Ton und Entfaltung: Lyrikfetzen

Über das Gedicht “Indischer Falter” von Hilde Domin und das Antwortgedicht “Entfaltung”, inklusive Tonaufnahmen.

Hilde Domin Matthias Thurau Lyrik

Frauen lesen

Vor einer Weile musste ich feststellen, dass mein Bücherregal zum allergrößten Teil mit Werken von Männern gefüllt ist. Also habe ich etwas recherchiert, mir eine Liste mit Autorinnen erstellt, deren Bücher für mich ansprechend schienen, und habe eingekauft. Eines der Bücher, das ich gekauft habe, ist Rückkehr der Schiffe, ein Gedichtband von Hilde Domin.

Einschub: Tonaufnahmen

In der Anfangszeit meines Internetauftritts hatte ich einen Youtube-Kanal mit Namen Sprachnachrichten aus dem Kellerloch (namentlich angelehnt an Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Kellerloch). Für den Kanal hatte ich Gedichte und Kurzgeschichten eingelesen und Videos dazu produziert. Leider fand sich so gut wie gar kein Publikum und die Arbeit war viel zu zeitaufwändig, um sie weiterzubetreiben. Daher konzentrierte ich mich stattdessen aufs Schreiben, auf den Blog und andere Projekte. Neulich habe ich mein Mikrofon doch wieder herausgekramt, zuerst für die Podcast-Folgen von Kia Kahawas Autor*innen-Reihe (Unser Schreibprozess; Bücher- und Leseempfehlungen; Buch- und Autorenmarketing) und dann für zwei weitere Aufnahmen.

Indischer Falter

Eines der Gedichte, die mir in Die Rückkehr der Schiffe besonders gut gefallen haben, ist Indischer Falter. Das Gedicht habe ich eingesprochen:

Der Text hat einige Fragen in mir aufgeworfen. Hilde Domin legt den Grund der menschlichen Existenz in die Aufnahme von Schönheit in uns, damit wir sie weitertragen. Wir sollen Augenblicke und schöne Erinnerungen aufnehmen, sie mit uns tragen und auf diese Weise lebendig halten. Das ist eine sehr lyrische Idee und gefällt mir. Dann aber habe ich mich gefragt, ob das nicht das Gleiche ist wie die Sinnlosigkeit oder Absurdität des Daseins with extra steps (wie Morty sagen würde). Ja, die Schönheit wird bewahrt, aber nur bis zum Tod. Mehr Sinn gibt das unserem Dasein nicht, sondern „nur“ mehr Schönheit. Für wen oder was bewahren wir die Schönheit und bewahren wir sie wirklich?

Entfaltung

Meine Gedanken habe ich in einem eigenen Gedicht zusammengefasst, das als eine Art Antwort auf Hilde Domins Gedicht Indischer Falter zu verstehen ist. Rhythmus, Wortwahl und allgemeinen Stil habe ich anzupassen versucht. Der Titel Entfaltung bezieht sich natürlich auf den Falter im Titel von Domins Gedicht, ist ein Wortwitz, wenn man so will. Hier die Tonaufnahme meines Gedichts:

Wenn wir nichts als
Schalen sind
Vielleicht
Die Schönheit schöpfen
Um sie mitzutragen
Bis sie mit uns vergeht


Für wen bewahren wir
Für was bewahren
Wir sie auf?
Wer nimmt uns diese Schönheit
Ab?


Der alte Mann
Der zusammensackt und stirbt
Mit ihm stirbt der Schmetterling
Doch das interessiert
Den Schmetterling nicht


Vielleicht wird nichts verlangt
Von uns
Gar nichts
Während wir hier sind


Wir erinnern – wir werden vergessen

Nur Sein, kein Verlangen

Mit etwas Abstand zu beiden Gedichten würde ich noch die These in den Raum werfen, dass nichts und niemand (im Sinne einer höheren Macht) etwas von uns verlangt, wir aber auf eine spezielle Weise sind. „Gemacht/geschaffen sind“ kann ich nicht schreiben, da das wiederum eine machende/schaffende Instanz impliziert. Wir haben uns entwickelt zu dem, was wir sind, und wir sind so, dass wir Schönheit aufnehmen und mit uns tragen. Diese Schönheit kann uns eine Ahnung von Sinn schenken oder eine Hoffnung auf etwas Größeres oder einfach einen Trost. Wir sind so, dass wir Schönheit entdecken und empfinden können, obwohl sie keine natürliche Eigenschaft ist, sondern eine Interpretation. Ohne diejenigen, die etwas schön finden, ist nichts auf der Welt schön. Es gibt keine Schönheit ohne uns. Vielleicht ist der Sinn der menschlichen Existenz nicht das Bewahren von Schönheit, sondern ihre Erschaffung. Dann wiederum kann man das Gleiche vom Konzept des Lebenssinns behaupten. Nur Menschen fragen nach einem Sinn. Außerhalb unseres Denkens existiert kein Sinn. Man kann schließen, dass es keinen Sinn im Leben gibt, oder man kann schließen, dass wir dem Leben Sinn geben.

Kritik, Inspiration, Selbstkritik

Selbstverständlich ist ein eigenes Gedicht als Antwort auf eines von Hilde Domin nicht als Kritik zu verstehen. Mich hat Indischer Falter berührt und inspiriert. Ich fürchte auch nicht, dass irgendjemand eine solche Verarbeitung als Angriff werten würde. Was ich allerdings fürchte oder womit ich mich schwertue, ist die vermeintliche Anmaßung als unbekannter Autor mich am Text einer „richtigen“ Autorin zu vergreifen. Hilde Domin ist nicht irgendwer, aber man könnte meinen, ich sei es schon (oder noch). Doch sich selbst niederzumachen, führt keine*n weiter. Ich bin Künstler und setze mich künstlerisch mit der Welt auseinander. Kein*e andere*r Künstler*in wird da Einspruch erheben wollen, denke ich.

Autor: Matthias Thurau

Autor, 1985 geboren, aus Dortmund. Schreibt Romane, Erzählungen, Lyrik. Rezensent beim Buchensemble, Mitglied von Nikas Erben.

Ein Gedanke zu „Ton und Entfaltung: Lyrikfetzen“

  1. Finde die Antwort auf ein Gedicht mit einem Gedicht eine sehr schöne Idee und keinesfalls anmaßend.

    Interessante Denkanstöße, wie immer. Warum bewahrt man Schönes auf, in Gedanken oder als Gegenstand? Zum Trost sicher. Manchmal auch, um es zu teilen, in der Hoffnung, dass andere ähnlich interpretieren. Was ja oft der Fall ist, über die Schönheit so mancher Dinge oder Bilder gibt es einen breiten Konsens. Aber (Gott sei Dank?) nicht alle.

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