Der Traum ist Teil der Realität

Über die Verbindung von Fantasie und Realität in unserer Wahrnehmung sowie der literarischen Umsetzung dieser Verbindung.

Im Laufe eines Tages sammeln sich fast unendlich viele kleine und große Erlebnisse, Gedanken und Bilder im Kopf an, die nachts verwertet werden. Die Träume bilden neue Erlebnisse und Bilder, die wiederum den nächsten Tag beeinflussen. Dadurch formt sich die Realität für jede*n anders.

Menschen haben Glaubenssysteme und Überzeugungen, durch die sie ihre Realität sortieren und bewerten, was diese Realität wiederum verändert. Es wird gefiltert und gefühlt und abgespeichert. Während die eine Person durch einen Supermarkt geht und in Gedanken schwelgt, konzentriert sich die nächste auf die großartige Auswahl, eine weitere auf die Gerüche und noch eine sieht überall eine Weltverschwörung, die durch Chemie in Lebensmitteln versucht, die Menschheit zu vergiften. Der gleiche Supermarktbesuch führt zu völlig unterschiedlichen Erlebnissen. Die Psyche eines Menschen und sein körperlicher Zustand beeinflussen maßgeblich, wie er die Welt wahrnimmt.

Es gab und gibt viele Versuche, diese Gegebenheit in der Literatur darzustellen. Im als „Bewusstseinsfluss“ bezeichneten Ansatz stellen Autor*innen parallel die Geschehnisse, die Gedanken der Figur und ihre Gefühle dar. Ohne klare Abtrennung werden diese Ebenen vermischt. Ein gutes Beispiel dafür wäre Tauben im Gras von Wolfgang Koeppen. Allerdings ist diese Technik nicht bloß schwer anzuwenden, sondern auch anstrengend für die Lesenden.

Der Magische Realismus wiederum verbindet Elemente aus Religion, Mythologie und Fantasie mit jenen der allgemein anerkannten Realität. Gleichberechtigt stehen sie nebeneinander. Diese Tradition hat meiner Meinung nach einen natürlichen und ungezwungenen Kern und Ursprung. Liest man beispielsweise Celtic Twilight von William Butler Yeats, eine Zusammenstellung von Mythen seiner Heimat Irland, die durch Gespräche mit Einheimischen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden ist, findet man in den Erklärungen und Erzählungen der Menschen bereits die Vermischung aus Glauben und Realität. Sie glauben noch fest an Teufel, Hexen, Kobolde, Feen und andere mythologische Figuren. Der Glaube führt so weit, dass sie im Nebel, im dunklen Wald oder in der Ferne diese Wesen sehen. Besondere Geschehnisse oder auch alltägliche werden durch das Vorhandensein einer kaum oder gar nicht sichtbaren zweiten Welt erklärt. Die Realität der Iren zu jener Zeit war magisch. Die Aussage, dass Magischer Realismus im Grunde Fantasy mit höflicherem Namen sei, wurde mehrfach getroffen. Was wir heutzutage allerdings zuallererst mit dem Fantasy-Genre verbinden, ist wohl etwas anderes. Die Parallelen sind jedoch gegeben.

Surrealismus ist im Kern gezwungener und bewusster. Die Grenzen zwischen „objektiver“ und subjektiver Realität werden verwischt, Träume dringen ins Leben ein, Drogentrips sind Teil der Geschehnisse. Es gibt einen relativ großen philosophischen Unterbau für den Surrealismus, der im Grunde besagt, was ich in der Einleitung geschrieben habe: die Gesamtheit unserer inneren und äußeren Eindrücke bildet die Realität. Ändert man diese Gesamtheit beziehungsweise Parts davon, verändert man die Realität. Das war der Auftrag des Surrealismus: eine neue Literatur/Kunst, eine neue Sprache und am Ende eine neue Realität zu schaffen.

Derart hochgesteckte Ziele habe ich nicht. Mir fehlt weitestgehend die Überzeugung dafür (aber nicht vollkommen). Dennoch vermische ich Welten und trudele irgendwo zwischen Magischem Realismus, Surrealismus und anderen Dingen (wie auch immer sie heißen mögen). Warum? Weil es sich richtig anfühlt. Meine Welt ist dunkel und bunt und voller Bilder, die in „Wirklichkeit“ nicht da sind, voller Assoziationen und Bezüge und Verbindungen. Denke ich an meine Werke, verbinde ich sie mit verschiedenen Farbschattierungen. Es wäre zu schade, würde ich nur darstellen, was ich mit den Augen sehen kann. Der große Reichtum steckt hinter den Augen.

Der Erfolgsgeheimnis des Menschen war immer sein Einfallsreichtum. Mit ihm sind wir an die Spitze jeder Nahrungskette gestiegen, aber haben auch so manches Ökosystem ruiniert, weil wir immer die Realität an uns und unsere Bedürfnisse anpassen. Wir können das gleiche in der Literatur schaffen: die Wahrnehmung der Lesenden ändern und damit die Welt – zum Guten oder zum Schlechten. Doch wer bin ich, dies zu bewerten? Ich zeige als Autor Möglichkeiten auf, andere ziehen Schlüsse.

Unerträgliches mit Humor (üb)ertragen

Über Comedy, Schmerz, Bo Burnham und Humor als Mittel zur Bearbeitung schwieriger Themen.

Es geht mir manchmal nicht gut, ich habe immer ein Faible für Düsteres, Trauriges, Wütendes und ich lache gern. Daher fasziniert mich Stand-Up-Comedy. Wirkt das paradox?

Vor einer Weile habe ich die Show Make Happy von Bo Burnham gesehen. [Vorsicht Spoiler] Er präsentierte eine Mischung aus ungewohntem, teils albernem Humor und viel Musik. Doch zwischendrin und am Ende schien es, dass er ehrlich und fast unangenehm offen wurde. Im Song Can’t Handle This Right Now, kniet er am Boden, nachdem er viel Unfug gesungen und gemacht hatte, blickt ins Publikum und singt:

Look at them, they’re just staring at me
Like, “come and watch the
Skinny kid with a steadily declining mental health
And laugh as he attempts
To give you what he cannot give himself”

Das hat mich getroffen. Er stellt sich (in der Folge und auch in anderen Shows) wieder und wieder die Fragen: Bin ich glücklich? Wie kann ich glücklich werden? Kann ich glücklich werden? Und er findet keine Antwort für sich. Aber auf dem Weg entdeckt er, wie er andere glücklicher machen kann, wenn auch nur für einen Abend.

In der Show Comedians In Cars Getting Coffee, in der Jerry Seinfeld jeweils einen Comedian einlädt, mit ihm durch die Gegend zu fahren, Kaffee zu trinken und zu reden, wird Comedy als solche häufig thematisiert. Seinfeld versucht, das Besondere an Comedy und an Comedians als Personen zu finden. Was macht einen Menschen zu einem guten Comedian? Er gibt im Kern zwei Antworten. Erstens sind Comedians selten gutaussehend, in ihrer Jugend und ihren Anfängen nie erfolgreich und auch keine glücklichen Menschen. Zweitens sehen sie an allem die witzige Seite und geben sich das Recht, über alles (und mag es noch so traurig oder schmerzhaft sein) zu lachen.

Manchmal taucht der Schmerz bloß im Subtext auf, manchmal, wie bei Bo Burnham, kommt er wie eine plötzliche Ohrfeige daher und dann gibt es Fälle, in denen er offen thematisiert wird. Es gibt vermutlich bessere Beispiele, aber Bill Burr spricht gelegentlich über seine Wutausbrüche, die Wutausbrüche seines Vaters und Alkoholprobleme.

Was hat das alles mit mir oder mit Literatur zu tun? Einerseits saß ich vor Beginn des Textes am Schreibtisch und fragte mich, wo die Pointe in all dem steckt, was in meinem Leben gerade passiert. Kann ich einen Ansatz finden, um darüber zu lachen? Bisher nicht. Aber der Humor der Comedians ist wie die Arbeit von Schreibenden auch häufig eine Verarbeitung persönlicher Erfahrungen und Probleme. Spätestens dieser Punkt zwingt mich, gute Comedy als Kunst zu kategorisieren. Andererseits steckt im Roman Sorck viel Humor und mindestens so viel Schmerz, Angst und Unsicherheit. Ich weiß, dass das Buch nicht von allen auf diese Weise gelesen wird, aber ich weiß auch, was ich mir beim Schreiben dachte.

Im Blogeintrag Sorck: Warum Humor? habe ich dieses Thema bereits behandelt, aber auf andere Weise.
Humor hilft, Schmerz zu ertragen: Passe ich nicht auf und laufe mit dem Zeh gegen die Tischkante, fluche ich erst vor mich hin, bis mir auffällt, wie albern ich mich verhalte und ich zu lachen beginne. Tut es noch weh? Natürlich. Kann ich den Schmerz besser aushalten als vorher? Ja!
Humor hilft aber auch, Schmerz effektiver einzusetzen: Würde sich Bo Burnham einfach hinstellen und offen seine Gefühle ausdrücken, hörte ihm bald niemand mehr zu. Von Fremden sollte man kein Mitleid erwarten, sondern zuerst einmal Kälte. Er aber brachte sie zum Lachen, lockerte ihre emotionale Abwehr, wiegte sie in guter Laune und schlug dann zu.

Es ist ineffektiv, auf einen Eisblock einzuprügeln, hinter dem sich das eigentliche Ziel befindet. Lasst ihn tauen und haut dann mit größter Gewalt zu! Das ist meiner Meinung nach eine große Kunst. Es geht natürlich auch hinterhältiger. Man kann in humoristischen Szenen viel Ernsthaftes verstecken, das möglicherweise aufgrund der Mischung stärker nachwirkt. Zwar lacht die Leserschaft, aber das Thema ist nicht zum Lachen. Dieser Widerspruch, der erst mal gelöst werden will, sollte zumindest das aufmerksame Publikum beschäftigen.

Kafka mag nicht daran gedacht haben, aber vielleicht ist Humor die Axt, die das gefrorene Meer in uns zerbricht.

PS: Alle erwähnten Shows findet man auf Netflix.