Es gibt Songs, die jede*r in einer bestimmten Musikszene kennt und die kaum jemand nicht liebt. Absoluter Kult, Teil der Grundbildung jeder Person, die sich zugehörig fühlt. Dopesmoker ist ein ein solcher Song für die Stoner-Szene.
Mit beinahe 65 Minuten Länge ist Dopesmoker der längste Song, den ich kenne. Das komplette Album besteht nur aus diesem einen Song und es wird niemals langweilig. Nach einem Intro von etwa 8 Minuten und 30 Sekunden setzt der Gesang ein:
Drop out of life with bong in hand
Follow the smoke toward the riff-filled land
… und jede*r weiß Bescheid. Doch da ist mehr. Über das grandiose, sich endlos wiederholende und variierende Riff, das durchgehend fesselt und von mehreren Soli ergänzt wird, möchte ich gar nicht mal sprechen. Natürlich ist es das Herzstück des Songs. Aber es gibt viele gute Stoner-Songs mit guten Riffs. Was den meisten Liedern dieser Szene fehlt, sind gute Lyrics. Dopesmoker beweist den meiner Meinung nach kreativsten Umgang mit der Thematik des Kiffens überhaupt. Schauen wir mal rein.
Erzählt wird die Geschichte einer Karawane durch die Wüste nach Jerusalem. Sie folgen einer Prophezeiung. Die Karawane besteht aus Priestern, Stoner-Priestern, die den Samen aus dem Garten Eden – Cannabis – in die heilige Stadt transportieren. Das ist also der Aufbau: Ultimative Stonedheit in einem rituellen, kultischen, religiösen Rahmen. Mein liebster Teil davon sind die vielen Bezeichnungen für die Priester. Sie sind Weedians, Lungsmen, Weed-priests, Smoke-covenant, Herbsmen und mein absoluter Favorit: Marijuanaut. Dieses Wort wurde Jahre später, 2018, Titel eines Songs auf dem Album The Sciences, das eine würdigen Rückkehr der Band nach 15 Jahren Pause darstellt. Dopesmoker ist nämlich schon von 2003, ist allerdings eigentlich eine Überarbeitung des Songs/Albums Jerusalem von 1999.
Die Umgebung der Wüste wird mehrmals als sandsea oder sandscape besungen, was mir immer einen lebendigen Eindruck von Dünen und endlosem Sand vermittelt und mich außerdem entfernt an den Wüstenplaneten aus Dune erinnert (man könnte sogar das „Spice“ mit etwas gutem Willen mit Weed gleichsetzen, weil es eine Droge ist und lange Weltraumflüge erlaubt). Andere Assoziationen meinerseits wären noch Tatooine, obwohl Star Wars eine zu brave Optik hat für den Song, und die Priester und Technokraten aus der Warhammer 40k-Welt. Berühmt und passend ist die Darstellung der Karawane von Mönchskutten tragenden Steampunk-Weed-Priests mit Kiff-Rucksack auf dem Cover des Albums – nicht in allen Auflagen –, die gut wiedergibt, was ich ohnehin im Kopf habe beim Hören.
Unterstützt wird die Wirkung der Musik und des Textes durch den grandiosen, lang gezogenen Vortrag von Al Cisneros, den manche vielleicht eher vom Projekt Om kennen. Wie ein Priester in einer okkulten Messe streckt er fast jeden Vokal und zerstückelt die Einheit der Sätze unnatürlich in passende, neue Einheiten. Der Effekt ist genial. Man spürt zugleich das Wandern der Karawane und das Zurücklassen der irdischen Dinge durch die zugedröhnten Pilger, während man sich in ein quasi-religiöses, meditatives Gefühl hineinsteigern kann. Die Pilgerfahrt der heiligen Stoner kann losgehen. Zugegebenermaßen bekomme ich immer Lust auf einen fetten Joint bei diesem Song (ich war niemals ein Freund von Bongs).
Wenn wir schon über Sleep sprechen und bereits Om erwähnt haben, müssen wir natürlich noch auf Matt Pike (Gitarrist bei Sleep) und seine Band High on Fire hinweisen. Vielleicht schreibe ich irgendwann mal einen Artikel über High on Fire, aber hier sei erst einmal der Hinweis ausreichend, dass man unbedingt reinhören sollte. Der Sound der Band erinnerte mich immer an eine sich kraftvoll drehende Turbine oder das riesige Rad einer Dampflok. Die Riffs drehen sich weiter und weiter und es geht stets voran. Live sind sie übrigens auch absolut geil.
Von langen und ultralangen Songs kann man halten, was man will. Mir können sie auf die Nerven gehen, obwohl ich manche von ihnen sehr mag. Was ich aber liebe, ist die Tatsache, dass kleinere Musikszenen wie die Stoner-/Doom-/Sludge-Szene – Fans wie Labels – Künstler*innen die Freiheit erlauben, sich auszutoben, solange die Qualität stimmt. Kein Pop-Label würde ein 65-minütiges Album, das nur aus einem Song besteht, veröffentlichen. Viel zu unsicher. In kleineren Szenen bekommt man das Gefühl, dass alle Beteiligten aus Liebe zur Musik dabei sind, auch wenn die Realität anders aussehen mag. Musiker*innen (genau wie andere Künstler*innen) sollten immer so frei und unbekümmert an ihre Arbeit herangehen (können), wie Sleep es im Falle von Dopesmoker getan haben: Einfach mal ein Jahr lang an einem einzigen, ungewöhnlich und unbequem langen Song über bekiffte Kleriker in der Wüste arbeiten und dabei das vermutlich epischste Stoner-Werk aller Zeiten zu erschaffen, herrlich! Follow the smoke toward the riff-filled land!