Erschütterungen. Dann Stille.: Der Tod in Porto I

Über “Der Tod in Porto I: Die Springer” aus “Erschütterungen. Dann Stille.”

Der Tod in Porto I HEADER

Zwei Geschichten in Erschütterungen. Dann Stille. habe ich mit Der Tod in Porto betitelt. Zur Unterscheidung gibt es Der Tod in Porto I: Die Springer und Der Tod in Porto II: Abschied. Beide Erzählungen haben als Thema den Tod und als Schauplatz die Stadt Porto (oder ihre unmittelbare Umgebung). Ansonsten existiert keine inhaltliche Verbindung zwischen beiden, wohl aber Verbindungen anderer Art. Wer Der Tod in Porto I: Die Springer noch nicht gelesen hat, sei an dieser Stelle vor Spoilern im folgenden Text gewarnt.

Content Note: Suizid

Entstehung

Vor einer Weile habe ich einen Familienurlaub in Porto gemacht. Obwohl wir gemeinsam verreisen, trennen sich unsere Wege immer an mindestens einem Urlaubstag und jede*r zieht allein los. An meinem Tag allein in Porto bin ich hauptsächlich herumspaziert, habe Notizen gemacht und habe gegessen. Es war ein guter Tag mit schwarzen Burgern und guten Ideen. Am Ende des Urlaubs standen die Pläne für beide Porto-Texte. Sie sollten kurz darauf in einer ersten Version umgesetzt werden und wurden für Erschütterungen. Dann Stille. erheblich überarbeitet.

Die morbide Schönheit Portos / L’Appel Du Vide

Ich bin ein morbider Typ. Ich mag Friedhöfe, Ruinen und Stellen, von denen aus man in den Tod stürzen könnte. Daher kenne ich das Gefühl des L’Appel Du Vide, des Rufes der Tiefe, sehr gut. Der Begriff bezeichnet das Gefühl, das man gelegentlich an hohen Stellen hat: Eine Art Sog in den Abgrund, den entfernten Wunsch abzuspringen. Man steht weit oben und denkt, nur ganz kurz, warum eigentlich nicht?

Porto ist auf beiden Seiten des Douro an die Hänge gebaut und mehrere Brücken, davon eine, die Ponte Luiz, zentral, überspannen den Fluss. Die Ponte Luiz hat zwei Ebenen, von denen die untere etwa 5 Meter über dem Fluss verläuft und die obere etwa 60 Meter. Von oben zu stürzen, wäre tödlich. Man gelangt von der Brücke aus am einen Flussufer recht schnell zur alten Klosterfestung, die noch etwas höher über dem Meeresspiegel liegt. Von oben aus kann man hinabschauen in ausgebrannte Häuser, deren Fassaden von der Straße aus noch intakt wirken, und weit den Fluss entlang und über die Stadt blicken.

Worauf ich hinauswill, ist, dass Porto voller Ruinen (neuer und alter) ist, es Armut abseits der Hauptwege und unzählige Stellen gibt, von denen aus man in den Tod stürzen kann.

Die schwarze Pest

Als die Pest in Europa wütete, schien für viele Menschen der Weltuntergang nahe, und mit jedem gestorbenen Menschen ist auch ein Stück der Welt verloren gegangen. Allerdings führte das große Sterben im Nachhinein auch zu weniger Knappheit und mehr Wohlstand. Diesen Vorgang sowie die Grundfunktion des kapitalistischen Marktes, Angebot und Nachfrage, wollte ich in das Todesszenario von Der Tod in Porto I: Die Springer einbauen.

Schon wieder Ethik

Der Tod in Porto I: Die Springer erzählt eine obszöne Geschichte und der Erzähler tut das ganz locker, um einem Gast die Wartezeit aufs Essen zu verknappen. Das steht im klaren Kontrast zu den moralischen Fragen, die die Erzählung aufwirft: Darf man vom Elend anderer profitieren? Wie sehr darf man davon profitieren? Ist jede Lösung akzeptabel, sofern das Problem hinterher nicht mehr existiert? Was ist unsere Rolle in der kapitalistischen Maschinerie? Wie häufig machen wir die Augen vorm Elend zu und wie häufig mischen wir direkt oder indirekt mit?

Diese Geschichte bietet wenig Antworten, aber ich hoffe sehr, dass sie zu Gedanken und Fragen anregt.

Fragwürdiger Typ

Auch wenn er nicht beschrieben wird, habe ich eine ganz klare Vorstellung vom Ich-Erzähler. Diese werde ich hier nicht darstellen, um Leser*innen in dem Bereich nicht zu beeinflussen. (Mich würde aber interessieren, wie Ihr euch den Typen vorgestellt habt. Schreibt mir gerne dazu!) Allerdings lasse ich einige Details durchblicken. Der Erzähler macht ein paar (unbedachte?) Bemerkungen, die aufmerksame Leser*innen aufhorchen lassen sollten.

Ein Beispiel wäre der Satz: Aber wir mussten ja alle irgendwie leben, nicht wahr? Dieser Satz fällt, nachdem der Erzähler von den Vermittlern berichtet, die Todesspringer managen und animieren. Zwar kann man den Satz sehr allgemein lesen und das wir mussten nicht wörtlich nehmen, sondern im Sinne eines man musste. Aber einerseits wäre auch das eine Relativierung des unglaublichen Leids, das in der Stadt herrschte und von den Vermittlern noch verschlimmert worden ist, andererseits steht dort nun einmal wir und der Erzähler scheint ungewöhnlich häufig in der Nähe der Springer gewesen zu sein.

Schlimmer noch ist, dass er zwischendurch geradezu ins Schwärmen gerät, während er berichtet. Das passt zu der seltsamen Grundtatsache der Geschichte, dass sie einem Hotelgast vom Gastgeber vorm Essen berichtet wird. Eigentlich ist das keine Story, die man mit jemandem teilt, der Urlaub machen möchte. Offensichtlich gibt es also einen Drang, all das zu berichten.

Der junge Springer

Das i-Tüpfelchen meiner Inspirationsreise, nachdem ich die Ruinen und die Punkte gesehen hatte, von denen aus man stürzen könnte, den L’Appel Du Vide gespürt und bereits die meisten Ideen gesammelt hatte, beobachtete ich zwei Teenager. Der eine Junge trug einen Neoprenanzug und stand auf der unteren Ebene der Ponte Luiz. Der andere Junge sammelte Geld ein. Als er genug hatte, stieg der erste auf die Brüstung und sprang in den Fluss. Plötzlich passte alles zusammen.

Autor: Matthias Thurau

Autor, 1985 geboren, aus Dortmund. Schreibt Romane, Erzählungen, Lyrik. Rezensent beim Buchensemble, Mitglied von Nikas Erben.

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