Seit heute ist meine Rezension des transhumanistischen Hauptwerks von Ray Kurzweil: Menschheit 2.0 beim Buchensemble zu lesen. Das Buch hatte mich damals auch zum Blogeintrag Hoffnung durch exponentielles Wachstum: Wo sind die Utopien geblieben? inspiriert.
Schlagwort: Sachbuch
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Bernie Krause: The Great Animal Orchestra
Rezension des Buches “Das große Orchester der Tiere” von Bernie Krause.
Atmet durch und hört auf, die Geräusche um euch zu filtern. Was hört ihr? Läuft Musik? Fahren Autos? Arbeitet die Lüftung des Laptops? Wird draußen der Rasen gemäht? Jetzt achtet darauf, was diese Geräusche in euch auslösen.
Ich habe Bernie Krauses Buch in den ersten Tagen meiner freiwilligen Corona-Quarantäne gelesen. Das Wetter war sonnig, es gab weniger Verkehr, keine Betrunkenen an der Kneipe gegenüber, weniger Spaziergänger, und die Vögel sangen. Am offenen Fenster habe ich gelesen und konnte halbwegs nachfühlen, wie Krause sich gefühlt haben musste, als er zum ersten Mal die Geräusche der freien Natur bewusst erlebte. Als ich zwei Tage später das Ende des Buches las, hörte ich erst einen Hochdruckreiniger, dann Menschen, die sich lautstark unterhielten, und einen Rasenmäher. Ich war angespannt – zugegebenermaßen bin ich recht geräuschempfindlich – und es passte gut zu den Infos über Lärmverschmutzung und die Zerstörung natürlicher Klangwelten durch menschliche Eingriffe.
Bernie Krause ist Bioakustiker und nimmt natürliche Klanglandschaften, Soundscapes, auf, um sie, das heißt einen Ausschnitt von ihnen, für die Nachwelt zu erhalten sowie akustische Vergleichsdaten zu sammeln, um Entwicklungen aufzuzeigen, Einflüsse und Zerstörungen zu verdeutlichen und zu verstehen, wie es zu diesen hochkomplexen Geräuschkombinationen kommt, bevor sie verstummen. Er zeigt auf, dass die Klänge der Natur nicht bloß aus verschiedenen Tierlauten bestehen, die willkürlich losbrüllen, sondern dass je nach Habitat sämtliche Lebewesen akustisch aufeinander abgestimmt sind und bestimmte Gebiete auf der Klangskala oder zeitlich besetzen. Jeder Eingriff, beispielsweise durch ein vorbeifliegendes Flugzeug, stört die Abstimmung, bringt sie durcheinander oder lässt sie verstummen, was die Kommunikation, Orientierung und Paarung der Lebewesen im Habitat beeinträchtigen kann. Das Besondere an diesem Buch ist wohl, dass nicht bloß trocken über diese Dinge berichtet wird, sondern dass man auf der Homepage des Verlages passende Tracks zu Stellen des Textes finden kann. Diese sind leider etwas durcheinander geraten in der Reihenfolge, aber das ist halb so wild.
Im Rahmen seiner Untersuchungen geht Bernie Krause, der ursprünglich Musiker gewesen ist, auch auf kulturelle Aspekte ein, theoretisiert über die Entstehung der Musik, unterstützt seine Gedanken mit Aufnahmen und Beschreibungen der Musik von naturverbundenen Völkern, gibt einen historischen Überblick über das Verhältnis der westlichen Welt zu Musik und Naturgeräuschen und gibt nebenbei Auskunft über die großen Etappen seines Lebens. Das klingt hochinteressant und etwas durcheinander, oder? Ist es auch. Beides. Gelegentlich wiederholt sich Bernie Krause und einiges hätte er besser strukturieren können. Das störte mich aber weniger als die Übersetzung. Einige Stellen, über die ich gestolpert bin, kann ich nicht klar zuordnen. Lag es am Original oder Übersetzung, dass manchmal das Tempus nicht ganz korrekt war? Hätte man es in der Übersetzung korrigieren sollen/dürfen? Was jedenfalls an der Übersetzung lag, waren Dinge wie, aus The Who, die Who zu machen, und aus Muscle-Cars, Muskelautos, den Filmtitel No Country For Old Men, der im Deutschen auch so heißt, zu übersetzen oder auch die etwas unglückliche Wahl mancher Kapitelüberschriften (Jedem Tierchen sein Pläsierchen – im Original: Different Croaks for Different Folks) und des deutschen Titels, der nach einem Kinderbuch klingt: Das große Orchester der Tiere. Manche Übersetzungen würde ich als Fehler einstufen, da es sich um Eigennamen (oder Teile davon) handelt, die nicht übersetzt werden dürften, und anderes scheint einfach ungeschickt gewählt zu sein. Wie treu soll/darf/muss man dem Original sein bei der Übersetzung? Für die Debatte ist hier kein Platz.
Dass es hier und da lange Aufzählungen von Tieren und Pflanzen gibt, sehe ich als Zeichen für Krauses Leidenschaft und Sorgfalt, und wird manche interessieren und manche nicht (die können das überspringen).
Es handelt sich um ein Sachbuch und das Wichtigste an einem Sachbuch ist die Sache, um die es geht, oder? Ich habe viel gelernt, habe Interessantes erfahren und für eine Weile ein aufmerksameres Gehör gewonnen (um mir des Lärms um mich herum noch stärker bewusst zu werden, aber auch angenehme Feinheiten zu bemerken). Deswegen gefiel mir das Buch trotz etlicher kleiner Macken, die sich anhäuften.