Verlaufen

Über das Verlaufen, die Orientierungslosigkeit und “Das Maurerdekolleté des Lebens”.

Der Begriff verlaufen hat mich im Rahmen des Schreibens von Das Maurerdekolleté des Lebens, auf der Suche nach einem passenden Cover sowie während des allgemeinen Veröffentlichungsprozesses sehr beschäftigt.

Als Kind habe ich mich einmal verlaufen. Ich erinnere mich an gelbe Felder und eine schmale Straße. Als ich einen Punkt fand, den ich wiedererkannte, musste ich feststellen, dass ich nicht besonders weit abgekommen war. Viele Jahre später passierte es mir nachts häufiger als mir lieb ist, dass ich mich betrunken auf dem Heimweg verlief. Es handelte sich fast immer um die gleiche Strecke, jedoch suchte ich Abkürzungen, die den Weg stets verlängerten und die gelegentlich komplett im Kreis verliefen. Es existieren Heimweg-Handyfotos von Bächen und Waldlichtungen, von denen ich noch heute nicht weiß, wo sie liegen. Mein Orientierungssinn war in dieser Zeit legendär unterentwickelt und hat sich nicht groß verbessert.

Schlimmer als dieses Verlaufen ist meiner Meinung nach das transzendentale Verlaufen in doppelter Hinsicht, die Orientierungslosigkeit in Sinnfragen (oder der Sinnfrage) und das Verwischen der Linien, das mit einem Sinnverlust und kompletter (scheinbarer) Gleichgültigkeit einherkommt. Wenn die Sicht unklar wird und alle Richtungen, auch die grausamsten, begehbar scheinen, wünschen sich die meisten irgendeine Art der Orientierung zurück – einen Strick zum Festhalten, wenn es sein muss. Man sucht und man findet oder eben nicht. Das ist der (Ver)Lauf des Lebens.

Verlaufen im Sinne eines Verwischens können auch die Realitätsebenen – gewollt und kontrolliert in der Literatur oder gewollt und unkontrolliert durch Drogen. In Sorck passiert beides. Martin Sorck feiert mit der Crew des Kreuzfahrtschiffs und lässt sich eine Kombination verschiedener, ihm unbekannter Substanzen verabreichen. Warum interessiert ihn nicht, was er da nimmt? Auch er kennt seinen Weg nicht, weiß nicht, wo er hinzugehen hat. In Das Maurerdekolleté des Lebens verliert Protagonist Theo Schritt für Schritt die Orientierung, während er tiefer ins Labyrinth gerät. Theo glaubt, dass er seinen Weg kennt, dass er in gewisser Weise vorbestimmt ist. Man hat ihm gesagt, wo er hinzugehen hat. Aber so einfach ist es nie, oder? Es gibt Vorgaben und Karten, es gibt die Entscheidungsfreiheit. Aber was nutzt das alles, wenn man die Karten nicht lesen kann und alle Entscheidungen auf vagen Vermutungen darüber beruhen, was sich hinter der nächsten Ecke befinden könnte? Ich weiß, dieses Bild verliert seine Wirkung in Zeiten von Smartphones und Google Maps. Aber hey, ich hatte auf meinen Suff-Verirrungen immer mein Smartphone dabei und nicht ein einziges Mal daran gedacht, dass ich mich hätte nach Hause navigieren lassen können.

Findet ihr es nicht faszinierend, dass die Mathematik über zwei Linien aussagen kann, dass sie sich unendlich weit annähern, aber niemals berühren werden? So wird der Verlauf von Parallelen zur Metapher für die Unmöglichkeit der totalen Annäherung einer Person an eine andere. Man kann schier daran zerbrechen, jemanden an sich zu pressen und ihn doch niemals nah genug haben zu können. Es gibt eine wunderschöne Liebesszene bei Remarque (Die Nacht von Lissabon?), in der er genau diese Situation beschreibt, aber konvexe und konkave Formen als Bild wählt. Mithilfe von Vergleichen mit Farbverläufen könnte man sich aus der Parallelen-Bredouille wieder retten: aus zwei verschiedenen Farbflächen kann sich eine dritte bilden. One and one is one, haben schon Medicine Head festgestellt.

Immer mal wieder sollte man innehalten und sich neu orientieren. Es ist ganz egal, ob es sich um einen Blogeintrag oder die Ausrichtung des gesamten Lebens handelt. Voranzugehen ist erheblich angenehmer, wenn man weiß, wo man hingeht. Ein Teil von mir möchte hinzufügen: … und man wissen könnte, wann man angekommen ist.

Meine Orientierung und meine Aufgabe habe ich dank des Schreibens weitestgehend (wieder)gefunden. Theos Aufgabe in Das Maurerdekolleté des Lebens ist es, zu suchen, damit andere finden können.

Autor: Matthias Thurau

Autor, 1985 geboren, aus Dortmund. Schreibt Romane, Erzählungen, Lyrik. Rezensent beim Buchensemble, Mitglied von Nikas Erben.

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