmacks. Einer dieser Tracks war No Quarter in der Version von Crowbar.

Wenn wir schon bei Led Zeppelin sind, müssen wir unbedingt über Black Sabbath sprechen. Ich kenne keine Band, die so häufig gecovert worden ist wie Black Sabbath, ob nun von Pantera, Exhorder, Type O Negative oder wem auch immer. Meine zwei Favoriten sind jedoch einmal Goatsnake mit Who Are You (wegen des zerschmetternd traurigen Streicher-Breaks) und Charles Bradley mit Changes, der es geschafft hat, einen altbekannten Sabbath-Song völlig neu zu interpretieren.

Erheblich weniger bekannt als alle bisher genannten ist heutzutage leider Screamin’ Jay Hawkins, das Original jedweder Schockrocker-Pose. Vermutlich kennt man ihn besser durch Songs, die gecovert wurden. Allen voran tippe ich auf I Put A Spell On You, der unter anderem von Creedence Clearwater Revival und Marilyn Manson nachgesungen worden ist. Alle drei Versionen mag ich sehr gern, weil sie sehr unterschiedlich sind.

Weiter oben habe ich beschrieben, wie ich über Hurt zu Johnny Cash gekommen bin. Von der Band Oceans of Slumber habe ich ebenfalls zuerst ein Lied gehört, das im Original nicht von ihnen stammt: Solitude. In diesem Fall kann ich sagen, dass das Cover das Original von Candlemass verbessert hat. Es gibt noch weitere schöne Cover von Oceans of Slumber. Für gelungen halte ich beispielsweise Nights In White Satin, wobei ich das Original von The Moody Blues auch immer geliebt habe.

Abschließend möchte ich noch auf eines meiner absoluten Lieblingscover hinweisen, das wegen des Vortrags genial ist. Obwohl wiederum durch das Cover von Sinéad O’Connor damals bekannt geworden, ist Nothing Compares 2 U im Original von Prince. Aber mir geht es um eine weitere Version. Auf Youtube findet man den Song live gesungen von Chris Cornell und ich werde den Song einfach mal anhängen. Ich denke, er spricht für sich selbst:

Bernie Krause: The Great Animal Orchestra

Rezension des Buches “Das große Orchester der Tiere” von Bernie Krause.

Atmet durch und hört auf, die Geräusche um euch zu filtern. Was hört ihr? Läuft Musik? Fahren Autos? Arbeitet die Lüftung des Laptops? Wird draußen der Rasen gemäht? Jetzt achtet darauf, was diese Geräusche in euch auslösen.

Ich habe Bernie Krauses Buch in den ersten Tagen meiner freiwilligen Corona-Quarantäne gelesen. Das Wetter war sonnig, es gab weniger Verkehr, keine Betrunkenen an der Kneipe gegenüber, weniger Spaziergänger, und die Vögel sangen. Am offenen Fenster habe ich gelesen und konnte halbwegs nachfühlen, wie Krause sich gefühlt haben musste, als er zum ersten Mal die Geräusche der freien Natur bewusst erlebte. Als ich zwei Tage später das Ende des Buches las, hörte ich erst einen Hochdruckreiniger, dann Menschen, die sich lautstark unterhielten, und einen Rasenmäher. Ich war angespannt – zugegebenermaßen bin ich recht geräuschempfindlich – und es passte gut zu den Infos über Lärmverschmutzung und die Zerstörung natürlicher Klangwelten durch menschliche Eingriffe.

Bernie Krause ist Bioakustiker und nimmt natürliche Klanglandschaften, Soundscapes, auf, um sie, das heißt einen Ausschnitt von ihnen, für die Nachwelt zu erhalten sowie akustische Vergleichsdaten zu sammeln, um Entwicklungen aufzuzeigen, Einflüsse und Zerstörungen zu verdeutlichen und zu verstehen, wie es zu diesen hochkomplexen Geräuschkombinationen kommt, bevor sie verstummen. Er zeigt auf, dass die Klänge der Natur nicht bloß aus verschiedenen Tierlauten bestehen, die willkürlich losbrüllen, sondern dass je nach Habitat sämtliche Lebewesen akustisch aufeinander abgestimmt sind und bestimmte Gebiete auf der Klangskala oder zeitlich besetzen. Jeder Eingriff, beispielsweise durch ein vorbeifliegendes Flugzeug, stört die Abstimmung, bringt sie durcheinander oder lässt sie verstummen, was die Kommunikation, Orientierung und Paarung der Lebewesen im Habitat beeinträchtigen kann. Das Besondere an diesem Buch ist wohl, dass nicht bloß trocken über diese Dinge berichtet wird, sondern dass man auf der Homepage des Verlages passende Tracks zu Stellen des Textes finden kann. Diese sind leider etwas durcheinander geraten in der Reihenfolge, aber das ist halb so wild.

Im Rahmen seiner Untersuchungen geht Bernie Krause, der ursprünglich Musiker gewesen ist, auch auf kulturelle Aspekte ein, theoretisiert über die Entstehung der Musik, unterstützt seine Gedanken mit Aufnahmen und Beschreibungen der Musik von naturverbundenen Völkern, gibt einen historischen Überblick über das Verhältnis der westlichen Welt zu Musik und Naturgeräuschen und gibt nebenbei Auskunft über die großen Etappen seines Lebens. Das klingt hochinteressant und etwas durcheinander, oder? Ist es auch. Beides. Gelegentlich wiederholt sich Bernie Krause und einiges hätte er besser strukturieren können. Das störte mich aber weniger als die Übersetzung. Einige Stellen, über die ich gestolpert bin, kann ich nicht klar zuordnen. Lag es am Original oder Übersetzung, dass manchmal das Tempus nicht ganz korrekt war? Hätte man es in der Übersetzung korrigieren sollen/dürfen? Was jedenfalls an der Übersetzung lag, waren Dinge wie, aus The Who, die Who zu machen, und aus Muscle-Cars, Muskelautos, den Filmtitel No Country For Old Men, der im Deutschen auch so heißt, zu übersetzen oder auch die etwas unglückliche Wahl mancher Kapitelüberschriften (Jedem Tierchen sein Pläsierchen – im Original: Different Croaks for Different Folks) und des deutschen Titels, der nach einem Kinderbuch klingt: Das große Orchester der Tiere. Manche Übersetzungen würde ich als Fehler einstufen, da es sich um Eigennamen (oder Teile davon) handelt, die nicht übersetzt werden dürften, und anderes scheint einfach ungeschickt gewählt zu sein. Wie treu soll/darf/muss man dem Original sein bei der Übersetzung? Für die Debatte ist hier kein Platz.

Dass es hier und da lange Aufzählungen von Tieren und Pflanzen gibt, sehe ich als Zeichen für Krauses Leidenschaft und Sorgfalt, und wird manche interessieren und manche nicht (die können das überspringen).

Es handelt sich um ein Sachbuch und das Wichtigste an einem Sachbuch ist die Sache, um die es geht, oder? Ich habe viel gelernt, habe Interessantes erfahren und für eine Weile ein aufmerksameres Gehör gewonnen (um mir des Lärms um mich herum noch stärker bewusst zu werden, aber auch angenehme Feinheiten zu bemerken). Deswegen gefiel mir das Buch trotz etlicher kleiner Macken, die sich anhäuften.

„Mein Skateboard ist wichtiger als Deutschland“: Eine Analyse

Eine Analyse des Songs “Mein Skateboard ist wichtiger als Deutschland” der Band “Terrorgruppe”.

1997 hat die inzwischen zum musikalischen Kanon Deutschlands gehörende Kapelle Terrorgruppe ein episches Meisterwerk von knapp 3 Minuten Länge unter dem Namen Mein Skateboard ist wichtiger als Deutschland veröffentlicht. In diesem Blogartikel möchte ich eine dosenbierzischende Analyse versuchen.

Weder ein Vergleich mit der orchestralen Schwere von Brahms noch mit der tänzerischen Leichtigkeit Mozarts werden Terrorgruppe wirklich gerecht. Dies mag daran liegen, dass sie Deutschpunk spielten oder aber an der Tatsache, dass sie die Klassik und die mit ihr verbundenen Einschränkungen längst hinter sich gelassen haben.

Der Songtext beginnt mit der Verkündigung der Unwissenheit des Großteils der deutschen Bevölkerung, die Tätigkeiten des lyrischen Ichs anbelangend,

Millionen dumme Deutsche wissen nichts davon.
Tausend Politessen hab’n nichts mitbekommen.

gefolgt von einem Ausdruck des Außenseitertums, der fehlenden Wertschätzung eines einschränkenden Systems bis hin zum völligen Unverständnis für dessen Regeln und die Akzeptanz jedweder daraus erwachsenden Konsequenz:

Ich breche alle Regeln, Ampeln kenn’ ich nicht,
Fahr täglich eine Oma um, die dann zusammen bricht.

Die spüren die Ehrlichkeit der Aussage und irgendwo tief in uns regt sich das Verlangen, es dem rebellischen lyrischen Ich gleichzutun, durch die Straßen zu gleiten, frei zu sein von der Oppression der Politessen und der eingefahrenen Meinung von Millionen dumme(n) Deutsche(n). Die simple Erkenntnis, dass ein Brett mit Rollen, ein sogenanntes Skateboard, die Freiheit repräsentieren und damit wichtiger werden kann als alles andere im Leben, verdient einer mehrfachen Betonung, und mit Recht ist der lyrische Ich stolz auf seine Entdeckung:

Mein Skateboard ist wichtiger als Deutschland uuhuuhu
Das hab ich schon vor vielen Jahren erkannt uuhuuhu

Man beachte die lautmalerische Unterstützung der Worte! Klingt nicht der Schrei eines Vogels in freier Natur heraus? Hören wir nicht das Zischen des Skateboarders und damit seine Kritik an der Schnelllebigkeit unserer Zeit? Möglicherweise. Das lyrische Ich jedenfalls gibt sich mit einem einfachen Leben zufrieden, denn es will nur gleiten, nach allen Seiten, schließlich sei das Skateboard […] wichtiger. An dieser Stelle, Ende der ersten Strophe, wird noch offen gelassen, was am anderen Ende des Vergleiches steht: wichtiger als was?

Strophe Zwei verdeutlicht die Nichtanerkennung und den offen ausgesprochenen Widerstand der Öffentlichkeit gegen das Vorhaben freien Lebens innerhalb einer indoktrinierten Gesellschaft, bis hin zur Forderung nach einer Rückkehr zum dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte. Diese Forderung kann als Aufgabe der Freiheit und der Akzeptanz sich als Sicherheit verkaufender einschränkender und quasi-faschistoider Überwaschungsstrukturen gelesen werden. Die Frage wird aufgeworfen: Sind wir bereit, unsere Freiheit für etwas mehr Sicherheit zu verkaufen? Sind wir bereit, unsere Jugend, verkörpert durch das lyrisch Ich, der uniformen Gesellschaftsordnung zu unterwerfen, notfalls mit Gewalt? Ist es wirklich das, was wir wollen? Angesichts der Veröffentlichungszeit (1997), also vor 9/11, erscheint der aufgeworfene Gedanke beinahe prophetisch. Hier nun die eben analysierten Zeilen:

Millionen dumme Deutsche haben ein Problem,
Wenn sie mich auf meinem Skateboard fahren seh’n.
Sie schreien mir nach der gehört ja ins KZ,

Doch Obacht! Hier kommt der Konter, der Präventivschlag des lyrischen Ichs und die Betonung der in Sexualität ausgelebten Freiheit, die mit der im Text propagierten Lebensform einherkommt und diese betont:

Dabei hatte ich schon fast alle ihre Töchter im Bett.

Können wir eine Andeutung der Vermehrung des freiheitlichen Gedankenguts herauslesen? Ist es möglich, dass nicht bloß Hedonismus gepriesen, sondern sogar Missionsarbeit für die freie Liebe gefordert wird? Vergessen wir nicht die bekannte Missionarsstellung! Vergessen wir auf der anderen Seite nicht ein weiteres Lied von Terrorgruppe: Hedonistische Heilsfront.

Was nun folgt, ist die ultimative Erklärung der Wichtigkeit der individuellen Freiheit, besonders aber nicht ausschließlich im Vergleich mit anerkannten und nicht mehr hinterfragten Institutionen. Außerdem Religionskritik.

Mein Skateboard ist wichtiger…
…als…
…Deutschland…
…Europa…
…Amerika…
…die Welt…
…das Universum…
…der Verkehrsminister…
…Gott……und das Geld

Nachdem wir diese eindrucksvollen Zeilen auf uns haben wirken lassen, betrachten wir für einen Moment die Reihenfolge der Aufzählung. Erkennen wir eine Klimax? Eindeutig. Das Skateboard, das heißt die Freiheit, ist wichtiger als der Staat, wichtiger als die Völkerverständigung (repräsentiert durch Europa), wichtiger als die Popkultur und die kulturell-hegemonisch verbreiteten und akzeptierten Kulturgürter (Amerika – gemeint sind natürlich die USA, die sich selbst häufig als America bezeichnen und damit den Kontinent als ihnen zugehörig betrachten; es liegt also eine doppelte Kritik und Betonung der kulturellen Hegemonie vor), wichtiger als all das, sogar als der Verkehrsminister (hier, um im Bild zu bleiben, die Sicherheit, die Kontrolle, die Staatsgewalt) und die Religion. Dass das Geld noch nach Gott und dem Staat (Verkehrsminister) aufgezählt wird, also Höhepunkt der Liste, verdeutlicht nicht bloß eine allgemeine Kapitalismuskritik, sondern sagt aus, dass Kapitalismus der Freiheit des einzelnen im Wege steht. Des Weiteren wird das sich gegenseitig stützende Dreigespann aus Religion, Staat und Wirtschaft in dieser Aufzählung entblößt.

Doch das lyrische Ich zeigt durch das singuläre Verlangen (Ich will nur gleiten) die Bedeutungslosigkeit der kritisierten Institutionen im Angesicht der individuellen Freiheit. Und wird hier nicht eine tiefe Wahrheit offenbart? Wollen wir nicht alle gleiten? Wollen wir nicht alle schwerelos sein in unserer eigenen Geschwindigkeit und losgelöst von Normen und Vorschriften? Mir jedenfalls geht es so. Mein metaphorisches Skateboard ist wichtiger. Vielen Dank.

Kombination aus Erfahrungen und Gedanken

Über Selbsterkenntnisse, Musik und ein Buch von Hans-Joachim Maaz.

In der Suche nach Erkenntnis geht es immer um das große Ganze, auch wenn man bloß Teilaspekte untersucht oder zu untersuchen meint. Manchmal kommt man nicht weiter, ohne größere Zusammenhänge einzubeziehen, oder man stößt auf etwas, das Verbindungen herstellt und plötzlich alles deutlicher macht. Letzteres ist mir gewissermaßen passiert, als ich das Buch Das falsche Leben von Hans-Joachim Maaz gelesen habe. Daher ist dieser Beitrag entweder für Leser*innen, die regelmäßig meine Einträge verfolgen, oder für Personen, die bereit sind, etwas mehr zu lesen, damit der Gesamtzusammenhang deutlicher wird. Im Grunde könnte man für mein heutiges Vorhaben alle bisherigen Beiträge zu Rate ziehen, aber ich werde mich der Einfachheit halber auf 4 konzentrieren.

Im Eintrag Eine Erfahrung zwischen Schmerz und Glück habe ich den Besuch des Konzerts der Band Dopethrone und meine Gefühle und Eindrücke dabei beschrieben. Ihr erinnert euch? Es ging um die Gefühle, die durch die Musik zutage traten und mich wie eine Welle überschwemmten, um sich dann körperlich zu entladen. Eine Befreiung, die ich sonst selten erlebe. Auch der Blogeintrag Slipknot und die Wahrheit über aggressive Musik behandelt die Wirkung und Notwendigkeit selbiger von Musik, um Emotionen ausleben zu können und sich in der Kunst anderer wiederzuerkennen. Dazu passt folgendes Zitat von Maaz:

Die anerzogene Gefühlsunterdrückung mit der Akzeptanz der Gefühlsbeherrschung ist als Wegbereiter für viele Erkrankungen verhängnisvoll, lässt aber andererseits nach Ersatzwegen der Gefühlsentladung suchen. So benutzen wir Musik, Filme, Bücher, Kulturevents, Sport und Nachrichten, um Gelegenheiten für Gefühlsanregungen zu finden, auf die wir unsere verborgenen und aufgestauten Gefühle aufsatteln können. Wir lassen uns emotional Huckepack nehmen. Sportereignisse, vor allem Fußball, die hysterische Verehrung von Stars auf der Bühne, das Lachen im Kabarett, die Trauer beim Tod von Prominenten, die Empörung über Vorgesetzte und Politiker sind insofern Ersatzgefühle, als der Fühlende nicht unmittelbar betroffen ist, sondern nur per Projektion. Über die verehrte Person oder das besondere Ereignis werden Gefühlsreaktionen animiert, die dann öffentlich auch toleriert werden oder sogar erwünscht sind.

[…]

Nur wenn man den Transportcharakter dieser Sekundargefühle erkennt, werden auch die heftigen Begeisterungsstürme, das hysterische Schreien oder eine abgrundtiefe Trauer ohne wirkliche persönliche Betroffenheit als bemühte Befreiung aus einem Gefühlsstau verständlich.

Das Moshpit-Regelwerk geht in eine ähnliche Richtung, auch wenn sich der Text auf die allgemeinen Abläufe und Vorkommnisse auf Metal- und Punk-Konzerten konzentriert, und nimmt auf die Gruppendynamik derartiger Events Bezug. Passend dazu folgendes Zitat:

In der Freizeit wird die Gefühlsanregung auch in der Gemeinschaft gesucht, um sich durch andere und die Sozialenergie der Gruppe emotional beleben und mitnehmen zu lassen.

Dass ich ein derartiges Ausleben von Gefühlen oder Sekundargefühlen häufiger nötig habe und doch wieder zum unentspannten Alltagszustand zurückkehre, das heißt, meine Gefühle oder deren Anstauung nicht tatsächlich auslebe und abreagiere, trifft Maaz folgendermaßen auf den Kopf:

Das Besondere an diesen Ersatzgefühlen ist, dass sie zwar auch Entlastung unterstützen, aber keine Erkenntnis über die wirklichen seelischen Prozesse befördern und damit auch keine befreiende Wirkung aus innerster Anspannung ermöglichen. Wie bei allen Ersatzerfüllungen dominiert bald wieder innere Spannung, die nach nächsten Events suchen lässt.

Hier kommt das große Aber beziehungsweise meine Hoffnung und eine Bestätigung, dass ich mich auf dem richtigen Weg befinde. Im Beitrag Die ständige Suche nach dem Warum gehe ich darauf ein, warum ich blogge oder warum ich die Themen wähle, die ich wähle, warum ich überhaupt nachfrage und in mich horche. Ich suche aktiv die Erkenntnis über die wirklichen seelischen Prozesse und Lösungen für fehlerhaftes, ungesundes oder unangenehmes Verhalten, also nach Wegen, um die innere Spannung zu reduzieren.

Diese Suche, die auch die Lektüre von Das falsche Leben beinhaltete, hat nun zur Zusammenführung mehrerer Erfahrungen geführt, die ich ohne ihre mühseligen Teilschritte nicht erlangt hätte. Ich weiß nun, dass ich daran zu arbeiten habe, meine wahren Gefühle zu entdecken, zu erreichen und sie auszudrücken, dass die Gefühle, die beispielsweise bei Konzerten zutage treten, nicht zwangsläufig die echten sein müssen, aber einen Einblick gewähren in Sphären, die ich sonst schwer oder gar nicht erreiche, und wie es sich anfühlen kann, wenn man Zufriedenheit und Ausgeglichenheit durch den Abbau eines Gefühlsstaus (s. den Dopethrone-Bericht) erreicht. Es geht also mal wieder um Selbstfindung oder echtes Leben, wie Maaz es nennen würde. Nach Maaz fühlt sich ein Kontakt zu den echten Gefühlen ungefähr (und sehr grob zusammengefasst) so an, wie ich es in Eine Erfahrung zwischen Schmerz und Glück beschreibe: Unannehmlichkeit – Gefühlsausbruch (auch und gerade körperlich) – Entspannung. Das sehe ich als Erfolg für mich an. Ein bisschen Verklemmung weniger – Hurra!

Zum Abschluss etwas Klärung, damit es nicht so klingt, als hätte das angesprochene Buch alle Weisheiten der Welt in sich versammelt oder als sei es frei von Kritik zu betrachten. Die Psychoanalyse hat meiner Meinung nach die Schwäche, dass sie droht, in Interpretationen und Zuschreibungen zu weit zu gehen (bis in Ebenen, die einfach nicht mehr beweisbar sind), und dadurch gelegentlich Gefahr läuft, wie Esoterik zu klingen beziehungsweise die Grenzen zu unsachlichen Behauptungen und Methoden überschreitet. Manche Feststellungen der Psychoanalyse werden für mich immer fragwürdig klingen, auch wenn Maaz’ Buch sehr sachlich geschrieben ist. Auch dürften sich manche Leser*innen an Begriffen wie Mütterlichkeit und Väterlichkeit stoßen (wobei er anmerkt, dass Frauen die väterliche Rolle und Männer die mütterliche Rolle übernehmen können) oder an seiner Kritik zu liberaler und zu kritikfeindlicher Einstellung. Es ist kein perfektes Buch, wie gesagt. Die sachliche Richtigkeit kann ich schlicht nicht überprüfen. Doch für mich ist der Wert eines Buches auch und besonders daran bemessen, was es mir an Denkvorlagen liefert – und dafür können auch hanebüchene Behauptungen oder völlig überholte religiöse und philosophische Konzepte dienen. Sollte also entgegen jeder Wahrscheinlichkeit jede These im Buch falsch sein oder nur auf mich zutreffen, hätte ich dennoch Erkenntnisse daraus gezogen und das ist, was für mich in diesem Fall zählt.

Slipknot und die Wahrheit über aggressive Musik

Über Slipknot und die Vorteile aggressiver Musik.

1999 war ich 14 Jahre alt und im gleichen Jahr erschien das erste Album von Slipknot mit Sänger Corey Taylor. Ich hasste die Welt so sehr. Etwa ein Jahr später entdeckte ich Slipknot für mich. Endlich hatte ich nach mehreren Jahren wieder echte Freunde gefunden, die mich ein Stück weit auffingen, aber gerettet war ich noch lange nicht.

Ich erinnere mich, wie ich in jeder Pause am gleichen Ort saß neben meinem besten Freund, der mich noch heute begleitet. Mit dem rechten Ohr hörte ich Slipknot und er mit dem linken. In meiner Erinnerung redeten wir in diesen Momenten wenig bis gar nicht. Die Musik packte mich und ich starrte auf all die Mitschüler, die ich zum Kotzen fand. Aber es lag natürlich nicht an der Musik.

Wenn mal wieder ein junger Mensch durchdreht, wird die Schuld gern auf Videospiele, Filme und auch aggressive Musik geschoben. Doch die Wahrheit ist, dass Jugendliche, die sich von Killerspielen oder Action-Filmen anspornen lassen, um Gewalt zu üben, längst hätten gerettet werden müssen. Zu den beiden Faktoren möchte ich nichts sagen, sondern nur zur Musik. Die Songs von Slipknot zeigten mir vieles, das mir vorher nicht klar war. Meine Wut war nicht meine Schuld, sie war nicht die Ausgeburt eines schlechten Menschen und nicht nur ich spürte sie. Meine Wut wurde mir von außen aufgezwungen und anderen ging und geht es auch so. Jemand hatte Worte gefunden für meine Gefühle, die ich nur stillschweigend in mir kochen lassen konnte (und sie waren so furchtbar kurz vorm Überkochen). Die Worte mochten nicht meine gewesen sein und die Musik war roh, aber beide trafen es auf den Punkt.

Running out of ways to run
I can’t see, I can’t be
Over and over and under my skin
All this attention is doing me in

Fuck it all! Fuck this world!
Fuck everything that you stand for!
Don’t belong! Don’t exist!
Don’t give a shit!
Don’t ever judge me!

Picking through the parts exposed
Taking shape, taking shag
Over and over and under my skin
All this momentum is doing me in!

You got all my love, livin’ in your own hate
Drippin’ hole man, hard step, no fate
Showin’ you nothing, but I ain’t holdin’ back
Every damn word I say is a sneak attack
When I get my hands on you
Ain’t a fucking thing you can do
Get this cuz you’re never gonna get me
I am the very disease you pretend to be

I am the push that makes you move

Slipknot – Surfacing

Erinnert ihr euch, wie Marilyn Manson als das absolut Böse verschrien wurde? Es gab Proteste und Beinahe-Anschläge und so viel Hass gegen ihn wie selten gegen einen Künstler. Und warum? Er war angepisst von der Welt und sprach damit Hundertausenden aus der Seele. Über Manson werde ich sicherlich auch noch mehr schreiben, aber hier soll es ja um Slipknot gehen. Bei ihnen war es im Grunde das selbe, nur mit etwas weniger oder anderer Öffentlichkeitswirkung. Solche Musik (und auch andere Kunstformen, die diese geballte Wut und Traurigkeit ausdrücken) haben nicht nur eine Existenzberechtigung, sondern sind ein unumgängliches Muss, beinahe eine Verpflichtung. Wir sind nicht alle gemacht für die glatt gebügelte und ewig beruhigende Pop-Welt.

Aggressive Musik hat mir nicht nur gezeigt, dass ich nicht allein und gestört bin, sondern schenkte mir auch ein Ventil. Ich habe mehrmals darüber geschrieben und werde es wohl noch häufiger tun. Die Energie, die nicht sanft herausgelockt, sondern brutal gegriffen und an die Oberfläche gerissen wird, kommt endlich raus. Ich erinnere mich, wie ich mitgeschrien habe, wie ich zitterte vor Wut und Aggression, wie ich herumsprang, headbangte, pogte und plötzlich – endlich! – für Momente befreit war. Kein Ritzen und keine Verbrennungen gaben mir diese Art von Erlösung.

Die Teenager-Jahre sind prägend fürs Leben, denke ich. Heute bin ich nicht mehr der Junge von damals, aber irgendwie eben doch. Mir geht es zum Glück sehr viel besser, aber noch heute brauche ich Musik, die wehtut und mich zwingt, die Wut auf gesunde Weise herauszulassen, Musik, die mir zeigt, dass es anderen auch so geht.

Clown von Slipknot sagte vorletztes Jahr in einem Interview: I don’t need the new fan, I need the fan that has anxiety, parents are getting divorced, social problems, gender problems — I need them to come […] und das ist mir im Gedächtnis geblieben. Sie sind sich ihrer Bedeutung bewusst trotz allem Erfolg und allen Geldes. Ich habe entschieden, das nicht für reine Publicity zu halten. Dieses Interview ist 19 Jahre nach Erscheinen des ersten Albums gegeben worden. Ich mag das meiste ihrer Musik, aber dieses erste Album hat immer eine besondere Bedeutung behalten. Es war roh und brutal und genau das, was ich damals dringend brauchte. Natürlich gab es andere aggressive Musik, Slayer usw. Aber Slipknot fühlten sich echter an, ehrlicher. Ich halte das für einen wichtigen Faktor und ich rede nicht vom albernen Attribut, das Metalheads gerne als true bezeichnen. Es fühlte sich an, als wären sie genau so wütend wie ich.

Und wie beende ich den Artikel jetzt? Ich habe wohl mehr offenbart, als ich eigentlich wollte. Heute würde ich mich nicht mehr als Fan der Band bezeichnen, aber ich betone es noch einmal ganz deutlich: Slipknot und andere aggressive, deprimierende, abgefuckte und verstörende Bands haben eine Berechtigung und eine wichtige Aufgabe. Sie holen diejenigen ab, die von allen anderen zurückgelassen worden sind. Musik ist für dieses emotionale Abholen wohl am besten geeignet, aber auch andere Kunstformen sollten offen dafür sein und als Autor ist es auch meine Hoffnung, dass ich Menschen anspreche, die sich in meinen Werken wiederfinden und ein klein wenig verstanden fühlen. Erschafft, was euer Herz von euch verlangt, und passt euch nicht an für möglicherweise größere Erfolgschancen! Dann klappt das schon.

Sorck: Bad Moon Rising

Über eine Szene des Buches “Sorck” und den Song “Bad Moon Rising” von Creedence Clearwater Revival.

So fangen wir an: Alle, die nicht sofort den Song Bad Moon Rising von Creedence Clearwater Revival im Ohr hat, nimmt sich die 2:20 Minuten und hört ihn sich an. Ursprünglich suchte ich nach besonderen Songs, die für mich bedeutsam sind, und stieß auf diesen hier. Da er in Sorck auch erwähnt wird, kann ich schlecht nur über das Lied und die Band schreiben und schreibe gleichzeitig eben auch noch über das Buch. Hier erst mal die Lyrics:

I see a bad moon a-rising
I see trouble on the way
I see earthquakes and lightnin’
I see bad times today

Don’t go ’round tonight
It’s bound to take your life
There’s a bad moon on the rise

I hear hurricanes a-blowing
I know the end is coming soon
I fear rivers over flowing
I hear the voice of rage and ruin

Don’t go ’round tonight
It’s bound to take your life
There’s a bad moon on the rise

I hope you got your things together
I hope you are quite prepared to die
Look’s like we’re in for nasty weather
One eye is taken for an eye

Oh don’t go ’round tonight
It’s bound to take your life
There’s a bad moon on the rise
There’s a bad moon on the rise

Und das ist die kurze Erwähnung im Buch:

Am Ende des Dunkels wurde eine Melodie hörbar, und dann zunehmend lauter.
Schattentummler Sorck taumelte halb verloren über ein glitschiges Deck in Richtung bunter Lichter, die als verschleierter Schimmer in unklarer Entfernung flackerten. Die Melodie von Bad Moon Rising verstümmelte angenehm rhythmisch die Stille. Hinter einer Biegung öffnete sich das Schiff und offenbarte sein Inneres: Eine Bar. Endlich eine Bar.

Ich hatte eine Phase, in der ich verstärkt Musik aus den 1970er Jahren hörte, hauptsächlich Prog Rock aus den Jahren 1970-1972. Beim Rumstöbern fand ich etliche gute Bands, aber CCR habe ich, wenn ich mich nicht irre, im Soundtrack von The Big Lebowski entdeckt. Ihr erinnert euch an die Szene, in der er einen Joint im Auto raucht, Radio hört und happy ist? Er hört Lookin’ Out My Back Door von CCR. Bekannter ist allerdings der Song, um den es hier geht.

Den Sound von CCR könnte man chillig beschreiben. Musik für gute Laune bei mir. Der Songtext von Bad Moon Rising steht im Widerspruch dazu. Der Text ist apokalyptisch, biblische Anspielungen wie one eye is taken for an eye sind eingestreut. Versteck dich, mach dich bereit zu sterben, bereite dich vor, ein großer Sturm wird kommen. Diese Mischung und Widersprüchlichkeit gefällt mir, wie ihr euch denken könnt. Ich mag deprimierende Comedy und entspannt-apokalyptische Songs.

Zur Szene in Sorck (und eigentlich dem ganzen Buch) passen Song und innere Divergenz insofern, als der Protagonist gerade mit schlechter Laune in eine Bar geht und im Trinken gegen den Kummer ein Grundproblem steckt: Auf der einen Seite hat man Euphorie, Entspannung und (manchmal) verbesserte Laune, während auf der anderen Seite Suchtgefahr, Gesundheitsschäden und ultimativ mehr Probleme als vorher stehen. Die angenehme Feierei steht dem apokalyptischen Kater gegenüber. Verwendet habe ich den Song aber auch, weil ich ihn selbst in einer Bar auf einem Kreuzfahrtschiff gehört habe. Es wird euch nicht wundern, dass ich betrunken war. Die Situation war eine ganz andere als im Buch, aber damals war mir auch der Widerspruch bewusst zwischen den lustig tanzenden Ü50-Menschen und der Todeswarnung des Liedes.

Man könnte jetzt noch einen weiten Bogen schlagen, an den ich zuvor nicht gedacht hatte. Hermann Burger schrieb im Tractatus logico-suicidalis, seiner Abhandlung über den Suizid, jeder Tod sei ein Weltuntergang. Da Selbstmord für Martin Sorck durchaus eine Option ist, passt die Weltuntergangsthematik von Bad Moon Rising zur Figur. Die Warnung vor Gefahren und Tod innerhalb des Songs könnte dann gelesen werden als Warnung vor möglichen Reizen (beispielsweise in der Bar), die Sorck über die Grenze schieben könnten. Dass der Barbesuch im Endeffekt zu etwas Positivem führen sollte, nämlich zu einem emotionalen Sturm ganz anderer Art, kann man zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen. Die Wetterwarnung ist jedoch angebracht. Leider habe ich beim Schreiben nicht daran gedacht.

Mit dem Song verbinde ich persönlich generell Menschen mittleren bis gehobenen Alters, die feiern. Er lief auf Gartenpartys und Geburtstagen und eben in dieser Aida-Bar. Vielleicht kam es daher fast automatisch, dass die Bar, das alte Paar (in der nächsten Szene) und das Lied zusammen im Manuskript auftauchten. All die intellektuellen Begründungen scheinen mir manchmal wie Rationalisierungen für unbewusste Entscheidungen und Assoziationen. Vielleicht sind jedoch die Begründungen von vornherein da, aber die Ausformulierung der Begründungen erfolgt später. Auch eine interessante Idee.

So, jetzt muss ich mich mal umsehen, denn ich habe mich ein bisschen verlaufen wie Sorck auf seinem Weg zur Bar. Wie mir scheint, bin ich trotzdem irgendwo angekommen. Eine Erinnerung noch am Ende: Als der Song in der Bar lief, die zu einer Seite (dem Schiffsheck) offen war, fuhren wir gerade vom Stockholmer Hafen an vielen kleinen Inseln vorbei in Richtung des Meeres, die Sonne ging unter und tauchte den Himmel in ein fast kitschiges Rot, und ein roter Himmel (wenn auch in einem anderen Rotton) gilt häufig als Andeutung auf die Apokalypse. Es spielt alles zusammen, wenn man es nur richtig betrachtet.