In einer Diskussion argumentierte mein Gegenüber, dass die Spezialisierung der Wissenschaften unnötig und sogar schädlich sei, weil sie uns die Illusion von einer komplexen Welt aufzwänge, obwohl die Regeln der Natur – das Recht des Stärkeren, fressen oder gefressen werden etc. – sehr simpel wären. Das durchscheinende rechte Gedankengut ignorierte ich für einen Moment und brachte folgendes Gegenargument ins Spiel: Stößt man mit einem Queue eine Billardkugel an, kann man mit großer Wahrscheinlichkeit vorhersagen, wohin die Kugel rollen wird. Ursache und Wirkung. Eine simple Regel. Stößt die angestoßene Kugel auf eine Gruppe weiterer Kugeln, wird es bereits erheblich schwieriger, die Rollrichtung aller Kugeln vorherzusagen. Ursache (Stoß) und Wirkung (Weiterrollen) sind unverändert. Die Komplexität des Vorgangs entsteht durch die Addition vieler simpler Regeln.
Eine Sprache ist ein beherrschbares System. Man kann die mehr oder weniger einfachen Regeln einer Sprache erlernen und sie dann sowohl anwenden als auch verstehen. Das oben genannte Argument einer Summierung der Einzelvorgänge erklärt jedoch nicht allein die mögliche Komplexität eines längeren Textes (wie beispielsweise eines Romans). Eine Sprache ist ein Verschlüsselungssystem, das sowohl auf der Beherrschung der Entschlüssungstechniken (der Regeln der Sprache) basiert als auch auf dem Wissen, was hinter den Wörtern steckt – man sollte einen Baum kennen, um das Wort „Baum“ entschlüsseln zu können – und worauf sich mehrfach codierte Begriffe beziehen. Mit mehrfach codierten Begriffen meine ich Ausdrücke wie „das Buch der Bücher“ für die Bibel, die nicht allein durch das Verständnis der Sprachregeln und der Wortbedeutungen verstanden werden können. Diese Mehrfachverschlüsselungen erschweren übrigens eine Sprache nicht wirklich, sondern vereinfachen sie. Die Menge an Buchstaben und Wörtern, die durch eine solche Codierung gespart werden kann, ist enorm. Denkt man beispielsweise an das Lied Happy Birthday, fällt auf, dass man weder den gesamten Text noch die Melodie wiedergeben muss, sondern das gesamte Lied aufgrund der vorausgesetzten Kenntnis aller Parteien mit nur zwei Wörtern kommunizieren kann.
Jede Verschlüsselung dieser Art ist eine Verkürzung des Textes und eine Verdichtung der enthaltenen Informationen, also einer Zunahme der Komplexität. Erlernbare Regeln der Sprache + (vorausgesetztes, erlerntes) Wissen. Deshalb ist ein Kinderbuch weniger komplex als ein Erwachsenenroman: Das Wissensniveau, von dem wir auf der Empfängerseite ausgehen können, ist nicht hoch genug für zu komplexe Operationen. Die Regeln sind einfach, aber ihre Anwendung ist es nicht.
Es gibt die Theorie, dass die Welt aufgebaut ist aus zellulären Automaten. Ein zellulärer Automat ist eine Anwendung mit sehr einfachen Regeln. Man kann zellulären Automaten jedweder Dimension erdenken. Stellt man sich eine Fläche voller Quadrate vor, von denen manche schwarz sind und manche weiß, so kann man einige Anweisungen formulieren, um den (zweidimensionalen) zellulären Automaten in Gang zu bringen. Beispiel: Jede weiße Zelle mit schwarzen Zellen an mindestens zwei Seiten wird ebenfalls schwarz, aber jede schwarze Zelle, die von mehr als drei anderen schwarzen Zellen berührt wird, färbt sich weiß. Stellt man sich das Abspulen der Regeln schrittweise vor, so wird je nach Ursprungszustand entweder gar nichts passieren (wenn die schwarzen Zellen zu weit auseinander liegen), oder einige weiße Zellen würden schwarz werden und vielleicht einige schwarze weiß. Die Verfärbung mancher Zellen würde die nächsten Schritte auslösen und immer so weiter. Es gibt sehr simple zelluläre Automaten, die im Laufe ihres Abspulens ein Muster entwickeln und dieses automatisch (aufgrund der immer gleichen Regeln) kopieren. Eine Vermehrung von Strukturen findet statt vergleichbar der Teilung einer Zelle, deren DNS ebenfalls als zellulärer Automat aufgefasst werden kann.
Stellt man sich nun vieldimensionale zelluläre Automaten als Frakta vor – ein Fraktum hat in der Mathematik die Eigenschaft, dass es immer komplexer wird, je genauer man es betrachtet –, so könnte man ein theoretisches Grundmodell der Welt haben. Aus einem simplen Ursprung und mit simplen Regeln wurde eine hochkomplexe Welt. Die Regeln sind einfach, aber ihre Anwendung ist es nicht.
Das dicke ABER an dieser Stelle heißt „Gödelscher Unvollständigkeitssatz“, der nämlich besagt, dass, selbst wenn es eine simple Erklärung der Welt gäbe, diese nicht beweisbar wäre.
Was machen wir jetzt damit?
Wir könnten das Fazit ziehen, dass eine Geschichte, sofern Umfang und vorauszusetzendes Wissen mitspielen, keine Obergrenze ihrer Komplexität hat. Aber das ist ein unpraktisches Fazit. Wir könnten uns auch als Teil einer sich im Kleinen und im Großen ins Unendliche ausbreitenden Welt fühlen, was möglicherweise unser Ego für einen Moment entlastet. Oder wir sehen einfach ein, dass wir nicht alles verstehen können (bei genauerer Betrachtung sogar nur einen winzigen Bruchteil von allem). Können wir nicht alles verstehen, so sind wir vom Zwang enthoben, alles verstehen zu müssen, und mit etwas Glück von der ständigen Suche nach Antworten. Wir sollten uns Pausen gönnen. Das Alltägliche steckt voller Unbegreiflichkeiten.