Erschütterungen. Dann Stille.: Heimweg

Über die Kurzgeschichte “Heimweg” in “Erschütterungen. Dann Stille.”

Wohin geht der Weg, wenn man getrieben ist und sucht, ohne zu wissen, wonach man suchen sollte, oder, schlimmer noch, wissend, dass das, was man sucht, nicht gefunden werden kann, nicht gefunden werden will? Manchmal verläuft man sich. Heimweg ist eine Kurzgeschichte aus Erschütterungen. Dann Stille.. Im Folgenden werde ich um Spoiler zur Geschichte und auch zu Sorck nicht herumkommen. Zweitere sind jedoch von geringer Wichtigkeit. Lest am besten erst die Erzählung und dann diesen Blogeintrag.

Verlaufen

Schon in Das Maurerdekolleté des Lebens drehte sich vieles um das Bild des Verlaufens, des Suchens nach etwas, ohne genau zu wissen, was es ist. Martin stolpert durch die Stadt, immer auf der Flucht vor der Leere in den eigenen vier Wänden und der Sehnsucht nach dem Alleinsein. Er hat kein Zuhause mehr, weil sie sein Zuhause gewesen ist und das Gefühl der Geborgenheit mitgenommen hat. Martin hat sich verlaufen, weil er nirgendwo mehr hingehört. Die Punkte auf der Landkarte, an denen er rastet und Zeit verbringt, könnten willkürlich andere sein. So fühlt es sich manchmal an, wenn man verlassen ist. Gerade jetzt erinnert es mich an den großartigen Song Spiral Wings von John Doran & Gnod auf dem Album Hubris. Besonders die Stelle, an der der Sprecher realisiert: I ain’t even f*cking moving, obwohl er ein Leben lang die eigenen Spuren zu verfolgen gesucht hatte.

Martin, Martin Sorck?

Martin, der Protagonist in der Kurzgeschichte Heimweg ist, obwohl es nicht als Nebengeschichte zu Sorck gedacht ist, auch nicht ganz zufällig mit dem gleichen Namen bedacht wie Martin Sorck. Die Probleme des nachnamenlosen Martin aus Heimweg sind artverwandt und teilweise sogar die gleichen wie jene Sorcks. Beide sind unterwegs, trinken zu viel und sind einsam. Doch die Partnerin macht den Unterschied. Dieser Martin hier vermisst seine ehemalige Partnerin, während Martin Sorck sich nach der möglicherweise zukünftigen Partnerin Eva sehnt.

Wollte man Heimweg ins Sorck-Universum – was für ein geiler Begriff, oder? – einfügen, so wäre die Geschichte vermutlich eine frühere Episode. Der Martin Sorck nach der Kreuzfahrt wäre sich vermutlich der Theatralik der Szene bewusst und würde sie ironisch betrachten, anstatt sie auf gleiche Weise zu durchleiden. Satzfetzen wie eine Nacht, über die man am besten nur sagt, dass es nieselte hätten allerdings auch zum Protagonisten der Kreuzfahrt gepasst.

Inspiration

Wie ich im Blogartikel Verlaufen über einige Ideen hinter Das Maurerdekolleté des Lebens bereits geschrieben habe, habe ich mich im Leben häufiger verlaufen. Nicht selten ist das auf ähnlichen (ähnlich besoffenen) Spaziergängen passiert, wie jenem in Heimweg. Dass ich schon mehr als einmal verliebt gewesen und verlassen worden bin und hartnäckig vermisst habe, kann man sich wohl denken. Manche Gedichte in Alte Milch zeugen sehr deutlich davon. So viel oder so wenig zum persönlichen Hintergrund.

Eine weitere Inspirationsquelle, von der ich allerdings nicht mehr 100 % sicher bin, ob sie wirklich dazu beigetragen oder mich bloß sehr berührt hat, ist das Video eines Auftritts von Neil Hilborn: Neil Hilborn – OCD. Ob nun aus Interesse an meiner Arbeit oder warum auch immer, schaut es euch mal an! Mir hat es wehgetan, weil ich das grundsätzliche Gefühl gut nachempfinden konnte. Und auch in Heimweg ist nicht das Thema des Videos eingeflossen, sondern das Gefühl der kaum erträglichen Sehnsucht und der Hoffnung, die doch nichts als Schmerz bringt. Martin nutzt den Namen seiner ehemaligen Partnerin wie eine Beschwörungsformel, um Albträume fernzuhalten, und doch sind es die Träume, in denen sie auftaucht, die ihn am meisten mitnehmen.

Letzte Worte

An dieser Stelle würde ein Teil von mir gern einen Absatz über die Macht von Namen anfügen, geheimen Namen, mächtigen Namen und all das. Auch könnte ich an Albert Camus und Der Fremde erinnern, an die Szene, in der der Protagonist das einzige Mal im ganzen Roman laut wird und die Unfairness seines Schicksals beklagt, und wie diese Szene möglicherweise dem Ende von Heimweg ähnelt. Aber emotional gehört das nicht mehr hierhin, wäre es nicht mehr stimmig. Ich schließe an dieser Stelle, weil ich mich im Text verlaufen habe.

Verlaufen

Über das Verlaufen, die Orientierungslosigkeit und “Das Maurerdekolleté des Lebens”.

Der Begriff verlaufen hat mich im Rahmen des Schreibens von Das Maurerdekolleté des Lebens, auf der Suche nach einem passenden Cover sowie während des allgemeinen Veröffentlichungsprozesses sehr beschäftigt.

Als Kind habe ich mich einmal verlaufen. Ich erinnere mich an gelbe Felder und eine schmale Straße. Als ich einen Punkt fand, den ich wiedererkannte, musste ich feststellen, dass ich nicht besonders weit abgekommen war. Viele Jahre später passierte es mir nachts häufiger als mir lieb ist, dass ich mich betrunken auf dem Heimweg verlief. Es handelte sich fast immer um die gleiche Strecke, jedoch suchte ich Abkürzungen, die den Weg stets verlängerten und die gelegentlich komplett im Kreis verliefen. Es existieren Heimweg-Handyfotos von Bächen und Waldlichtungen, von denen ich noch heute nicht weiß, wo sie liegen. Mein Orientierungssinn war in dieser Zeit legendär unterentwickelt und hat sich nicht groß verbessert.

Schlimmer als dieses Verlaufen ist meiner Meinung nach das transzendentale Verlaufen in doppelter Hinsicht, die Orientierungslosigkeit in Sinnfragen (oder der Sinnfrage) und das Verwischen der Linien, das mit einem Sinnverlust und kompletter (scheinbarer) Gleichgültigkeit einherkommt. Wenn die Sicht unklar wird und alle Richtungen, auch die grausamsten, begehbar scheinen, wünschen sich die meisten irgendeine Art der Orientierung zurück – einen Strick zum Festhalten, wenn es sein muss. Man sucht und man findet oder eben nicht. Das ist der (Ver)Lauf des Lebens.

Verlaufen im Sinne eines Verwischens können auch die Realitätsebenen – gewollt und kontrolliert in der Literatur oder gewollt und unkontrolliert durch Drogen. In Sorck passiert beides. Martin Sorck feiert mit der Crew des Kreuzfahrtschiffs und lässt sich eine Kombination verschiedener, ihm unbekannter Substanzen verabreichen. Warum interessiert ihn nicht, was er da nimmt? Auch er kennt seinen Weg nicht, weiß nicht, wo er hinzugehen hat. In Das Maurerdekolleté des Lebens verliert Protagonist Theo Schritt für Schritt die Orientierung, während er tiefer ins Labyrinth gerät. Theo glaubt, dass er seinen Weg kennt, dass er in gewisser Weise vorbestimmt ist. Man hat ihm gesagt, wo er hinzugehen hat. Aber so einfach ist es nie, oder? Es gibt Vorgaben und Karten, es gibt die Entscheidungsfreiheit. Aber was nutzt das alles, wenn man die Karten nicht lesen kann und alle Entscheidungen auf vagen Vermutungen darüber beruhen, was sich hinter der nächsten Ecke befinden könnte? Ich weiß, dieses Bild verliert seine Wirkung in Zeiten von Smartphones und Google Maps. Aber hey, ich hatte auf meinen Suff-Verirrungen immer mein Smartphone dabei und nicht ein einziges Mal daran gedacht, dass ich mich hätte nach Hause navigieren lassen können.

Findet ihr es nicht faszinierend, dass die Mathematik über zwei Linien aussagen kann, dass sie sich unendlich weit annähern, aber niemals berühren werden? So wird der Verlauf von Parallelen zur Metapher für die Unmöglichkeit der totalen Annäherung einer Person an eine andere. Man kann schier daran zerbrechen, jemanden an sich zu pressen und ihn doch niemals nah genug haben zu können. Es gibt eine wunderschöne Liebesszene bei Remarque (Die Nacht von Lissabon?), in der er genau diese Situation beschreibt, aber konvexe und konkave Formen als Bild wählt. Mithilfe von Vergleichen mit Farbverläufen könnte man sich aus der Parallelen-Bredouille wieder retten: aus zwei verschiedenen Farbflächen kann sich eine dritte bilden. One and one is one, haben schon Medicine Head festgestellt.

Immer mal wieder sollte man innehalten und sich neu orientieren. Es ist ganz egal, ob es sich um einen Blogeintrag oder die Ausrichtung des gesamten Lebens handelt. Voranzugehen ist erheblich angenehmer, wenn man weiß, wo man hingeht. Ein Teil von mir möchte hinzufügen: … und man wissen könnte, wann man angekommen ist.

Meine Orientierung und meine Aufgabe habe ich dank des Schreibens weitestgehend (wieder)gefunden. Theos Aufgabe in Das Maurerdekolleté des Lebens ist es, zu suchen, damit andere finden können.