Es gibt etliche Multiversentheorien und ich spreche jetzt nicht von Marvel und co., sondern von theoretischer Physik – auch wenn sie zugegebenermaßen manchmal eher nach Philosophie klingen. Einer meiner liebsten Ansätze ist recht simpel. Setzt man ein unendliches Universum voraus, das eine endliche Menge an Material (Atomen und Kombinationsmöglichkeiten) beinhaltet, tritt irgendwann erstens Wiederholung ein und zweitens jede physikalisch mögliche Variation einer Gegebenheit. Das bedeutet, dass es in einem räumlich unendlichen Universum unendlich viele Erden gibt, auf denen das Gleiche geschehen ist und geschieht wie auf unserer, aber auch, dass es jede andere Variante von ihr gibt. Danach wäre es möglich, dass es jede Version meines Lebens irgendwo verwirklicht gibt. Jede Horrorvorstellung, jede Abart und jeder umsetzbare Traum ist verwirklicht, und natürlich gibt es auch unendlich viele Welten, in denen ich nicht existiere, gestorben bin oder niemals geboren worden bin.
Auf die Wichtigkeit oder Unwichtigkeit meiner Existenz hier und jetzt als Konsequenz dieser Überlegung will ich nicht eingehen, obwohl sie interessant ist und eine ähnliche Verschiebung in der Bestimmung des eigenen Platzes im Kosmos bedeutet wie die kopernikanische Wende. Es soll im weitesten Sinne um Literatur gehen, wie es ja eigentlich immer um Literatur geht, wenn ich denke oder handle.
Fehlen mir einmal Ideen für Figuren oder Plots, denke ich an Multiversentheorien. Wie wäre ich gern? Wie hätte ich enden können? Was wäre passiert, wenn Gegebenheit XY anders gewesen wäre? Was würden Reichtum, Armut, ein anderes Glaubens- oder Staatssystem aus mir machen? Was hätte anders laufen müssen, damit dieses und jenes eingetreten wäre? Nicht nur findet man interessante Ideen auf diese Weise, sondern auch einen gewissen Fokus auf die Werte, die einem wichtig sind, selbst wenn sie einem zuvor nicht bewusst gewesen sein mögen. Wie bewerte ich eine alternative Existenz? Wäre ich gern der Firmenboss, der Soldat oder Propagandaminister, der ich auf anderen Erden bin? Und dann geht es weiter. Was wäre nötig, um mich zu korrumpieren? Wie schnell würde ich meine Ideale eintauschen gegen Sicherheit oder Reichtum? Bin ich vielleicht näher an einer anderen Version von mir, als mir lieb ist?
Auch wenn jeder meiner Texte fiktiv ist, stammen doch auch alle von mir, kommen aus mir und drehen sich im Kern um mich. Niemand sonst könnte diese Texte auf diese Weise schreiben. Daher sehe ich es als wichtige Aufgabe von Autor*innen an, sich selbst und das eigene Leben zu reflektieren. Man sollte jedoch vorsichtig sein, das eigene Leben zu bewerten und sich möglicherweise zu verurteilen. Es geht nicht um Selbstverbesserung. Viel wichtiger wäre in dem Zusammenhang die Frage, warum wir unser Dasein auf eine bestimmte Weise bewerten. Stammt die Beurteilung aus einer wohlüberlegten Ethik oder übernehmen wir bloß die Ethik der anderen? Was halten wir vom Ergebnis? Selbsterforschung ist immer auch die Erforschung der anderen und umgekehrt.
Alle Literatur beginnt mit einem Was wäre wenn? und fährt fort mit einem ständigen Frage-und-Antwort-Spiel, das wir mit uns selbst ausmachen. Am Ende steht eine Geschichte, die von Dingen handelt, die in Wirklichkeit nicht geschehen und die dennoch aus der Wirklichkeit kommen und auf die Wirklichkeit wirken. Damit ist das Nachdenken über den Ist-, den Soll- und den Nicht-Soll-Zustand der Welt (auch und gerade im persönlichen Bereich) Grundlage des Schreibens. Je weniger ausgeprägt die Fähigkeit zur Selbstreflexion ist, desto flacher das literarische Ergebnis, könnte man schlussfolgern. Auch das wäre nur eine Theorie und ich muss mich fragen, ob es eine logische Schlussfolgerung oder versteckte Selbstbeweihräucherung ist, und natürlich auch, ob meine Reflexionsfähigkeit so ausgeprägt ist, wie ich glaube.
Mit einer Multiversentheorie habe ich den Text begonnen und ich möchte mit einer ganz anderen enden. Gehen wir von der realistischen Möglichkeit aus, dass eine intelligente Spezies die Technologie entwickelt hat, ganze Welten zu simulieren, in denen Wesen (z.B. Menschen) existieren, die sich für real halten – simulierte Intelligenz also. Eine logische Weiterentwicklung der Technologie wäre, dass sie zugänglicher würde, also wie ein Computerspiel zur Verfügung stünde. Dann könnten viele Wesen viele Simulationen erschaffen. Wir hätten also extrem viele simulierte Welten. Würde man nun eine Bestandsaufnahme der simulierten und realen Wesen machen, die sich alle für reale Personen halten, käme man logischerweise zu der Erkenntnis, dass es weit mehr simulierte Personen gäbe als tatsächlich und ursprünglich reale. Statistisch gesehen wäre es demnach wahrscheinlicher, dass wir in einer Simulation leben als im ursprünglich realen Universum.
Ein undurchdachter Einwand wäre: „Aber Menschen könnten diese Welten nicht erschaffen, weil wir diese Technologie noch nicht haben.“ Im Rahmen dieser Simulationstheorie könnten wir nicht wissen, was bereits entwickelt worden ist, oder auch nur, welches Jahr wir tatsächlich haben, sofern wir in einer solchen Simulation existieren würden.
Auch diese Theorie ändert in praktischer Hinsicht nicht das Geringste an unserem Leben, aber ist es nicht trotzdem furchtbar interessant? Vielleicht leben wir in einer Version von Sims, an die sich irgendein Alienkind setzt, wenn es eigentlich Hausaufgaben machen sollte.