Erschütterungen. Dann Stille.: Ausgelöscht

Über “Ausgelöscht” aus “Erschütterungen. Dann Stille.”

Wie sehr kann man den eigenen Erinnerungen trauen? Wie sehr verlassen wir uns auf die Bestätigung anderer, um festzustellen, dass unsere Erinnerungen akkurat sind? Was wissen andere von uns? Wer weiß was über uns? Das sind einige der Fragen, die der Geschichte Ausgelöscht in Erschütterungen. Dann Stille. zugrunde liegen. Wer Ausgelöscht noch nicht gelesen hat, sei an dieser Stelle vor Spoilern im kommenden Text gewarnt!

Unüberlegte Worte

Beziehungen zerbrechen selten kurzfristig, aber sie enden an einem einzigen Punkt, mit einem einzigen Gespräch und manchmal mit Worten, die man bereut, nicht so meint, unüberlegt einander entgegenschleudert. Ein solches zerstrittenes Ende hat die Beziehung zwischen David und der erzählenden Instanz.

Klassisch hätte man „Ich-Erzähler“ gesagt, aber ich habe die Erzählung bewusst so gehalten, dass das Geschlecht der Erzählinstanz unerwähnt bleibt. Von meinen Testleser*innen weiß ich, dass es dazu führt, dass unterschiedliche Leser*innen das Geschlecht der Erzählinstanz unterschiedlich lesen. Spannend.

Jedenfalls endet die Beziehung der beiden im Streit und es fallen die Worte: Ich wünschte, es hätte dich niemals gegeben. Das ist natürlich eine unsaubere Formulierung. Gemeint ist eher, ich wünschte, ich hätte dich niemals gekannt, aber wer achtet auf Feinheiten, wenn gerade ein Lebensabschnitt zusammenstürzt? Offensichtlich David.

Beweise unserer Existenz

Stellen wir uns einen Höhlenmenschen vor. Er wird von einem Säbelzahntiger gefressen. 10 Jahre danach lebt niemand mehr, der ihn einmal gekannt hat. Die Beweise für seine Existenz sind verschwunden, von Knochenresten oder Handabdrücken, die nicht mehr individuell zugeordnet werden können, vielleicht abgesehen. Heutzutage sieht das anders aus. Es gibt noch immer Menschen, die von uns wissen und erzählen, gemeinsame Erlebnisse teilen und diese wiederum anderen mitteilen. Aber es gibt auch Geburtsurkunden, Versicherungen, Akten von Arbeitgebern und Ärzten und der Polizei. Es gibt Videoüberwachung an allen möglichen Orten und ständig tauchen wir auf. Es gibt private Fotos und Videos und das Internet, das angeblich niemals vergisst.

Was braucht es heutzutage, um eine handelsübliche menschliche Existenz vollends auszulöschen? Mindestens Explosionen, Brände, Diebstähle und Morde.

Zweifel

Es gibt etliche Versuche zur Beeinflussbarkeit des Menschen. Was die Moral angeht, ist das berühmteste wohl das Milgram Experiment. Doch es gibt auch Versuche, die gezeigt haben, dass Menschen (schneller als man meinen würde) an der eigenen Wahrnehmung zweifeln, sobald eine ausreichende Anzahl anderer Personen eine abweichende (und offensichtlich falsche) Antwort geben. Wir zweifeln eher an uns als an allen anderen.

Wie verhält sich das mit Erinnerungen? Es gibt wiederum Experimente mit Personen, denen Erinnerungen eingeredet werden und die später die feste Überzeugung haben, dass es die eigenen Erinnerungen seien (samt passenden Bildern im Kopf). Aus all dem wäre es ein logischer Schluss, dass man an den eigenen Erinnerungen zweifeln müsste, egal wie intensiv sie erscheinen, sobald 1. andere Personen diese in Frage stellen oder 2. niemand diese mehr bestätigen kann.

Wenn es keinen Beweis für die Existenz einer Person gibt, kann ich dann eine Beziehung mit ihr geführt haben?

Die Moral der Geschicht?

Wenn Fragen die Grundlage eines Textes für mich bilden, suche ich selber nach Antworten und tue es in ebendiesem Text. Schreibend (oder plottend) erforsche ich, wie weit ich die Fragen klären kann, doch meistens komme ich zu keinem befriedigenden Ergebnis.

Für mich nehme ich zwei klare Punkte aus der Arbeit an Ausgelöscht mit:

  1. Unsere Innenwelt ist nicht so deutlich von der Außenwelt getrennt, wie es manchmal glauben.
  2. Jede Begegnung, und mag sie noch so schmerzhaft sein, formt uns als Personen, bringt uns in die Gegenwart und zu der Person, die wir sind. Tatsächlich formen uns ganz besonders diejenigen, die uns wehtun. Das rechtfertigt nicht das Leid, das sie uns zufügen, aber es gibt uns ein wenig Würde zurück, weil wir einen Nutzen daraus ziehen können. Wenn mich jemand fragt, was ich in meinem Leben (durch eine Zeitreise z.B.) ändern würde, sage ich: gar nichts. Alles brachte mich hierher. Ich bin nicht immer gerne an diesem Punkt, aber ich möchte auch nirgendwo sonst sein. Mir ist bewusst, dass es mehr als genug Menschen gibt, die die Zeit zurückdrehen und so manchem Übel ausweichen möchten. Das ist mehr als verständlich und ich würde das niemals verurteilen. Wir werden nicht immer stärker durch Dinge, die uns nicht umbringen.

Think (Just a Little Bit Harder)

Ausgelöscht soll zum Nachdenken animieren. Mir ist beinahe egal, worüber. Gedacht ist allerdings, dass man über die Wirkung anderer Personen aufs eigene Leben (sowie umgekehrt) und nebenbei über die Unmengen an Daten, die über jede*n erhoben werden, sinniert. Fühlt ihr euch wohl damit, dass es in Hunderten Firmen, zig Ämtern und wer weiß wie vielen privaten Archiven (welcher Form auch immer) Daten von euch gibt? Das ist eine ernst gemeinte Frage. Manchmal ist es mir egal und manchmal erschlägt mich der Gedanke. Für jemanden, der von möglichst vielen gelesen werden möchte, scheint das ziemlich paradox. Oder?

Sorck: Frau Major

Über die Figur “Frau Major” aus dem Roman “Sorck”.

Frau Major Alexa Enesseiova, eine Nebenfigur im Roman Sorck ist die Hauptfigur dieses Beitrags.

Steigen wir direkt ein: Warum Frau Major und nicht Frau Majorin? Tatsächlich habe ich darüber lange nachgedacht und mit Freund*innen diskutiert, was korrekt, was angemessen, was in Ordnung und was passend sei. Die Figur ist weiblich und Offizieren, also wäre Majorin passend, sollte man meinen. Bei meiner Recherche fand ich jedoch Majorin jedoch nur als Rang bei der Heilsarmee, und Enesseiova ist weit entfernt davon, eine Heilsarmee-Offizieren zu sein. Sie ist streng und hartherzig. Der Klang der Kombination Frau Major passt absolut. Daher bin ich bei dieser Form geblieben und hoffe, dass man den Grund für diese Entscheidung im Buch ebenfalls erkennen kann.

Gehen wir von ihrem Rang zu ihrem Namen: Alexa Enesseiova. Dafür muss ich etwas weiter ausholen, obwohl es eigentlich sehr simpel ist. Sorck ist dystopisch angehaucht, das Grundthema ist Kontrolle, und eine Form von Kontrolle ist Information. Beim ersten Kontakt mit dem Schiffspersonal wird Martin Sorck unmissverständlich klargemacht, dass man zu ihm ein Profil angelegt hat, das beispielsweise die von ihm besuchten Websites umfasst. Die Reisegesellschaft sowie ihre Partner haben Zugriff zu diesen Informationen. Später erfährt man, dass ebendiese Reisegesellschaft mit Russland zusammenarbeitet. Im Grundkonstrukt der Geschichte ist Russland der Höhepunkt der Fremdkontrolle beziehungsweise die Station des größten Kontrollverlusts für den Protagonisten. Daher wird auch die dystopische Informationsproblematik bei der Einreise nach Sankt Petersburg besonders deutlich. Auftritt Major Enesseiova. Alexa, dieser Vorname sollte inzwischen allen Menschen bekannt sein, weil er auch eine der verbreitetsten Abhörmaschinen und Datensammelanlagen der Welt bezeichnet. Kund*innen kaufen Geräte mit diesem System selbst und machen sich für ein bisschen Bequemlichkeit wiederum zur Ware, sie verschenken Privatsphäre. Ob man das tut, muss jede*r für sich selbst wissen, aber häufig hat man gar keine Wahl mehr. Smartphones haben und brauchen die meisten und wenn es nicht Alexa ist, ist es ein anderes Abhörprogramm, das man damit herumträgt. Hat man kein Smartphone, sind diese Programme im Betriebssystem integriert oder mit den Websites verbunden, die man besucht. Hat man auch kein Internet, wird man indirekt über die Geräte der anderen überwacht. Es klingt fast nach Verschwörungstheorie und ist doch einfach Fakt.

Nicht nur Firmen nutzen die gesammelten Informationen, sondern auch Nachrichtendienste, deren Job nunmal Informationsbeschaffung ist. Durch etliche Skandale am bekanntesten ist wohl die NSA. Enessei ist die ungefähre lautmalerische Variante von NSA – man muss natürlich die Buchstaben e und i einzeln aussprechen. Das Suffix -owa (oder -ova, was ich optisch schöner finde) deutet im Russischen schlicht auf einen Frauennamen hin.

Dass Bereiche des BDSM in mehreren Bildern im Roman auftaucht, besonders im Kontext der Kontrolle beziehungsweise der freiwilligen Aufgabe dieser, habe ich mehrfach erwähnt. Nachzulesen beispielsweise hier: Freiheit, Geborgenheit, BDSM. Die Figur der Frau Major passt ebenfalls in diesen Kontext. Inwiefern eine Figur, die Alexa heißt und ein Fetisch-Outfit trägt, das die meisten direkt mit BDSM assoziieren, einen Bezug zur freiwilligen Abgabe der Kontrolle (in Form von Informationen und Überwachung allgemein) hat, ist vermutlich offensichtlich, wenn man die Verbindung einmal hergestellt hat. Im BDSM-Zirkeln ist eine eigene Ästhetik vorherrschend, die einen klaren Zweck erfüllt: Die Rolle innerhalb der Machtspiels zu verdeutlichen. Es gibt selbstverständlich Überschneidungen mit dem Fetisch-Bereich, in dem bestimmte Materialien oder Outfits einem eigenen Zweck dienen, und man sollte sich der Trennungen bewusst sein. Die Assoziation, die die allermeisten Menschen jedoch mit dem Auftreten der Figur der Frau Major haben werden, ist die einer Domina: schwarzes Latex, Reitergerte, streng aus dem Gesicht gestrichene Haare. In Anbetracht der Verwendung von BDSM-Optik oder -Vergleichen im Roman ergab es Sinn, dass eine derart strenge und mächtige Figur wie diese ebenfalls in der passenden Optik auftreten würde und dass diese Optik auf gleiche Weise genutzt würde wie in BDSM-Zirkeln auch. Es dreht sich alles um Macht, um Kontrolle, um die Verstärkung der dazugehörigen Gefühle und Rollenbilder, um die perfekte Ausgestaltung des Spiels.

Ein winziges Detail, das in der Szene mit Enesseiova auftaucht, verdient auch noch eine Erwähnung. Bei ihrem Auftritt verhaftet sie einen der Kreuzfahrt-Passagiere namens Hermann. Dieser Hermann trägt nicht ganz zufällig die äußeren Eigenschaften Hermann Burgers, der in seinem Roman Die künstliche Mutter ebenfalls einige überdimensionale Frauenfiguren hatte, die durch ihre Macht und ihr Auftreten allerdings eher eine Aussage über Mutterkomplexe sein sollten. Die Vermischung verschiedenster, scheinbar nicht zusammengehöriger Elemente und eine Sprache, die man wohl als ungewöhnlich bezeichnen kann, hat Burger stets verwendet und mich damit inspiriert. Eine kleine Hommage schien mir also angebracht zu sein.

Grund für die Verhaftung Hermanns ist natürlich, dass die Reisegesellschaft Daten gesammelt und geteilt hatte, die der fiktiven russischen Regierung nicht gefallen.

Frau Major Alexa Enesseiova könnte also als die Personifizierung von Unterdrückung und Macht gelesen werden. Im Spiel der BDSM-Bilder und im Kontext freiwillig aufgegebener Freiheiten und freiwillig abgegebener Daten muss sie aber auch anziehend sein. „Heimlich gafften die Umstehenden sie an und erkannten ihre eigenen Wünsche nicht mehr. Sie war L‘appel du vide als Person“, heißt es im Roman. Es ist fraglos angenehm, Geräte und Programme zu haben, die jeden Lebensschritt bequemer gestalten, aber solche Dinge müssen wir bezahlen. Eine wunderbare Aussicht zahlt man mit der Nähe zum Tod durch einen Sturz in die Tiefe, und manchmal erwischen wir den aufblitzenden Gedanken, wirklich springen zu wollen: L‘appel du vide, der Drang zu springen, der Ruf der Tiefe. Eigentlich wollen wir nicht springen, aber der Sog ist da. Auch wenn man die eigenen Daten nicht weitergeben möchte, will man die damit verbundenen Services nutzen. Sie sind doch so praktisch. Für ein bisschen Bequemlichkeit haben wir uns alle selbst zur Ware gemacht, mit der andere handeln. Solche und ähnliche Gedanken sollte diese Offizierin auslösen.