Okay, das Ding ist weird. Ein klassischer Thurau mit Twist. Natürlich könnte man das über die meisten Geschichten in Erschütterungen. Dann Stille. sagen. In Eine Ziege, Vater ist allerdings alles noch einmal anders. Es folgen Spoiler (inklusive Pointe), also lest bitte zuerst die Geschichte und dann den Rest dieses Blogeintrags.
Der besoffene Tourist
Sollte irgendwann mal jemand ernsthaft über meine Werke nachdenken, wird sich herausstellen, was ich selbst gerade festgestellt habe, nämlich dass ein Figurentyp häufiger auftaucht als andere: Der (besoffene) Tourist. Üblicherweise liegt das daran, dass die Idee zur Geschichte sowohl auf Reisen als auch betrunken entwickelt worden ist. In diesem Fall passt es aber nicht. Eine Ziege, Vater ist nüchtern und daheim entstanden, und zwar für die neue Anthologie von Nikas Erben – wie auch schon Der Mitatmer. Ein weiterer Grund, diesen Figurentyp zu verwenden, ist das, was man mit ihr verbindet. Besoffene Deutsche im Urlaub sind in Reinform selbst anderen Deutschen im Urlaub unangenehm. Man assoziiert schnell schlechtes Benehmen und fragwürdigen Stil: Ballermann-Vibes. Hier sollte es genau das sein.
Wieder der Hermann
Hermann Burger hatte mich damals zu Sorck: Ein Reiseroman inspiriert, beziehungsweise 1. zum Sprachstil und 2. zur Vermischung eigentlich nicht kompatibler Elemente (Tourismus und Krieg usw.). Auch an Eine Ziege, Vater war Burger nicht ganz unschuldig. Einerseits merkt man das mal wieder an der Sprache, die verschachtelt und bewusst verwirrend gehalten ist. Sie verwischt Ebenen, erzählt und spricht an, alles gleichzeitig im Briefstil.
Andererseits ist die Anklage Geistlicher oder der Kirche an sich etwas, das man bei Burger (und etlichen anderen Schweizer Autor*innen aus ähnlicher Zeit) mehrmals finden kann. Bei den Schweizern liegt der Hauptvorwurf meist bei den erhobenen Kirchensteuern. Dürrenmatt beispielsweise hat sich auch gern darüber ausgelassen.
Mich interessieren Steuern als Thema eher weniger. Man kann in Deutschland auch einfach zum Amtsgericht laufen und für wenig Geld austreten. Daher musste ein anderes Kirchenthema her: Warum nicht boshafte Predigten, die beeinflussbare Kinder um den Schlaf bringen?
Monsterhafte Tiere
Eine Ziege verbindet man allgemein nicht mit Angst, Albträumen oder Horror. Der Weg ist aber nicht weit. Sobald man das Kirchenmotiv mit drin hat, wird die Ziege beziehungsweise der Ziegenbock eine gute Wahl. Sie hat Hufe, Hörner und ein langgezogenes Gesicht. Eines dieser Satanstiere. Betrachtet man einen Ziegenschädel frontal, bilden die Hörner, die Ohren und das Kinn jeweils eine Spitze eines umgedrehten Pentagramms.
Von alldem mal abgesehen, wirkt der hohle Blick einer Ziege beunruhigend, wenn man sich erst einmal darauf einlässt. Sie starrt dich an und kaut. Mehr nicht. Ein paar schwarze Wolken dazu und das Näherkommen, jede Nacht ein bisschen, in einem wiederkehrenden Traum. Schon hat man ein unangenehmes Phänomen, das Menschen in den Wahnsinn treiben könnte.
Rache ist wiederkäuend
Ich mag runde Dinge. Der Pfaffe verpasst dem Protagonisten Albträume. Am Ende wird der Protagonist und Briefeschreiber seinen neuesten nächtlichen Fluch los, indem er ihn dem Pfarrer weitergibt. Der einzige, der hier glimpflich davonkommt, ist der Touristenführer. Da stellen sich ohnehin Fragen, oder? Hatte er den Fluch, wusste davon und gab ihn vorsichtshalber einer ganzen Tourigruppe weiter? Hat also jede*r Teilnehmer*in des Ausflugs den Fluch der (un)heiligen Ziege? Oder gibt es diesen Fluch gar nicht wirklich und der Protagonist ist bloß hyperempfindlich und bildet sich alles ein? An der Rache (aus Sicht des Briefeschreibers) ändert es nichts und auch nichts an der Befreiung durch den Brief. Sollte er den Fluch niemals gehabt haben, so war der Brief und die Aussprache seiner Probleme dennoch eine hilfreiche Sache. Er entlastet sich, indem er dem einstigen Peiniger anklagt, und ausspricht, was er ein Leben lang für sich behalten hatte.
Warum so kompliziert?
Hätte ich die Story auch erzählen können, ohne jeden Satz so verdreht wie möglich zu bauen? Klar. Aber wo wäre da der Spaß geblieben? Ich hoffe doch, dass sich Leser*innen finden, die an derartigen Texten genau so viel Vergnügen haben wie ich.
Ein weiterer Pluspunkt ist die Freiheit, die ich mir durch den Stil selber schenke, Gedanken, Gefühle, formale Ansprache und berichtetes Geschehen zu vermischen, um etwas Neues zu schaffen. Dieser fast verwirrte, definitiv aufgeregte und doch verstockte Stil charakterisiert den Briefeschreiber. Am Ende sollte man durch den Stil sowie die wenigen berichteten Taten ein Bild des Protagonisten vor Augen haben. Dieses Bild ist höchstwahrscheinlich wenig sympathisch, aber auch das ist absichtlich entstanden.