Von Zeit zu Zeit durchlebe ich Phasen, in denen ich wenig bis gar nicht arbeite. Diese Phasen sind keine Erholungspausen, sondern Einschnitte, die mich unzufrieden stimmen und von denen ich hoffe, dass ich sie möglichst schnell überwinden kann. Dann führe ich ein Gespräch oder habe eine Einsicht, lese etwas oder habe eine Idee und plötzlich ist es wieder da: ich setze mich hin und arbeite. Ein kleiner Punkt in der Zeit ändert alles.
Aber ist das wirklich so? Wir verwechseln häufig Grund und Auslöser. Frustriert über meine Untätigkeit war ich doch die ganze Untätigkeitsphase hindurch. Es brodelte in mir und kulminierte schließlich, ausgelöst durch das Gespräch, die Einsicht, das Gelesene oder die Idee. Wenn ich mich genauer beobachte, merke ich sogar, dass ich mir die Auslöser selbst erschaffe. Ich beginne Gespräche mit anderen Autor*innen und spreche diese Phase an oder lese Werke von anderen, denen ich nacheifere. Mir mag das nicht bewusst sein, aber ich steuere selbst auf den erlösenden Moment zu. Doch die Illusion ist wichtig.
Denkt an die Narrative von Biographien: In diesem Moment wusste sie, dass sie Ärztin werden wollte oder Dieser Moment hat sein Leben für immer verändert oder Seitdem war nichts mehr wie vorher. Gegeben, dass es sich nicht um einen äußeren Reiz handelt, der völlig überraschend, dominant und gewaltsam auf das Leben einer Person einwirkt, sind die Momente oder kurzen Zeitspannen, die uns definieren, Umbrüche oder Wendepunkte größerer Bewegungen. Selten kommen die definierenden Momente aus dem Nichts und da sie definierend sind, enden sie nicht sofort wieder, sondern wirken nach. Aggressive plötzliche Einwirkungen von außen haben selten eine Vorgeschichte, aber umso größere Nachwirkungen. Die Nachwirkung wiederum ist keine einzelne Linie, keine direkte Verbindung von Punkt A damals und Punkt B jetzt, sondern ist eine Kombination endlos vieler Einflüsse und Entscheidungen. Wir entscheiden uns, einen Erzählstrang als Hauptstrang zu wählen, um unser Leben zu erklären. Die Erzählung kann sich wandeln, aber die wichtigsten Punkte bleiben.
Wir sind nicht in der Lage alle Einflüsse, die auf uns wirken, zu sehen und zu verstehen. Stellt euch einen Fußpfad vor, den ihr einmal gegangen seid! Er muss nicht lang sein. Er führt geradeaus und schlängelt sich nach links und rechts, daneben sind Büsche oder Bäume oder Wiesen. In der Vorstellung findet ihr euch zurecht, ihr kennt die Kurven und die Bäume, alle wichtigen Wegpunkte. Aber der Pfad besteht aus so viel mehr als aus diesen Punkten. So gern ihr vielleicht würdet, ihr könnt euch nicht jedes Detail des Weges merken, ihr könnt nicht einmal jedes Detail wahrnehmen. Also entscheidet ihr euch für markante Stellen, an denen ihr euch entlanghangeln könnt: Wegpunkte.
Das Leben ist eine Geschichte ist ein Weg. Sartre behauptete in Die Wörter, er habe als Kind begriffen, dass das Leben eines Menschen vom Tode aus beurteilt werden würde. Er wollte Schriftsteller werden, also würde man sein Leben als das eines Schriftstellers beurteilen und jeden Schritt darin im diesem Licht beleuchten. Er sagte als Kind deshalb Dinge daher, die intelligent wirkten, aber nichts bedeuteten, um seine Familie und Bekannte zu beeindrucken, die im Nachhinein und in Erinnerung daran, ihn im Gedächtnis behielten mit er war immer schon zum Schriftsteller gemacht. Wann auch immer er diese Erkenntnis tatsächlich gehabt haben mag, sie ist korrekt. Wir interpretieren Taten und Worte im Lichte dessen, was danach kommt – oder besser: was danach gekommen ist. Er hat schon als Kind lieber Fußball gespielt als zur Schule zu gehen. Diesen Satz habe ich vor einer ganzen Weile im Radio gehört. Er trifft auf unglaublich viele Menschen zu, aber die angesprochene Person wurde Profi-Fußballer, also interpretiert man es anders: nicht als kindliche Spielerei, sondern als Vorbereitung auf ein größeres Ziel. Das Leben ist eine Geschichte ist ein Weg.
Diesen Satz könnt ihr kombinieren, wie ihr wollt. Da hier hauptsächlich Autor*innen lesen, sagen wir mal: Eine Geschichte ist ein Weg ist ein Leben. Es gibt für jede Figur und für den Plot an sich entscheidende Punkte, auf die alles hinarbeitet, damit am Ende ein anderer Zustand (und sei es ein geistiger) herrscht als am Anfang. In der Literatur muss die Illusion von Wegpunkten (oder die Illusion ihrer unerschütterlichen Wichtigkeit) bewahrt und genährt werden. Man muss sich auf einen Narrativ konzentrieren, der Taten und Gefühle erklärt und dabei nicht zu komplex ist, um ihn zu verstehen. Ein dargestelltes Leben darf nicht so kompliziert sein wie ein tatsächliches. Die unglaubliche Menge an Einflüssen, Gedanken, Wahrnehmungen eines einzelnen Menschen ist unmöglich in eine Geschichte zu fassen, weshalb wir den Großteil dessen ignorieren und unser Augenmerk auf das Entscheidende werfen. Wir riskieren dabei, die Motivation von Figuren zu flach erscheinen zu lassen oder die Wegpunkte zu kitschig zu gestalten. Über welche Plotpunkte definiert ihr euer Leben? Wirkten diese Punkte für eine Romanfigur glaubhaft, interessant, klischeehaft, kitschig, realistisch?
Ein Weg ist eine Geschichte ist ein Leben. Vielleicht stammt unsere Aufteilung in Sinnabschnitte und Wegpunkte ursprünglich von unserem Orientierungssinn in der Natur. Wir gehen einen Weg und erzählen uns die entscheidenden Stellen wie eine Geschichte. Denken wir kurz an die Aborigines, die jedem wichtigen (und vielleicht für uns unwichtig wirkenden) Punkt im Land eine Bedeutung zugewiesen haben innerhalb ihrer großen Erzählung: Dreaming. Stellt euch einmal vor, ihr bewegt euch jeden Tag in einem riesigen Netzwerk aus Geschichten, die zusammen eine Landkarte bilden und eine Ahnentafel und die gesamte Göttergeschichte und die Historie eures Volkes der letzten 40.000 Jahre. Wer die Geschichte kennt, verläuft sich in ihr nicht.
Vielleicht ist die ständige Suche nach neuen Geschichten und die Ausarbeitung bestehender nicht mehr als ein Versuch, Ordnung in einer Welt zu schaffen, in der man sich verlaufen hat.