Simple Komplexität

Über den Begriff der Komplexität.

In einer Diskussion argumentierte mein Gegenüber, dass die Spezialisierung der Wissenschaften unnötig und sogar schädlich sei, weil sie uns die Illusion von einer komplexen Welt aufzwänge, obwohl die Regeln der Natur – das Recht des Stärkeren, fressen oder gefressen werden etc. – sehr simpel wären. Das durchscheinende rechte Gedankengut ignorierte ich für einen Moment und brachte folgendes Gegenargument ins Spiel: Stößt man mit einem Queue eine Billardkugel an, kann man mit großer Wahrscheinlichkeit vorhersagen, wohin die Kugel rollen wird. Ursache und Wirkung. Eine simple Regel. Stößt die angestoßene Kugel auf eine Gruppe weiterer Kugeln, wird es bereits erheblich schwieriger, die Rollrichtung aller Kugeln vorherzusagen. Ursache (Stoß) und Wirkung (Weiterrollen) sind unverändert. Die Komplexität des Vorgangs entsteht durch die Addition vieler simpler Regeln.

Eine Sprache ist ein beherrschbares System. Man kann die mehr oder weniger einfachen Regeln einer Sprache erlernen und sie dann sowohl anwenden als auch verstehen. Das oben genannte Argument einer Summierung der Einzelvorgänge erklärt jedoch nicht allein die mögliche Komplexität eines längeren Textes (wie beispielsweise eines Romans). Eine Sprache ist ein Verschlüsselungssystem, das sowohl auf der Beherrschung der Entschlüssungstechniken (der Regeln der Sprache) basiert als auch auf dem Wissen, was hinter den Wörtern steckt – man sollte einen Baum kennen, um das Wort „Baum“ entschlüsseln zu können – und worauf sich mehrfach codierte Begriffe beziehen. Mit mehrfach codierten Begriffen meine ich Ausdrücke wie „das Buch der Bücher“ für die Bibel, die nicht allein durch das Verständnis der Sprachregeln und der Wortbedeutungen verstanden werden können. Diese Mehrfachverschlüsselungen erschweren übrigens eine Sprache nicht wirklich, sondern vereinfachen sie. Die Menge an Buchstaben und Wörtern, die durch eine solche Codierung gespart werden kann, ist enorm. Denkt man beispielsweise an das Lied Happy Birthday, fällt auf, dass man weder den gesamten Text noch die Melodie wiedergeben muss, sondern das gesamte Lied aufgrund der vorausgesetzten Kenntnis aller Parteien mit nur zwei Wörtern kommunizieren kann.

Jede Verschlüsselung dieser Art ist eine Verkürzung des Textes und eine Verdichtung der enthaltenen Informationen, also einer Zunahme der Komplexität. Erlernbare Regeln der Sprache + (vorausgesetztes, erlerntes) Wissen. Deshalb ist ein Kinderbuch weniger komplex als ein Erwachsenenroman: Das Wissensniveau, von dem wir auf der Empfängerseite ausgehen können, ist nicht hoch genug für zu komplexe Operationen. Die Regeln sind einfach, aber ihre Anwendung ist es nicht.

Es gibt die Theorie, dass die Welt aufgebaut ist aus zellulären Automaten. Ein zellulärer Automat ist eine Anwendung mit sehr einfachen Regeln. Man kann zellulären Automaten jedweder Dimension erdenken. Stellt man sich eine Fläche voller Quadrate vor, von denen manche schwarz sind und manche weiß, so kann man einige Anweisungen formulieren, um den (zweidimensionalen) zellulären Automaten in Gang zu bringen. Beispiel: Jede weiße Zelle mit schwarzen Zellen an mindestens zwei Seiten wird ebenfalls schwarz, aber jede schwarze Zelle, die von mehr als drei anderen schwarzen Zellen berührt wird, färbt sich weiß. Stellt man sich das Abspulen der Regeln schrittweise vor, so wird je nach Ursprungszustand entweder gar nichts passieren (wenn die schwarzen Zellen zu weit auseinander liegen), oder einige weiße Zellen würden schwarz werden und vielleicht einige schwarze weiß. Die Verfärbung mancher Zellen würde die nächsten Schritte auslösen und immer so weiter. Es gibt sehr simple zelluläre Automaten, die im Laufe ihres Abspulens ein Muster entwickeln und dieses automatisch (aufgrund der immer gleichen Regeln) kopieren. Eine Vermehrung von Strukturen findet statt vergleichbar der Teilung einer Zelle, deren DNS ebenfalls als zellulärer Automat aufgefasst werden kann.

Stellt man sich nun vieldimensionale zelluläre Automaten als Frakta vor – ein Fraktum hat in der Mathematik die Eigenschaft, dass es immer komplexer wird, je genauer man es betrachtet –, so könnte man ein theoretisches Grundmodell der Welt haben. Aus einem simplen Ursprung und mit simplen Regeln wurde eine hochkomplexe Welt. Die Regeln sind einfach, aber ihre Anwendung ist es nicht.

Das dicke ABER an dieser Stelle heißt „Gödelscher Unvollständigkeitssatz“, der nämlich besagt, dass, selbst wenn es eine simple Erklärung der Welt gäbe, diese nicht beweisbar wäre.

Was machen wir jetzt damit?

Wir könnten das Fazit ziehen, dass eine Geschichte, sofern Umfang und vorauszusetzendes Wissen mitspielen, keine Obergrenze ihrer Komplexität hat. Aber das ist ein unpraktisches Fazit. Wir könnten uns auch als Teil einer sich im Kleinen und im Großen ins Unendliche ausbreitenden Welt fühlen, was möglicherweise unser Ego für einen Moment entlastet. Oder wir sehen einfach ein, dass wir nicht alles verstehen können (bei genauerer Betrachtung sogar nur einen winzigen Bruchteil von allem). Können wir nicht alles verstehen, so sind wir vom Zwang enthoben, alles verstehen zu müssen, und mit etwas Glück von der ständigen Suche nach Antworten. Wir sollten uns Pausen gönnen. Das Alltägliche steckt voller Unbegreiflichkeiten.

Die Illusion des entscheidenden Punktes

Über die Wahrnehmung von Lebensgeschichten.

Von Zeit zu Zeit durchlebe ich Phasen, in denen ich wenig bis gar nicht arbeite. Diese Phasen sind keine Erholungspausen, sondern Einschnitte, die mich unzufrieden stimmen und von denen ich hoffe, dass ich sie möglichst schnell überwinden kann. Dann führe ich ein Gespräch oder habe eine Einsicht, lese etwas oder habe eine Idee und plötzlich ist es wieder da: ich setze mich hin und arbeite. Ein kleiner Punkt in der Zeit ändert alles.

Aber ist das wirklich so? Wir verwechseln häufig Grund und Auslöser. Frustriert über meine Untätigkeit war ich doch die ganze Untätigkeitsphase hindurch. Es brodelte in mir und kulminierte schließlich, ausgelöst durch das Gespräch, die Einsicht, das Gelesene oder die Idee. Wenn ich mich genauer beobachte, merke ich sogar, dass ich mir die Auslöser selbst erschaffe. Ich beginne Gespräche mit anderen Autor*innen und spreche diese Phase an oder lese Werke von anderen, denen ich nacheifere. Mir mag das nicht bewusst sein, aber ich steuere selbst auf den erlösenden Moment zu. Doch die Illusion ist wichtig.

Denkt an die Narrative von Biographien: In diesem Moment wusste sie, dass sie Ärztin werden wollte oder Dieser Moment hat sein Leben für immer verändert oder Seitdem war nichts mehr wie vorher. Gegeben, dass es sich nicht um einen äußeren Reiz handelt, der völlig überraschend, dominant und gewaltsam auf das Leben einer Person einwirkt, sind die Momente oder kurzen Zeitspannen, die uns definieren, Umbrüche oder Wendepunkte größerer Bewegungen. Selten kommen die definierenden Momente aus dem Nichts und da sie definierend sind, enden sie nicht sofort wieder, sondern wirken nach. Aggressive plötzliche Einwirkungen von außen haben selten eine Vorgeschichte, aber umso größere Nachwirkungen. Die Nachwirkung wiederum ist keine einzelne Linie, keine direkte Verbindung von Punkt A damals und Punkt B jetzt, sondern ist eine Kombination endlos vieler Einflüsse und Entscheidungen. Wir entscheiden uns, einen Erzählstrang als Hauptstrang zu wählen, um unser Leben zu erklären. Die Erzählung kann sich wandeln, aber die wichtigsten Punkte bleiben.

Wir sind nicht in der Lage alle Einflüsse, die auf uns wirken, zu sehen und zu verstehen. Stellt euch einen Fußpfad vor, den ihr einmal gegangen seid! Er muss nicht lang sein. Er führt geradeaus und schlängelt sich nach links und rechts, daneben sind Büsche oder Bäume oder Wiesen. In der Vorstellung findet ihr euch zurecht, ihr kennt die Kurven und die Bäume, alle wichtigen Wegpunkte. Aber der Pfad besteht aus so viel mehr als aus diesen Punkten. So gern ihr vielleicht würdet, ihr könnt euch nicht jedes Detail des Weges merken, ihr könnt nicht einmal jedes Detail wahrnehmen. Also entscheidet ihr euch für markante Stellen, an denen ihr euch entlanghangeln könnt: Wegpunkte.

Das Leben ist eine Geschichte ist ein Weg. Sartre behauptete in Die Wörter, er habe als Kind begriffen, dass das Leben eines Menschen vom Tode aus beurteilt werden würde. Er wollte Schriftsteller werden, also würde man sein Leben als das eines Schriftstellers beurteilen und jeden Schritt darin im diesem Licht beleuchten. Er sagte als Kind deshalb Dinge daher, die intelligent wirkten, aber nichts bedeuteten, um seine Familie und Bekannte zu beeindrucken, die im Nachhinein und in Erinnerung daran, ihn im Gedächtnis behielten mit er war immer schon zum Schriftsteller gemacht. Wann auch immer er diese Erkenntnis tatsächlich gehabt haben mag, sie ist korrekt. Wir interpretieren Taten und Worte im Lichte dessen, was danach kommt – oder besser: was danach gekommen ist. Er hat schon als Kind lieber Fußball gespielt als zur Schule zu gehen. Diesen Satz habe ich vor einer ganzen Weile im Radio gehört. Er trifft auf unglaublich viele Menschen zu, aber die angesprochene Person wurde Profi-Fußballer, also interpretiert man es anders: nicht als kindliche Spielerei, sondern als Vorbereitung auf ein größeres Ziel. Das Leben ist eine Geschichte ist ein Weg.

Diesen Satz könnt ihr kombinieren, wie ihr wollt. Da hier hauptsächlich Autor*innen lesen, sagen wir mal: Eine Geschichte ist ein Weg ist ein Leben. Es gibt für jede Figur und für den Plot an sich entscheidende Punkte, auf die alles hinarbeitet, damit am Ende ein anderer Zustand (und sei es ein geistiger) herrscht als am Anfang. In der Literatur muss die Illusion von Wegpunkten (oder die Illusion ihrer unerschütterlichen Wichtigkeit) bewahrt und genährt werden. Man muss sich auf einen Narrativ konzentrieren, der Taten und Gefühle erklärt und dabei nicht zu komplex ist, um ihn zu verstehen. Ein dargestelltes Leben darf nicht so kompliziert sein wie ein tatsächliches. Die unglaubliche Menge an Einflüssen, Gedanken, Wahrnehmungen eines einzelnen Menschen ist unmöglich in eine Geschichte zu fassen, weshalb wir den Großteil dessen ignorieren und unser Augenmerk auf das Entscheidende werfen. Wir riskieren dabei, die Motivation von Figuren zu flach erscheinen zu lassen oder die Wegpunkte zu kitschig zu gestalten. Über welche Plotpunkte definiert ihr euer Leben? Wirkten diese Punkte für eine Romanfigur glaubhaft, interessant, klischeehaft, kitschig, realistisch?

Ein Weg ist eine Geschichte ist ein Leben. Vielleicht stammt unsere Aufteilung in Sinnabschnitte und Wegpunkte ursprünglich von unserem Orientierungssinn in der Natur. Wir gehen einen Weg und erzählen uns die entscheidenden Stellen wie eine Geschichte. Denken wir kurz an die Aborigines, die jedem wichtigen (und vielleicht für uns unwichtig wirkenden) Punkt im Land eine Bedeutung zugewiesen haben innerhalb ihrer großen Erzählung: Dreaming. Stellt euch einmal vor, ihr bewegt euch jeden Tag in einem riesigen Netzwerk aus Geschichten, die zusammen eine Landkarte bilden und eine Ahnentafel und die gesamte Göttergeschichte und die Historie eures Volkes der letzten 40.000 Jahre. Wer die Geschichte kennt, verläuft sich in ihr nicht.

Vielleicht ist die ständige Suche nach neuen Geschichten und die Ausarbeitung bestehender nicht mehr als ein Versuch, Ordnung in einer Welt zu schaffen, in der man sich verlaufen hat.

Der Traum ist Teil der Realität

Über die Verbindung von Fantasie und Realität in unserer Wahrnehmung sowie der literarischen Umsetzung dieser Verbindung.

Im Laufe eines Tages sammeln sich fast unendlich viele kleine und große Erlebnisse, Gedanken und Bilder im Kopf an, die nachts verwertet werden. Die Träume bilden neue Erlebnisse und Bilder, die wiederum den nächsten Tag beeinflussen. Dadurch formt sich die Realität für jede*n anders.

Menschen haben Glaubenssysteme und Überzeugungen, durch die sie ihre Realität sortieren und bewerten, was diese Realität wiederum verändert. Es wird gefiltert und gefühlt und abgespeichert. Während die eine Person durch einen Supermarkt geht und in Gedanken schwelgt, konzentriert sich die nächste auf die großartige Auswahl, eine weitere auf die Gerüche und noch eine sieht überall eine Weltverschwörung, die durch Chemie in Lebensmitteln versucht, die Menschheit zu vergiften. Der gleiche Supermarktbesuch führt zu völlig unterschiedlichen Erlebnissen. Die Psyche eines Menschen und sein körperlicher Zustand beeinflussen maßgeblich, wie er die Welt wahrnimmt.

Es gab und gibt viele Versuche, diese Gegebenheit in der Literatur darzustellen. Im als „Bewusstseinsfluss“ bezeichneten Ansatz stellen Autor*innen parallel die Geschehnisse, die Gedanken der Figur und ihre Gefühle dar. Ohne klare Abtrennung werden diese Ebenen vermischt. Ein gutes Beispiel dafür wäre Tauben im Gras von Wolfgang Koeppen. Allerdings ist diese Technik nicht bloß schwer anzuwenden, sondern auch anstrengend für die Lesenden.

Der Magische Realismus wiederum verbindet Elemente aus Religion, Mythologie und Fantasie mit jenen der allgemein anerkannten Realität. Gleichberechtigt stehen sie nebeneinander. Diese Tradition hat meiner Meinung nach einen natürlichen und ungezwungenen Kern und Ursprung. Liest man beispielsweise Celtic Twilight von William Butler Yeats, eine Zusammenstellung von Mythen seiner Heimat Irland, die durch Gespräche mit Einheimischen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden ist, findet man in den Erklärungen und Erzählungen der Menschen bereits die Vermischung aus Glauben und Realität. Sie glauben noch fest an Teufel, Hexen, Kobolde, Feen und andere mythologische Figuren. Der Glaube führt so weit, dass sie im Nebel, im dunklen Wald oder in der Ferne diese Wesen sehen. Besondere Geschehnisse oder auch alltägliche werden durch das Vorhandensein einer kaum oder gar nicht sichtbaren zweiten Welt erklärt. Die Realität der Iren zu jener Zeit war magisch. Die Aussage, dass Magischer Realismus im Grunde Fantasy mit höflicherem Namen sei, wurde mehrfach getroffen. Was wir heutzutage allerdings zuallererst mit dem Fantasy-Genre verbinden, ist wohl etwas anderes. Die Parallelen sind jedoch gegeben.

Surrealismus ist im Kern gezwungener und bewusster. Die Grenzen zwischen „objektiver“ und subjektiver Realität werden verwischt, Träume dringen ins Leben ein, Drogentrips sind Teil der Geschehnisse. Es gibt einen relativ großen philosophischen Unterbau für den Surrealismus, der im Grunde besagt, was ich in der Einleitung geschrieben habe: die Gesamtheit unserer inneren und äußeren Eindrücke bildet die Realität. Ändert man diese Gesamtheit beziehungsweise Parts davon, verändert man die Realität. Das war der Auftrag des Surrealismus: eine neue Literatur/Kunst, eine neue Sprache und am Ende eine neue Realität zu schaffen.

Derart hochgesteckte Ziele habe ich nicht. Mir fehlt weitestgehend die Überzeugung dafür (aber nicht vollkommen). Dennoch vermische ich Welten und trudele irgendwo zwischen Magischem Realismus, Surrealismus und anderen Dingen (wie auch immer sie heißen mögen). Warum? Weil es sich richtig anfühlt. Meine Welt ist dunkel und bunt und voller Bilder, die in „Wirklichkeit“ nicht da sind, voller Assoziationen und Bezüge und Verbindungen. Denke ich an meine Werke, verbinde ich sie mit verschiedenen Farbschattierungen. Es wäre zu schade, würde ich nur darstellen, was ich mit den Augen sehen kann. Der große Reichtum steckt hinter den Augen.

Der Erfolgsgeheimnis des Menschen war immer sein Einfallsreichtum. Mit ihm sind wir an die Spitze jeder Nahrungskette gestiegen, aber haben auch so manches Ökosystem ruiniert, weil wir immer die Realität an uns und unsere Bedürfnisse anpassen. Wir können das gleiche in der Literatur schaffen: die Wahrnehmung der Lesenden ändern und damit die Welt – zum Guten oder zum Schlechten. Doch wer bin ich, dies zu bewerten? Ich zeige als Autor Möglichkeiten auf, andere ziehen Schlüsse.

Teil von etwas Größerem

Über das Gedicht “Alpha I” aus “Alte Milch” und Gedanken die Zugehörigkeit der Menschheit zu etwas Größerem betreffend.

Was bedeutet meine Liebe für die Menschheit?
Ist mein Hass gerechtfertigt
Als schmerzhafter Reiz?

Das ist ein Ausschnitt aus Alpha I, einem der philosophischeren Texte im Gedichtband Alte Milch.

Every living creature on earth dies alone.

Das flüstert Roberta Sparrow dem jungen Donnie Darko im gleichnamigen Film ins Ohr.

Lassen wir Gott für einen Moment aus dem Spiel. Was bleibt, wenn wir einen Plan, ein lenkendes Wesen, Schicksal, Himmel, Hölle, Wiedergeburtssysteme und Prädestination aus der Rechnung nehmen? Denn, seien wir mal ehrlich, wir glauben nicht mehr daran. Zuerst einmal werden wir auf uns selbst als Einzelwesen zurückgeworfen. Wir sind allein, eine abgekapselte Einheit umgeben durch Sinne gefilterter Endlosigkeit. Tatsächlich kann mir niemand beweisen, dass es außerhalb meines Geistes noch andere Dinge oder Wesen gibt. Das wusste schon Descartes. (Er allerdings brachte wieder Gott ins Spiel, um seine Probleme zu lösen.) Schopenhauer war weniger skeptisch und meinte bloß, man könne nur vor die Dinge schauen, nicht in sie hinein. Man müsse also von sich auf die Welt schließen. Ein interessanter Gedanke. Dummerweise hat Schopenhauer zu seiner Zeit auch noch nicht richtig in sich selbst schauen können und zeitigte der Ansatz schöne und falsche Ergebnisse.
Gehen wir davon aus, dass unsere Sinne uns nicht täuschen, ich kein Gehirn im Tank bin und auch kein bösartiger Dämon mich veräppelt. Neben unserem Dasein als Einzelwesen sind wir Gruppenwesen, programmiert Gemeinschaft zu suchen und uns an sie zu klammern. Man könnte eine Kette oder ein Netzwerk bilden: Ich – Familie – Freunde/Bekannte – Dorf/Stadt/Staat – Weltpopulation. Sehr grob gehalten. Versuchen wir es uns optisch vorzustellen: Ich bin ein Punkt im Dunkel. Familie und persönliche Kontakte sind weitere Punkte. Es gibt direkte Verbindungen zwischen diesen Punkten. Manche Menschen haben mehr Außenkontakt und leuchten stärker. Dorfgemeinschaft, Stadtpopulation, Staatsbürger ergeben viele weitere Punkte und zwischen allen weitere Verknüpfungen. Ausgedehnt auf die Weltpopulation ergibt das ein komplexes Netzwerk, in dem jede*r mit jedem indirekt verbunden ist. Addieren wir moderne Kommunikationsmittel (Internet usw.) hinzu, werden einerseits die Verbindungen verstärkt und andererseits neue geschaffen. Seht ihr es vor eurem inneren Auge? Ein riesiges, dichtes, leuchtendes Netzwerk aus Individuen.
Legen wir dieses leuchtende Netz um eine Kugel, die Erde, erhalten wir ein Bild, das einem Gehirnscan ähnelt. Jeder Punkt ist ein Mensch. Jeder Punkt ist eine feuernde Zelle im Hirn. Unaufhörliche Kommunikation zwischen Einzelzellen erzeugt Leben auf höherer Ebene und endlich Bewusstsein.
Es gibt die Theorie, dass die Menschheit oder die Natur auf der Erde auf höherer Ebene Bewusstsein erzeugt, wie eben der Zusammenschluss von Einzelwesen (zuerst zu Zellen und dann zu komplexeren Wesen) zu unserem Bewusstsein geführt hat. Was würde dies für uns bedeuten? Einerseits gäbe es unseren Handlungen Sinn. Jede unserer Handlungen wäre ein Signal im übergeordneten Bewusstsein. Entsprechend hätten meine Veröffentlichungen, besonders wenn sie gelesen werden, eine Bedeutung, die nicht abzusehen ist. Einige Zellen feuern und ein Gedanke, Gefühl oder eine Handlung entsteht.
Das für uns nicht überschaubare Netzwerk von gegenseitiger Beeinflussung, besonders wenn man die Natur noch mit ins System einschließt, käme komplexen Gedanken gleich. Dies bedeutet, dass unsere Handlungen ebenfalls Teil des Ganzen und damit sinnvoll und damit wiederum unabdingbar wären. Es würde bedeuten, dass wir ein winziges Blitzen im Geist von etwas Größerem wären, aber als solches notwendig. Wir sind nicht allein und unser Leben spielte eine Rolle.
Gehen wir noch weiter. Umweltzerstörung, technologische Entwicklung und Klimawandeln könnte innerhalb dieses Bedeutungsfeldes neu interpretiert werden. Entweder als eine Art von Weiterentwicklung, Evolution, für das übergeordnete Bewusstsein, oder als Krankheit, Tumor, in ebenjenem Bewusstsein. An dieser Stelle breche ich ab. Bereits die vorhergehende Argumentation ist schwierig bis unmöglich aus dem System heraus, in dem man steckt, reine Spielerei. Stellt euch vor, eine eurer Gehirnzellen versuchte zu interpretieren, was ihr seid. Als Teil des Systems kann man unmöglich das Gesamtsystem überblicken.
Aber worum geht es hier überhaupt? Es geht um Sinnsuche. Ich brauche Sinn, um existieren zu können. Gott taucht häufiger in meinen Texten auf, als es mir lieb ist. Aber ich glaube nicht. Gedankenspiele wie das in diesem Blogartikel oder im Gedicht Alpha I helfen mir, irgendeine Art von Glauben aufrechtzuerhalten, der mein Leben rechtfertigt. Eine Zusammenstellung verschiedener Argumentationen, aus denen ich je nach Stimmung auswählen kann, um weiterzumachen und den Mut nicht zu verlieren. Ich brauche das.
Vielleicht beantwortet das auch die Frage, warum manche Menschen sich überhaupt mit Philosophie beschäftigen. Hier habe ich allerdings nur für mich allein gesprochen.

Philosophie und Literatur

Während meines Studiums (Philosophie/Komparatistik) hatten viele Kommiliton*innen Philosophie gewählt, weil sie es als einfaches Zweitfach fürs Lehramt ansahen. Das zeigt ganz gut, welchen Status das Fach in den Augen der meisten heutzutage hat. Einige Disziplinen der Philosophie (Ethik, Politik usw.) bleiben aktuell, während andere (Metaphysik etc.) zugegebenermaßen weniger zeitgemäß sind. In diesem Beitrag möchte ich einige Argumente anführen für die Philosophie, besonders im Hinblick auf Autor*innen. Dabei wähle ich hauptsächlich Beispiele von Schopenhauer als Stellvertreter aller anderen Philosoph*innen.

Das allererste Argument, das man immer für die Philosophie finden und nennen kann, ist die Übung im Denken. Einerseits lernt man, neue Perspektiven einzunehmen und Probleme von allen Seiten zu betrachten. Geistige Flexibilität ist eine notwendige Voraussetzung, um philosophische Probleme anzugehen. Andererseits wird man geschult, strukturiert zu denken, Gedankengänge auseinanderzunehmen, Fehler aufzuspüren und die Gesetze der Logik anzuwenden. Warum das für absolut jeden und nicht für Schreibende gut ist, erklärt sich von selbst.

Das zweite Argument – hier kommen wir zu Schopenhauer – handelt vom Aufbau komplexer geistiger Bauten, die gesamte Welten (die gesamte Welt) umschließen können. Schopenhauers Hauptwerk ist Die Welt als Wille und Vorstellung, ein metaphysisches Werk. Der Duden definiert Metaphysik als philosophische Disziplin oder Lehre, die das hinter der sinnlich erfahrbaren, natürlichen Welt Liegende, die letzten Gründe und Zusammenhänge des Seins behandelt. Ganz ganz grob und knapp zusammengefasst bedeutet das bei Schopenhauer: Ich (mein Geist/Wille) bin von der Welt getrennt durch meinen Körper, erfahre sie nur über meine Sinne. Was hinter den Gegenständen, Tieren, Mitmenschen steckt, kann ich nicht wissen, sondern nur aus dem, was ich kenne (der eigene Geist/Wille), schließen, was dort ist. Er kommt zu dem Ergebnis, dass alles (Menschen, Tiere, Gegenstände, Welt) Ausprägungen oder Vorstellungen eines einzigen großen Willens sind, der sich dadurch selbst kennenlernt. (Nochmal: das ist wirklich sehr vergröbert; Schopenhauer braucht hunderte eng bedruckter Seiten für dieses Ergebnis.) Von diesem Punkt aus baut und begründet er die gesamte Welt und bespricht Kunst, Literatur, Musik und vieles Anderes.

Aus heutiger Sicht sind viele Bausteine seiner Argumentation weit überholt und seinen Ergebnissen wird sich kaum noch jemand anschließen, aber das Konstrukt ist überaus interessant. Hier kommen wir zum Nutzen für die Literatur. Schopenhauer nimmt einen einzigen Gedanken (ich kenne nur mich, alles andere ist im Grunde unbekannt) als Ausgangspunkt, um daraus einen riesigen Gedankenpalast zu bauen und Erklärungen für sämtliche existierenden Dinge zu finden. Erinnert dieses Vorgehen nicht an den Weg von einer Idee zur fertigen Geschichte? Denken wir beispielsweise an Tolkien. Bekanntermaßen erschuf er zuerst den gesamten mythologischen Hintergrund zu Lord of the Rings, bevor er auf dieser Basis die eigentliche Story schrieb. Ein analoger Vorgang. Wir lernen durch die Philosophie also einen strikten, disziplinierten und konstruktiven Weg zu gehen von einer einzigen Idee zu einer riesigen Welt.

Das dritte Argument ist simpel: auf dem eigentlich nüchternen Weg, den Philosophen einschlagen, findet sich Schönheit. Schopenhauer schrieb beispielsweise, dass Musik uns so sehr anspricht, weil sie ein anderer Weg des Willens ist, sich selbst zu erkennen. Mit anderen Worten, Musik ist unsere Welt in anderer Form. Hier zwei Zitate dazu:

Über Musik (Beethoven): […] die größte Verwirrung, welcher doch die vollkommenste Ordnung zum Grunde liegt, den heftigsten Kampf, der sich im nächsten Augenblick zur schönsten Eintracht gestaltet: es ist rerum concordia discors, ein treues und vollkommenes Abbild des Wesens der Welt, welche dahin rollt, im unübersehbaren Gewirre zahlloser Gestalten und durch stete Zerstörung sich selbst erhält. Und: Der Rhythmus ist in der Zeit was im Raume die Symmetrie ist, nämlich Theilung in gleiche und einander entsprechende Theile, und zwar zunächst in größere, welche wieder in kleinere, jenen untergeordnete, zerfallen.

Schönheit in den Worten und Gedanken anderer zu erkennen und zu lieben, ist eine Grundeigenschaft von Leser*innen und Autor*innen zugleich. Der Unterschied zwischen Literatur und Philosophie liegt hauptsächlich im Ausdruck: Literatur versteckt Erkenntnis hinter Schönheit, während die Philosophie Schönheit hinter Erkenntnis versteckt.

Am Ende füge ich noch einige Zitate von Schopenhauer an. Sie wurden allesamt in der ursprünglichen Schreibweise belassen:

Was dem Herzen widerstrebt, läßt der Kopf nicht ein.

Zwischen dem Thiere und der Außenwelt steht nichts: zwischen uns und dieser stehen aber immer noch unsere Gedanken über dieselbe, und machen oft uns ihr, oft sie uns unzugänglich.

Wort und Sprache sind also das unentbehrliche Mittel zum deutlichen Denken.

Der Denker soll sie [Irrtümer] angreifen; wenn auch die Menschheit, gleich einem Kranken, dessen Geschwür der Arzt berührt, laut dabei aufschrie.

Der Geist ist seiner Natur nach ein Freier, kein Fröhnling

Daher je mehr ein Mensch des ganzen Ernstes fähig ist, desto herzlicher kann er lachen. Menschen, deren Lachen stets affektirt und gezwungen herauskommt, sind intellektuell und moralisch von leichtem Gehalt

Ohne die Schule der Alten wird eure Literatur in gemeines Geschwätze und platte Philisterei ausarten.

das Ich ist eine unbekannte Größe, d.h. sich selber ein Geheimniß

[…] daß die Qualität des Wissens wichtiger ist, als die Quantität desselben. Diese ertheilt den Büchern bloß Dicke, jene Gründlichkeit und zugleich Stil: denn sie ist eine intensive Größe, während die andere eine bloß extensive ist.

Wie in Zimmern der Grad der Helle verschieden ist, so in den Köpfen. […] Man werfe das Buch weg, bei dem man merkt, daß man in eine dunklere Region geräth, als die eigene ist; es sei denn, daß man bloß Thatsachen, nicht Gedanken aus ihm zu empfangen habe.

Denn der Intellekt ist ein differenzirendes, mithin trennendes Princip: seine verschiedenen Abstufungen geben, noch viel mehr als die der bloßen Bildung, Jedem andere Begriffe, in Folge deren gewissermaaßen Jeder in einer andern Welt lebt, in welcher er nur dem Gleichgestellten unmittelbar begegnet, den Uebrigen aber bloß aus der Ferne zurufen und sich ihnen verständlich zu machen suchen kann.

Je niedriger ein Mensch in intellektueller Hinsicht steht, desto weniger Räthselhaftes hat für ihn das Daseyn selbst: ihm scheint vielmehr sich Alles, wie es ist, und daß es sei, von selbst zu verstehen.

An der Grenze der Öffentlichkeit

Wie viel Öffentlichkeit, wie viel öffentliche Privatheit, veröffentlichtes Privatleben kann ein Autor ertragen, wie viel sollte er zulassen, um sein Werk zu verbreiten?

Wie viel Öffentlichkeit, wie viel öffentliche Privatheit, veröffentlichtes Privatleben kann ein Autor ertragen, wie viel sollte er zulassen, um sein Werk zu verbreiten?

Für das, was der Autor innerhalb seiner Werke, also indirekt, scheinbar versteckt, an die Weltöffentlichkeit trägt, gibt es meiner Meinung nach keine Grenzen. Schreiben ist Ausdruck. Ausgedrückt wird, was für den Schreibenden von Bedeutung ist. Bedeutung hat meist genau das, was andere verschweigen würden.
Es ist kein Geheimnis, dass man aus meinen Texten vieles über mich erfahren kann, wenn auch nicht alles und nicht vollständig. Das ist keineswegs ein Zugeständnis oder eine Erklärung, dass meine Literatur autobiographisch sei, denn das ist sie üblicherweise nicht.

Die Frage, um die es sich für mich dreht, ist, ob ein Autor – ob ich – sein Privatleben, seine Vergangenheit und Gegenwart offen an die Welt tragen oder sich lieber vollends hinter seinem Werk verstecken sollte. Diese Sätze stehen in einem Blog und dieser handelt von den Hintergründen meines Schreibens. Verlinkt sind ein Twitter- und ein Instagram-Account. Entsprechend kann ich nicht für völlige Abkapselung sein, oder?
Nun, ich muss gestehen, gäbe es für mich die Möglichkeit, Bücher zu veröffentlichen, ohne dass ich dabei als Person – vom Namen abgesehen – auftauchte, wäre das der Weg, den ich wählte. Doch dieser Weg steht mir nicht offen.
Allerdings, auch das muss ich zugeben, erzähle ich gerne von mir, meinen Ideen, meinen Texten. Da stehe ich sicherlich nicht allein mit. Sehr gerne lese ich Bücher, gedruckte Vorlesungen, autobiographische Texte oder Essays von Autoren, die im Grunde das gleiche tun, was ich in diesem Blog tue, nur für Geld und mit größerer Resonanz.

Diese Form des Nachaußenkehrens des Inneren ist noch immer stark auf die Arbeit als Schriftsteller bezogen. Sie hilft dabei, die Lektüre besser zu verstehen, da sie einen Hintergrund bietet und zeigt, worauf grundsätzlich zu achten ist.
Worum es mir jedoch geht, ist eine andere Form des öffentlich Privaten. Beispielsweise teile ich im Rahmen meiner Online-Projekte keine vollständigen Bildaufnahmen von mir – nur in einem Video sieht man mich von der Seite, in einem anderen mit Maske. Sollte ich das ändern? Man sagt mir, ich sähe nicht schlecht aus. Möglicherweise könnte ich meine Reichweite erhöhen, indem ich meinen trainierten Körper bei Instagram zeige, mir ein Gedicht spiegelverkehrt auf die Bauchmuskeln pinsele oder eine Erzählung auf den Bizeps. Für letztere Aktion fehlt mir vermutlich die Fläche.
Mein Gesicht und mein Körper existieren losgelöst von meinen Texten. Es gibt keinerlei direkte Verbindung zwischen ihnen. Schriebe ich über Sportler und Workouts, ergäben derartige Veröffentlichungen Sinn, doch bloß meine Finger tippen diese Texte. Dies scheint der einzige Berührungspunkt zu sein.

Erinnerungen, Erlebtes, im Geist Verarbeitetes und das daraus zurechtgesponnene Material formt sich zu Erzählungen und Gedichten. Grundlage des Erlebten kann – und ist häufig – etwas körperlich Erfahrenes sein: Rausch, Schmerz, Sex, Krankheit. Doch nach der direkten Erfahrung gehören diese ursprünglich körperlichen Dinge dem Geist an. Dem Körper bleiben die Narben und das Unwohlsein.
Im Grunde geht es also um geistige Privatheit, um persönlichste Erinnerungen und mit Scham behaftete Aspekte des inneren – oder inzwischen verinnerlichten – Lebens. Erkläre ich öffentlich, ich sei … ? Twittere ich: Fragt einen … alles?
Interessant wäre es vermutlich. Hilfreich übrigens auch. Hilfreich zum Verständnis meiner Arbeiten, möglicherweise hilfreich für mich aus therapeutischer Sicht und eventuell sogar für andere, die sich weniger allein fühlen mit ihrer Problematik.

Klingen diese verschleiernden Zeilen zu geheimnisvoll oder kryptisch? Sie verstecken keinen Horror, sondern einfach Persönliches. Informationen, die man aus manchen meiner Texte herauslesen kann. Die offensichtlichsten Texte, was diese Thematik angeht, habe ich allerdings noch nicht hochgeladen, fällt mir soeben ein. Es bleibt also ein Mysterium.

Menschen sehen heutzutage gern, dass ein Autor – oder Schauspieler, Politiker, Sportler – auch bloß ein Mensch ist. Warum sie das gerne sehen, weiß ich nicht. Es ergibt für mich keinen Sinn. Ein Autor ist sein Werk und seine Gedanken zum Werk und nötigenfalls noch die Geschichte, die zu Gedanken und Werk führte. Für die Öffentlichkeit sind Autor und Person zwei verschiedene Dinge. Dies gilt natürlich für jede Aufspaltung zwischen öffentlicher und privater Person, nur ist ein Autor in seiner Eigenschaft als Autorenperson öffentlicher und damit weiter entfernt von seiner Rolle als Privatmensch. Ein Zurschaustellen der Privatheit, der Privatmenschlichkeit, schmälert lediglich die Trennung, hebt sie jedoch nicht auf.

Beantwortet das meine Frage? Fürs Erste. Möglicherweise.
Wer mich kennenlernen möchte, sollte mich eben kennenlernen und nicht auf Posts im Schlafanzug, Tweets aus der Badewanne oder Instagrambilder beim Workout warten.
Dann jedoch werde ich nicht der Autor M.Thurau sein, sondern der Mensch Matthias T.

Wie ich gern schriebe

Hier kommen wir an einen Knackpunkt im Leben eines Autoren. Zwar hat jeder eine eigene, natürliche Erzählstimme, aber eben auch Vorbilder, Wünsche, Ziele und viel zu viele Vergleichsmöglichkeiten.

Hier kommen wir an einen Knackpunkt im Leben eines Autoren. Zwar hat jeder eine eigene, natürliche Erzählstimme, aber eben auch Vorbilder, Wünsche, Ziele und viel zu viele Vergleichsmöglichkeiten. Eine Anpassung beider Richtungen – der natürlichen Eigenart und dem angestrebten Stil – aneinander ist ein stetiger Entwicklungsprozess.

Hermann Burger hat seinen Stil an seinen Vorbildern geübt, indem er große Teile von Texten seiner Lieblingsautoren, ganze Absätze oder Seiten aus Romanen, abschrieb, um dann den Satzbau, quasi das Skelett, mit seinen eigenen Worten wieder zu füllen. So hoffte er sich etwas von dem anzueignen, was er an anderen bewunderte.
Selbstverständlich ist das eine Menge Arbeit und bisher habe ich mir nie die Mühe gemacht, es auch auszuprobieren. Jedoch stellte ich wieder und wieder fest, dass das Lesen fremder Texte allein bereits eine gute Schule für Stil und Aufbau ist, weswegen gute Autoren viel lesen sollten. Das ist eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen, doch stolperte ich im Internet auch über Schreiber, die öffentlich in die Runde fragten, ob man eben auch lesen müsse, um Autor zu sein.
Man sollte. Außerdem erscheint mir das Konzept eines nicht leseverliebten Autoren widersprüchlich. Ich erinnere an Jorge Luis Borges, der sagte, dass die Idee einer Pflichtlektüre absurd sei und man genausogut von Pflichtglück sprechen könne.

Es gibt ein paar für mich bedeutsame Namen in der Welt der Literatur, der Literaturwelt oder Weltliteratur, deren Werke stellvertretend sind für das, was ich gern produzieren würde oder bereits produziere, produziert habe.
Die philosophischen Konstrukte, die die Grundlage bilden für das Werk von Jorge Luis Borges, sprechen Seiten in mir an, die mich die Welt mit Vernunft und intellektueller Neugierde betrachten lassen, aber auch nicht ohne einen gewissen Humor. Allerdings wäre mir sein Schreibstil grundsätzlich zu trocken, zu wenig emotional, was ja thematisch stimmig sein mag und mich nicht vom Lesen abhält, aber meinem Wesen und damit meinen Themen widerspricht. Versucht habe ich mich dennoch in dieser Art zu schreiben; mit mäßigem Erfolg.
Daniel Kehlmann wurde offensichtlich – und, wenn ich mich recht an seine Essays und Vorlesungen erinnere, auch ausdrücklich – ebenfalls von Borges inspiriert. Daraus entstanden, wie ich vermute, unter anderem die Realitätsverschiebungen in seinen Büchern, die mir immer am meisten gefallen haben. Mein Versuch eines Borges-Romans – was historisch betrachtet wiederum paradox ist – war entsprechend auch ein Kehlmann-Roman. Ein interessantes Experiment, das ein interessantes Ergebnis zutage förderte, aber leider keines der Veröffentlichung würdiges.
Dennoch habe ich Elemente des Experiments in einem weiteren Roman verwendet, einer Vermischung realer und irrealer Ebenen, die ein beinahe surreales Ganzes geschaffen haben. Dieses meiner Meinung nach gelungene Werk werde ich in den nächsten Monaten schwer überarbeiten und nächstes Jahr veröffentlichen.

Rein stilistisch, also losgelöst vom Inhalt, schriebe ich (manchmal) gern wie Hermann Burger und verfalle auch immer mal wieder in den entsprechenden Modus, wenn auch laienhaft im Vergleich zum Original. Eine Kopie kann aber wiederum auch nicht das Ziel sein. Für eine solche Kopie oder eine entsprechend große Annäherung bin ich auch einfach zu faul, da die schiere Menge an Arbeit und Konzentration, nötig für diesen Schreibstil, erschlagend ist.
Um mal ein kleines Beispiel zu nennen, hier ein (für Burgers Verhältnisse kurzer) Satz, der Anfang der Erzählung Kohlhaas auf der Dampfwalze, den ich als besonders schön empfinde:
Ein Dampfwalzenführer, so sein Anwalt, und dies kommt bereits der Brechung des Amtsgeheimnisses gleich, was wir angesichts der Extraordinarität des Falles riskieren müssen, verlor, da er kurz vor Feierabend entsetzlich, aber rechtschaffen niesen musste, seine künstlichen Zähne, dergestalt, dass er die Prothese unmittelbar vor die Vordertrommel spuckte und, sintemal der Bremsweg ohnehin zu lang gewesen wäre, mit seiner vierzehn Tonnen schweren Rammbull, dieselgetrieben, zermalmte.
Vermutlich ist das für manche unerträglich zu lesen, aber unbezweifelbar hervorragend formuliert.

Nun wird es schwierig.
Ein ganz anderer Bereich der Literatur mischt sich ein, der mir aufgrund meiner Lebensgeschichte, all der Dinge, die mir zustießen und die ich mir selbst antat, die ich er- und durchlebte, ausgesprochen zusagt. Die Namen Hunter S. Thompson und Irvine Welsh fallen mir ein, wobei Hans Fallada, Louis-Ferdinand Céline und Henry Miller wenigstens zum Teil in die gleiche oder eine ähnliche Kerbe schlugen.
Wie verbindet man nun, sofern man das denn wollte, akstrakt-philosophische Ideen, Spielchen mit verwischter Realität, Schachtelsatz- und Fremdwortmassaker mit dem tiefsten Elend aus Alkohol, Drogen, Depression und Wut?
Thompson machte immer deutlich, dass seine Einblicke in andere Realitäten klar durch Drogen verursacht wurden – diese offensichtlich zu vereinbarende Kombination findet sich bei Kehlmann übrigens auch, ich glaube, im Roman F.
Miller schrieb surreal, wie er sich durch Paris vögelte und hungerte.
Céline war einfach furchtbar wütend, jedoch nicht stillos.
Fallada – in Der Trinker – beschreibt ungeschönt das tiefste Elend, was Welsh mit etwas Humor ebenfalls tut.
Dreckige Gefühlswelten, Elend und Leid vertragen sich kaum mit Sprachspielereien, sondern erfordern Derb- und Direktheit.

Nebenbei liebe ich übrigens die Albtraumwelten von Franz Kafka. Passen die auch noch rein?

Vielleicht ist das Vorhaben zu groß, weil zu vollgestopft, zu überfüllt mit Widersprüchen. In meinen kürzeren Erzählungen findet man mal das eine und mal das andere Puzzlestück, üblicherweise überschneidend.
Bedenke ich es richtig, sind allerdings sämtliche erwähnten Elemente in jenem Roman – ich suche noch immer einen passenden Titel – enthalten, den ich, wie oben erwähnt, überarbeiten und herausbringen werde. Zu Beginn dieses Eintrags war mir dies noch nicht bewusst.
Das macht mich gerade durchaus stolz, doch zwingt mir die Befürchtung auf, einige wichtige Bestandteile – ich denke da besonders an Suff und Elend – könnten zu kurz gekommen sein. Eine wichtige Notiz für die Überarbeitung.

Noch suche ich meine wahre Stimme. Vermutlich werde ich das den Rest meines Lebens tun.

Da ich es bisher nicht eindeutig erwähnt habe, stelle ich an dieser Stelle nachträglich fest, dass ich in diesem Artikel einzig von meiner Prosa spreche, meine Lyrik also vorerst ausschließe aus diesem Gedankengang. Innerhalb der Lyrik stehe ich recht sicher, entwickele mich zwar immer weiter, doch suche nicht mehr aktiv, zweifle nicht mehr ständig, bin also unterwegs und angekommen – oder auch andersherum.

Ein weiterer Punkt, der letzte, der noch nicht erwähnt wurde, da er für mich offenbar zweitrangig zu sein scheint, wäre die Leserschaft und ihre Vorlieben. Es ist mir bewusst, dass ein zu komplexer Stil, zu wirre oder intellektuelle Ideen, vielleicht sogar zu ehrliches Elend – denn das wahre Elend ist immer weniger leicht zu ertragen und härter als ein künstliches, unpersönliches; man vergleiche einen abstürzenden Junky bei Welsh mit den kreischenden Massen bei Marvel – eine Menge Leser eher abschrecken. Doch verlangt meine Integrität und meine Arroganz, wenn es denn welche ist, wenigstens aber mein Stolz, meinen eigenen Weg ohne Rücksicht auf mögliche Verkaufszahlen und die Vorlieben einer Leserschaft, die eben einfach nicht die meine sein kann, zu gehen. Dieser Punkt ist also abgehakt.

Fehlen nur noch die Haken hinter allen anderen Punkten.