Erschütterungen. Dann Stille.: Der Spinner

Über “Der Spinner” in “Erschütterungen. Dann Stille.”

Die meisten Autor*innen veröffentlichen nicht direkt ihr erstes Manuskript. Ich auch nicht. Sorck war bei mir Manuskript Nr. 3. Zuvor hatte ich bereits Der König der Maulwürfe und Schildbürger geschrieben. Aus Schildbürger ist schließlich Der Spinner in Erschütterungen. Dann Stille. geworden, also eine kurze Erzählung. Wie ist es dazu gekommen? Dieser Blogeintrag wird es ein Stück weit erklären. Ohne Spoiler ist das unmöglich. Lest also zuerst die Geschichte und dann den Blogeintrag!

Von der Überheblichkeit des Anfängers

Mein erstes Romanmanuskript habe ich ohne Planung geschrieben. Ich weiß, manch eine*r kann das. Ich nicht. Es hat nicht ausschließlich daran gelegen, dass 80% des Manuskripts unter Alkoholeinfluss entstanden sind, dass das Ergebnis zu nah an mir als Person liegt. Grundsätzlich tendiere ich dazu, autobiographisch(er) zu werden, je weniger Planung vorliegt und je länger der Text wird. Der König der Maulwürfe ist ein persönliches Auskotzen mit einigen Kunstelementen und ohne viel Struktur geworden. Immer Nr. 1, aber niemals veröffentlichungswürdig.

Während des Verfassens des zweiten Manuskripts habe ich gerade hochmotiviert die Vorlesungen und Kurse des ersten und zweiten Semesters Komparatistik/Philosophie absolviert. Die meisten Ideen habe ich in der S-Bahn zwischen Bochum und Dortmund entwickelt, wenn ich nicht gerade gelesen habe. Ich vermisse diese Zeit.

Ein dreischichtiger Aufbau, der sich dem Verfasser (mir), der sich wiederum selbst als Kunstfigur und verfälscht darstellt, annähert:

  1. Die Geschichte,
  2. die angebliche Poetik,
  3. die hinterlassenen Aufzeichnungen.

Rahmen waren die Bemerkungen der Familie, die angeblich Manuskript, Poetik und Aufzeichnungen gefunden haben und nach dem mysteriösen Tod zu einem Buch zusammengefasst haben, um mir meinen Lebenswunsch zu erfüllen. Wirres Zeug. Für ein Debüt unmöglich irgendwo unterzubringen. Außerdem musste ich einsehen, dass ich für derartige Experimente noch nicht das notwendige Niveau erreicht hatte. Das Manuskript wurde schweren Herzens beiseite gelegt.

Die Macht des Rotstifts

Jahre später habe ich das Manuskript wieder herausgekramt. Und wieder weggelegt. Jahre später habe ich es erneut hervorgeholt. Es gab Stellen mit Potenzial und lange Passagen, die restlos gestrichen werden mussten. Das habe ich getan. Zunächst habe ich den dreiteiligen Aufbau gesplittet. Part 2 und 3 gehören zusammen und fließen ineinander über. Aber Part 1 konnte für sich stehen. Diesen Teil habe ich mir also vorgenommen.

Noch immer war die Geschichte voll gezwungener Passagen und Ausflüge in Bereiche, die nichts mit dem Kern der Story zu tun hatten. Es wurde erneut einiges ersatzlos gestrichen, ungefähr 2/3 fielen weg, würde ich sagen. Danach wurde mehrmals gefiltert und die Kernidee herausgearbeitet: den Kreislauf der Geschichte und das Spiel mit der Identität (die ursprünglich der Kern des gesamten Romans sein sollte). Ein paar schöne Ideen mussten rausfliegen. Allerdings sind sie nicht vergessen. Vielleicht werden sie in anderen Geschichten auftauchen. Ich habe also jetzt ein komplettes Romanmanuskript zu einer kurzen Erzählung abgespeckt. Weit über 100 Buchseiten weg.

Die Reste

Die erwähnten Parts 2 und 3 beinhalteten ebenfalls einige sehr gute Szenen. Auch wenn eine fiktive Poetik kaum verwendbar sein dürfte, von einigen Sätzen abgesehen, ist dieser Part nicht für Nichts gewesen. Die erwähnten Sätze werden (irgendwann) zu den brauchbaren Teilen aus dem angeblichen Notizbuch (Part 3) gestellt und eine neue Geschichte ergeben: Eine Reise in die Kindheit, eine kreisförmige, sich selbst auflösende Geschichte. Ich mag so etwas ja bekanntlich. Aber zurück zu Der Spinner:

Die Sache mit den Namen

Im Blogartikel Figurennamen suchen und finden habe ich meine allgemeine Vorgehensweise auf der Suche nach Figurennamen dargestellt. Auch Der Spinner wird kurz erwähnt. Hier nun die Details. Im obersten Rahmen erzählt der Erzähler (Maskulinum, weil man idealerweise die Figur der ersten Ebene, den Erzähler und den Autor gleichsetzt – was natürlich ein gewollter Fehler ist) von Matthias. Matthias wiederum schreibt über Matias, aber erst nachdem er sich gegen die Verwendung des eigenen Namens entschieden hat. Später schreibt er über Mateusz. (Randnotiz: Die polnischstämmigen LKW-Fahrer in einem Betrieb, in dem ich einige Jahre gearbeitet habe, nannten mich stets Mateusz, was die polnische Variante meines Vornamens ist.) Im gleichen Absatz wird über Matheo geschrieben. Das Namenskonzept ist offensichtlich, denke ich. Sämtliche Figuren sind nach verschiedenen Ablegern des Namensstammes Matthias/Matthäus benannt. Ursprünglich stammen diese Namen übrigens (über ein paar Zwischenschritte, Übersetzungen und Kürzungen) aus dem Hebräischen, von Mattitjahu ab, was „von JHWH [das Tetragramm des Namens Gottes] gegeben“ bedeutet, was man wiederum als „Geschenk Gottes“ übersetzen kann.

Multiversen?

Neben Daniel Kehlmann und der Pflichtlektüre für die Uni habe ich zur Zeit der Abfassung des ursprünglichen Manuskripts gerne populärwissenschaftliche Bücher über Physik, speziell Multiversentheorien, gelesen. Eine dieser Theorien besagt, dass in einem Universum von unendlicher Größe und endlicher Menge an Kombinationsmöglichkeiten für die vorhandenen Elemente nicht nur unendlich viele Kopien der Erde existieren würden, sondern auch jede Abwandlung davon. Das bedeutet, dass auf unendlich vielen Erdkopien (sofern wir unsere Erde als Original betrachten) jede der Figuren existiert, die ich erfunden habe, und dass sie genau das tun, was ich beschreibe. Die Einschränkung ist hier nur, dass ich die Figuren nicht so erfinde, dass sie den Regeln des Universums widersprechen. Sie existieren allerdings nicht, weil ich sie erfinde, sogar lediglich genau so, wie ich sie erfinde.

Für die Geschichte Der Spinner bedeutet das, dass meine „Kommunikation“ mit der Figur (beziehungsweise jene des Erzählers) tatsächlich stattgefunden hat. Wenigstens in dem Sinne, dass die Person, die der Figur entspricht, eine Stimme mit den exakt gleichen Worten, wie im Text geschrieben, gehört und auf die gleiche Art und Weise reagiert hat. Um Goldmember (aus Austin Powers) zu zitieren: „Ist das nicht abgefahren?“

Was bedeutet es für die Literatur, wenn alles, was sie hervorbringt, tatsächlich passieren würde? Hätte man eine moralische Verpflichtung, ein Happy End zu verfassen? Dann müsste es eine Korrelation zwischen Erfindung des Figuren und Existenz ihrer realen Gegenparts geben. Aber mir ist es um etwas anderes gegangen.

Was ist Gott, wenn die Welt Literatur ist?

Ich bin Autor. Aber in Der Spinner schreibe/erfinde ich jemanden, der ebenfalls Autor ist. Dann erfinde ich eine Kommunikation zwischen Erzähler und Figur. Ich bin jetzt mal ehrlich und gebe zu, ich finde das sch**ß gruselig. Die Überlegung, dass nicht nur ich jemanden erfinden kann, sondern dass auch mich jemand erfinden könnte, erfunden haben könnte. Erfinden, lenken und ins Unglück stürzen. Damit kann ich nicht allein dastehen. Oder? Was bedeutet mein Leben, wenn ich bloß Teil einer Geschichte bin? Wir sind längst im Gedanken einer prädeterminierten Welt. Ich lasse euch mit dem Gedanken allein, wie ich damit allein gewesen bin. (Zur Sicherheit betone ich, dass ich zwar den Gedanken gruselig finde, aber ihn nicht glaube. Das würde wohl an paranoide Wahnvorstellungen grenzen.)

Jorge Luis Borges und der Einfluss der Literatur auf die Realität

Keine Sorge, es wird nicht endlos weitergehen, auch wenn ich noch einige Stunden hier sitzen und tippen könnte. Die Einflüsse, Ursprünge und Ideen von Der Spinner sind Legion. Aber das hier muss noch sein. Eine der bekanntesten Geschichten von Jorge Luis Borges ist Tlön, Uqbar, Orbis Tertius. Ein Meisterstück der Gedankenverdrehung. Brain F*ck, könnte man sagen. Lest die Geschichte (und generell viel mehr von Jorge Luis Borges)!

Jedenfalls geht es um den Einfluss der Erfindung auf die Realität. Was sagt uns, dass es das Erfundene als eigenständige Welt nicht gibt? Dass nicht jede Fiktion irgendwo eine Realität wird? Schöpfung durch Fantasie. Spätestens seit Die unendliche Geschichte kennen die meisten Deutschen dieses Konzept. Es ist hochspannend, wenn man ernsthaft darüber nachdenkt. Die Konsequenzen, die sich daraus ziehen lassen, und die Ohnmacht, die uns befällt, wenn unsere Welt als Fiktion eines fremden Wesens aufgefasst werden würde. Außerdem: Wer ist Protagonist*in und wer ist Statist*in?

Mehr Gedanken als Worte

Jetzt bereits ist dieser Blogeintrag länger als die meisten Texte auf meiner Seite. Ich habe sämtliche Punkte nur angerissen und könnte noch weit mehr anführen. Tatsächlich ist Der Spinner nicht umsonst eine meiner Lieblingsgeschichten in Erschütterungen. Dann Stille.. Die Story stellt die Essenz der Gedanken mehrerer Jahre und der Arbeit an einem kompletten Romanmanuskript dar. Ich bin sehr froh, dass ich euch diese Erzählung präsentieren darf und all die Gedankenarbeit nicht umsonst gewesen ist.

Ich weiß leider, dass viele Leser*innen nicht viel Wert auf die Gedanken nach dem Lesen legen, sondern währenddessen unterhalten werden wollen. Dennoch bitte ich euch, die Geschichte auch insofern zu würdigen, dass sie viel mehr enthält, als man bei einem Lesedurchgang miterleben könnte!

Alternativen

Über Literatur und Mutliversentheorien.

Es gibt etliche Multiversentheorien und ich spreche jetzt nicht von Marvel und co., sondern von theoretischer Physik – auch wenn sie zugegebenermaßen manchmal eher nach Philosophie klingen. Einer meiner liebsten Ansätze ist recht simpel. Setzt man ein unendliches Universum voraus, das eine endliche Menge an Material (Atomen und Kombinationsmöglichkeiten) beinhaltet, tritt irgendwann erstens Wiederholung ein und zweitens jede physikalisch mögliche Variation einer Gegebenheit. Das bedeutet, dass es in einem räumlich unendlichen Universum unendlich viele Erden gibt, auf denen das Gleiche geschehen ist und geschieht wie auf unserer, aber auch, dass es jede andere Variante von ihr gibt. Danach wäre es möglich, dass es jede Version meines Lebens irgendwo verwirklicht gibt. Jede Horrorvorstellung, jede Abart und jeder umsetzbare Traum ist verwirklicht, und natürlich gibt es auch unendlich viele Welten, in denen ich nicht existiere, gestorben bin oder niemals geboren worden bin.

Auf die Wichtigkeit oder Unwichtigkeit meiner Existenz hier und jetzt als Konsequenz dieser Überlegung will ich nicht eingehen, obwohl sie interessant ist und eine ähnliche Verschiebung in der Bestimmung des eigenen Platzes im Kosmos bedeutet wie die kopernikanische Wende. Es soll im weitesten Sinne um Literatur gehen, wie es ja eigentlich immer um Literatur geht, wenn ich denke oder handle.

Fehlen mir einmal Ideen für Figuren oder Plots, denke ich an Multiversentheorien. Wie wäre ich gern? Wie hätte ich enden können? Was wäre passiert, wenn Gegebenheit XY anders gewesen wäre? Was würden Reichtum, Armut, ein anderes Glaubens- oder Staatssystem aus mir machen? Was hätte anders laufen müssen, damit dieses und jenes eingetreten wäre? Nicht nur findet man interessante Ideen auf diese Weise, sondern auch einen gewissen Fokus auf die Werte, die einem wichtig sind, selbst wenn sie einem zuvor nicht bewusst gewesen sein mögen. Wie bewerte ich eine alternative Existenz? Wäre ich gern der Firmenboss, der Soldat oder Propagandaminister, der ich auf anderen Erden bin? Und dann geht es weiter. Was wäre nötig, um mich zu korrumpieren? Wie schnell würde ich meine Ideale eintauschen gegen Sicherheit oder Reichtum? Bin ich vielleicht näher an einer anderen Version von mir, als mir lieb ist?

Auch wenn jeder meiner Texte fiktiv ist, stammen doch auch alle von mir, kommen aus mir und drehen sich im Kern um mich. Niemand sonst könnte diese Texte auf diese Weise schreiben. Daher sehe ich es als wichtige Aufgabe von Autor*innen an, sich selbst und das eigene Leben zu reflektieren. Man sollte jedoch vorsichtig sein, das eigene Leben zu bewerten und sich möglicherweise zu verurteilen. Es geht nicht um Selbstverbesserung. Viel wichtiger wäre in dem Zusammenhang die Frage, warum wir unser Dasein auf eine bestimmte Weise bewerten. Stammt die Beurteilung aus einer wohlüberlegten Ethik oder übernehmen wir bloß die Ethik der anderen? Was halten wir vom Ergebnis? Selbsterforschung ist immer auch die Erforschung der anderen und umgekehrt.

Alle Literatur beginnt mit einem Was wäre wenn? und fährt fort mit einem ständigen Frage-und-Antwort-Spiel, das wir mit uns selbst ausmachen. Am Ende steht eine Geschichte, die von Dingen handelt, die in Wirklichkeit nicht geschehen und die dennoch aus der Wirklichkeit kommen und auf die Wirklichkeit wirken. Damit ist das Nachdenken über den Ist-, den Soll- und den Nicht-Soll-Zustand der Welt (auch und gerade im persönlichen Bereich) Grundlage des Schreibens. Je weniger ausgeprägt die Fähigkeit zur Selbstreflexion ist, desto flacher das literarische Ergebnis, könnte man schlussfolgern. Auch das wäre nur eine Theorie und ich muss mich fragen, ob es eine logische Schlussfolgerung oder versteckte Selbstbeweihräucherung ist, und natürlich auch, ob meine Reflexionsfähigkeit so ausgeprägt ist, wie ich glaube.

Mit einer Multiversentheorie habe ich den Text begonnen und ich möchte mit einer ganz anderen enden. Gehen wir von der realistischen Möglichkeit aus, dass eine intelligente Spezies die Technologie entwickelt hat, ganze Welten zu simulieren, in denen Wesen (z.B. Menschen) existieren, die sich für real halten – simulierte Intelligenz also. Eine logische Weiterentwicklung der Technologie wäre, dass sie zugänglicher würde, also wie ein Computerspiel zur Verfügung stünde. Dann könnten viele Wesen viele Simulationen erschaffen. Wir hätten also extrem viele simulierte Welten. Würde man nun eine Bestandsaufnahme der simulierten und realen Wesen machen, die sich alle für reale Personen halten, käme man logischerweise zu der Erkenntnis, dass es weit mehr simulierte Personen gäbe als tatsächlich und ursprünglich reale. Statistisch gesehen wäre es demnach wahrscheinlicher, dass wir in einer Simulation leben als im ursprünglich realen Universum.

Ein undurchdachter Einwand wäre: „Aber Menschen könnten diese Welten nicht erschaffen, weil wir diese Technologie noch nicht haben.“ Im Rahmen dieser Simulationstheorie könnten wir nicht wissen, was bereits entwickelt worden ist, oder auch nur, welches Jahr wir tatsächlich haben, sofern wir in einer solchen Simulation existieren würden.

Auch diese Theorie ändert in praktischer Hinsicht nicht das Geringste an unserem Leben, aber ist es nicht trotzdem furchtbar interessant? Vielleicht leben wir in einer Version von Sims, an die sich irgendein Alienkind setzt, wenn es eigentlich Hausaufgaben machen sollte.