Erschütterungen. Dann Stille.: Eindrücke eines Sterbenden

Über die Erzählung “Eindrücke eines Sterbenden” aus “Erschütterungen. Dann Stille.”

Content Notes: Sex, Genitalien, Liebe, Traurigkeit

Liebe ist kompliziert. Insbesondere gilt das, wenn sämtliche Gefühlswelten von Schmerz kontaminiert sind. Im Folgenden geht es um die Kurzgeschichte Eindrücke eines Sterbenden aus Erschütterungen. Dann Stille.. Spoiler werden nicht zu vermeiden sein.

Kalte Genitalien

Sexszenen kommen in meinen Geschichten selten vor. Noch seltener werden explizite Details benannt. In Eindrücke eines Sterbenden ist das anders. Gleichzeitig ist diese Kurzgeschichte fernab von Erotik, genau so wie sie nicht unter das Genre Romance fällt, nur weil es um Liebe geht.

Vielmehr ist die explizite Beschreibung sexueller Handlungen in diesem Fall ein bewusster Kontrast zur scheinbaren emotionalen Kälte oder der Unmöglichkeit des Ich-Erzählers mit seinen Gefühlen umzugehen. Hermann Burger hat einmal gesagt, dass nicht nur große Entfernung Dinge schlecht sichtbar mache, sondern auch große Nähe. Zoomt man zu nah heran, erkennt man auch die bekanntesten Gegenstände nicht mehr. Man könnte behaupten, dass die explizite Sexualität große Nähe mit sich bringt, weil man Intimität damit verbindet. Doch wirkt die Sexualität in Eindrücke eines Sterbenden kalt und lieblos. Die Liebe ist trotz großer Nähe (anfangs) nicht zu erkennen.

Sehnsucht und Unerträglichkeit

Tatsächlich kommt die Liebe, die emotionale Nähe, erst auf, als der Ich-Erzähler die körperliche Entfernung vergrößert. Beide vermissen einander. Sie freuen sich, voneinander zu hören. Sind sie beisammen, ertragen sie sich kaum.

Nicht nur aus der Liebe kennen vermutlich viele das Gefühl. Man sehnt sich nach Menschen, aber erträgt sie kaum. Man wünscht sich Partys, aber möchte nicht hin, wenn sie stattfinden, oder man geht hin, aber möchte schnell wieder nach Hause. Um diese Widersprüchlichkeit geht es mir in Eindrücke eines Sterbenden.

Keine versteckten Details

Eine Besonderheit von Eindrücke eines Sterbenden ist aus meiner Sicht die Nähe zum echten Leben. Der Fokus liegt auf Gefühlen. Üblicherweise verbaue ich viele Details und Hinweise, arbeite mit mehreren Ebenen und nutze manchmal eine Geschichte nur als Rahmen, um eine Botschaft unterbringen oder ein Spiel spielen zu können. Das ist hier nicht der Fall.

Das befreit meine Leser*innen natürlich nicht von ihren Gedanken zum Text und es bedeutet auch nicht, dass die Geschichte weniger Tiefe besitzt. Die Tiefe ist bloß woanders verortet, würde ich behaupten. Statt in geistigen Gewässern zu fischen, muss man in emotionalen stochern. Und diese sind selten weniger tief.

Mögliche Inspiration

Vor ungefähr 19 Jahren habe ich ein Comic online entdeckt. Es war in Grautönen gehalten. Leider habe ich den Titel und den Namen der/des Urheber*in vergessen. Aber damals war ich fasziniert davon. In meiner Unerfahrenheit hielt ich die Darstellung von Liebe im Comic für die einzig wahre.

Das Paar streitet sich und sie verletzt ihn sogar körperlich. Doch beide lieben einander. Am Ende springt sie vom Balkon und er springt hinterher. All or nothing – that’s love. Zum Glück haben sich nicht all meine Beziehungen an diesem Muster orientiert, wenn auch manche verdammt nah dran waren.

Eine ähnlich chaotische und zerstörerische Beziehung führen die beiden in Eindrücke eines Sterbenden. Vielleicht stecken noch ganz alte Spuren des Comics in der Geschichte, vielleicht sind es eher Spuren der Beziehungen, die dem Comic ähnlich waren, und vielleicht war ich einfach traurig und mein Hirn erfand diesen Weg, um das Gefühl loszuwerden. Letzten Endes ist die Suche nach dem tiefsten Grund der Entstehung einer Geschichte müßig. In der Ursuppe unserer Gehirne brodelt zu vieles durcheinander, als dass man eindeutige Ursachen ausmachen könnte. Und doch ist es faszinierend, gelegentlich hineinzugreifen und zu schauen, was man herausfischen kann.