Appetit auf andere Welten

Über die Beziehung von Literatur und Wirklichkeit sowie über manche, die die Grenzen verwischt haben.

Wenn du keinen Bock hast, kannst du auch nach Hause gehen sagte mir einmal ein Vorgesetzter und der Unsinn dieser Aussage (natürlich hatte ich keine Lust, aber gehen konnte ich dennoch nicht) ärgert mich noch heute. Jetzt gerade führt mich die Erinnerung an diesen Satz aber zu einer höheren Ebene: Wenn du unzufrieden bist, ändere etwas. Auch so ein kluger Spruch. Was, wenn man mit sich selbst oder der Realität an sich unzufrieden ist?

Zu Zeiten Edgar Allan Poes war es üblich, dass kurze Erzählungen in der Zeitung abgedruckt wurden und nicht immer wurde darauf hingewiesen, dass es sich um eine Geschichte handelte. Das nutzten einige Schriftsteller. Poe verfasste Geschichten, die wie Berichte von Gelehrten aussahen, die Namen und Rang vorgaben, um dann eine fantastische Gruselerzählung auszubreiten. Er hat damit so manche Person verunsichert. Man könnte aber auch sagen, er habe die Welt der Lesenden bereichert. Plötzlich war wieder mehr möglich und es gab scheinbar Dinge, die sich der normalen Erfahrungswelt entzogen.

Jorge Luis Borges verfasste Besprechungen von Romanen, die nicht existierten und weckte so das Interesse der Lesenden an ebendiesen Werken. Unter den Lesenden befanden sich auch Schriftsteller*innen, die versuchten, Borges’ Visionen umzusetzen, oder sich anderweitig davon inspirieren ließen. Ironisch kommentierte Borges diese Texte mit der Aussage, er habe nicht die Geduld, um Romane zu verfassen, also warum sollte er nicht deren Essenz nehmen und direkt eine Rezension schreiben? Damit drehte er den Weg um und ließ andere das eigentliche Werk erfinden oder ausfüllen.

In beiden Fällen wurde das Reale um das Mögliche erweitert, weil die Ebenen unklar waren. Erinnert das nicht an die Magie alter Zeiten, in der Aberglaube und Mythologie die Wälder, Felder, den Himmel und das Haus in der Nacht lebendig machten?

Jedes Werk der fiktionalen Literatur ist eine Entführung in eine Welt des Möglichen. Darin liegt ihre Macht. Wir werden weggeleitet von dem, was ist, und hin zu dem, was sein könnte. Sei es furchtbar oder schön, es wird bei uns bleiben und unser Denken verändern. Durch das Anfüttern verbesserter Beobachtungsfähigkeit, dem Hinlenken unseres Blickes auf Probleme und Hindernisse und dem Aufzeigen möglicher Konsequenzen unserer Handlungen trainiert Literatur unsere Unzufriedenheit. Das ist nur für jene schlecht, die uns faul und unwissend halten wollen. Das Buch 1984 war in der Sowjet Union verboten, weil es antikommunistisch war, und in den USA, weil es prokommunistisch war. Keine der beiden Regierungen wollte zu viele Fragen gestellt bekommen.

Auf privater Ebene gilt natürlich das Gleiche. Zeigt uns die Literatur nicht, was wir im Leben vermissen? Interpretiert (oder verteufelt) man Literatur als Mittel zur Realitätsflucht, so schreibt man ihr auch eine Deutungshoheit zu. Flucht scheint angemessen oder wenigstens gewünscht. Warum? Was suchen wir in Büchern, das wir sonst nicht haben? Eine Flucht zeigt immer eine Richtung an: auch im Zickzack führt der Fluchtweg immer von dem weg, das uns Angst macht oder stört. Das gewünschte Mögliche wird zum Gegenteil dessen, was man hat, und damit zum Kompass, der den Lesenden den eigenen emotionalen Süden zeigt.

Damit liegt die Rechtfertigung eines jeden Werkes im Menschlichen begründet – auch Werke, die wir verabscheuen, lehren uns etwas. Hier wäre Romantisierung allerdings fehl am Platz. Hetzwerke und Propaganda bedienen sich der gleichen Technik, die Poe verwendet hatte: die Vermischung von Irrealem (Lügen, Übertreibung, Fokusverschiebung) und Realem (Nachrichten) oder dem Anschein des Realen durch Plattformen und Textarten, die wir für glaubhaft halten. Doch das hier führt von fiktiver Literatur weg und wo keine Literatur mehr ist, wollen wir nicht hin.

Was für Lesende gilt, gilt auch für Schreibende, aber auf andere Weise. Während die Leser*innen im Inhalt eines Werkes den (verkehrten) Kompass ihres Innenlebens finden können, ist die Literaturarbeit an sich für Schriftsteller*innen geboren aus Unzufriedenheit, welche sich nicht zwangsläufig im Inhalt widerspiegelt. Das sollte ich erläutern. Mit „Unzufriedenheit“ meine ich nicht unbedingt Leid oder bewusste Verstimmung, sondern vielmehr ein Erkranktsein an der Armut der Realität. Wir wissen, es sollte mehr geben, als es gibt. Es kann konkreter ausfallen, indem man wünscht, dass die Realität anders sei (freier, gerechter, bunter, glücklicher), aber die Grundunzufriedenheit, die die Menschheit immer vorangetrieben hat, ist uns eigen. Davon bin ich überzeugt, selbst wenn man um dieses Wissen oder Gefühl eben nicht bewusst weiß. Vielleicht erwächst gerade aus dieser Paradoxie die schönste Ideenwelt. Zufriedenheit korrumpiert, auch wenn wir sie alle anstreben. Wer ernsthaft meint, alles sei in bester Ordnung, wird still sein und sich nicht in die Fiktion wagen.

Wir arbeiten hart, um Alternativen zu bieten. Das berühmte „Was wäre, wenn …“ ist der Anfang jeder literarischen Arbeit, jeder wissenschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Neuerung. Wir müssen uns dessen nicht bewusst sein. Unser Pflicht besteht einzig darin, unseren Weg zu gehen. Er ist es wert, gegangen zu werden.

Alte Milch: Definitionen

Über das Gedicht “Definitionen” aus dem Lyrikband “Alte Milch”.

Mit nur 14 Wörtern (inklusive Titel) ist Definitionen das kürzeste Gedicht in Alte Milch. Seine Kürze lässt es simpel erscheinen, durchschaubar auf einen Blick, aber so einfach ist es nicht. Ich wurde gebeten, ein paar Gedanken dazu aufzuschreiben und gehe der Bitte hiermit nach.

Definitionen

manche machen mich
zu einem
von euch

diese
zum beispiel

irren
ist menschlich

Ein Wesen außerhalb der menschlichen Sphäre, ein Unmensch, ein Monster, ein Außenseiter. So betrachtet sich das lyrische Ich in diesem Text. Was steht wirklich im Gedicht? Der Inhalt an sich ist sehr simpel und kann in zwei Sätzen ausgedrückt werden:

Manche allgemein anerkannten und existierenden Definitionen des Menschseins schließen mich (→ lyrisches Ich) in die Gruppe der Menschen mit ein. Ein Beispiel für eine dieser Definitionen lautet: Irren ist menschlich.

Da mehr nicht gesagt wird, muss es sich um einen dieser nervigen Texte handeln, bei denen man selbst denken oder zwischen den Zeilen lesen muss. Nicht alle Definitionen machen das lyrische Ich zu einem Menschen. Das heißt, dass es entweder manche Definitionen explizit ausschließen oder dass Definitionen für andere Wesen als Menschen existieren, die das lyrische Ich einschließen. Da die gewählte Definition ausgerechnet irren ist menschlich lautet, wird das lyrische Ich sich kaum für etwas Besseres halten als den Rest der Menschheit. Sein Ausschluss beinhaltet also keine Arroganz, sondern ein Gefühl von Minderwertigkeit. Das lyrische Ich fühlt sich hier nur durch sein Irren, also eine Verfehlung an sich, mit den anderen verbunden.

Die Perspektive ist eine distanzierte. Eine kühle Sprache ohne Ausschmückungen, keine Reime, keine Großbuchstaben, nicht einmal ein durchgehender Rhythmus. All das unterstützt die ereignislose Kühle und Ausgeschlossenheit des lyrischen Ichs. Es spricht die Leserschaft direkt an oder die Menschheit oder einfach eine Gruppe von Menschen, aber gleichzeitig bekommt man nicht das Gefühl, dass ein Dialog möglich wäre. Hier lässt sich kein Einstieg zu einem Gespräch finden, sondern ein Monolog wie er im Kopf stattfindet oder in einem Abschiedsbrief.

Die Grund- und Eigendefinition des lyrischen Ichs ist unmenschlich und minderwertig. Was macht es noch zum Menschen? Das Irren, also weitere Fehlerhaftigkeit. Doch bedeutet dies nicht auch einen Funken Hoffnung? Wenn sich die Menschheit (unter anderem) über fehlerhafte Schlüsse definiert und das lyrische Ich genau in diesem Punkt mit ihr übereinstimmt, besteht die Möglichkeit, dass alle oder wenigstens eine der Schlüsse, die es in diese Außenseiterposition gebracht haben, fehlerhaft sind. Man könnte noch weiter gehen. Eine Außenseiterposition aufgrund des Gefühls von Minderwertigkeit ist immer Kopfsache, fiktiv, eingebildet. Menschen sind nicht minderwertig, sie fühlen sich minderwertig. Es handelt sich also um einen grundsätzlichen Irrtum, der ganze Leben definieren und kontrollieren kann. Dieser Irrtum ist nicht selbstverschuldet und fast immer von außen aufgezwungen und dennoch nicht weniger inkorrekt.

Was bedeutet es, dass Irren menschlich sei? Es bedeutet, dass wir alle Fehler machen. Es bedeutet aber auch, dass wir befähigt sind, diese Fehler und Irrungen einzusehen und damit in der Lage sind, uns zu ändern und zu bessern. Dies gilt für diejenigen, die sich für weniger wert halten, und für auch für diejenigen, die sie dazu gebracht haben. Die Menschheit existiert seit jeher nach dem Prinzip trial and error: Eine Mutation, die sich durchgesetzt hat und dann das gleiche Prinzip auf Gesellschaften, Erfindungen und alle weitere Bereiche ausgedehnt hat. Im Kleinen führen wir es weiter, wenn wir Beziehungen durchtesten, hier und dort Dinge ausprobieren, unausgegorene Entscheidungen treffen oder uns anderweitig dumm verhalten. Trial and error. Jemandem das Selbstwertgefühl zu zerstören fällt eindeutig in den Bereich „error“, ganz egal was vorher versucht wurde. Sollte es sogar das Ziel gewesen sein, ist auch das Ziel ein Fehler. Seht es ein und fühlt es nach – es wird euch menschlicher machen.

Die Illusion des entscheidenden Punktes

Über die Wahrnehmung von Lebensgeschichten.

Von Zeit zu Zeit durchlebe ich Phasen, in denen ich wenig bis gar nicht arbeite. Diese Phasen sind keine Erholungspausen, sondern Einschnitte, die mich unzufrieden stimmen und von denen ich hoffe, dass ich sie möglichst schnell überwinden kann. Dann führe ich ein Gespräch oder habe eine Einsicht, lese etwas oder habe eine Idee und plötzlich ist es wieder da: ich setze mich hin und arbeite. Ein kleiner Punkt in der Zeit ändert alles.

Aber ist das wirklich so? Wir verwechseln häufig Grund und Auslöser. Frustriert über meine Untätigkeit war ich doch die ganze Untätigkeitsphase hindurch. Es brodelte in mir und kulminierte schließlich, ausgelöst durch das Gespräch, die Einsicht, das Gelesene oder die Idee. Wenn ich mich genauer beobachte, merke ich sogar, dass ich mir die Auslöser selbst erschaffe. Ich beginne Gespräche mit anderen Autor*innen und spreche diese Phase an oder lese Werke von anderen, denen ich nacheifere. Mir mag das nicht bewusst sein, aber ich steuere selbst auf den erlösenden Moment zu. Doch die Illusion ist wichtig.

Denkt an die Narrative von Biographien: In diesem Moment wusste sie, dass sie Ärztin werden wollte oder Dieser Moment hat sein Leben für immer verändert oder Seitdem war nichts mehr wie vorher. Gegeben, dass es sich nicht um einen äußeren Reiz handelt, der völlig überraschend, dominant und gewaltsam auf das Leben einer Person einwirkt, sind die Momente oder kurzen Zeitspannen, die uns definieren, Umbrüche oder Wendepunkte größerer Bewegungen. Selten kommen die definierenden Momente aus dem Nichts und da sie definierend sind, enden sie nicht sofort wieder, sondern wirken nach. Aggressive plötzliche Einwirkungen von außen haben selten eine Vorgeschichte, aber umso größere Nachwirkungen. Die Nachwirkung wiederum ist keine einzelne Linie, keine direkte Verbindung von Punkt A damals und Punkt B jetzt, sondern ist eine Kombination endlos vieler Einflüsse und Entscheidungen. Wir entscheiden uns, einen Erzählstrang als Hauptstrang zu wählen, um unser Leben zu erklären. Die Erzählung kann sich wandeln, aber die wichtigsten Punkte bleiben.

Wir sind nicht in der Lage alle Einflüsse, die auf uns wirken, zu sehen und zu verstehen. Stellt euch einen Fußpfad vor, den ihr einmal gegangen seid! Er muss nicht lang sein. Er führt geradeaus und schlängelt sich nach links und rechts, daneben sind Büsche oder Bäume oder Wiesen. In der Vorstellung findet ihr euch zurecht, ihr kennt die Kurven und die Bäume, alle wichtigen Wegpunkte. Aber der Pfad besteht aus so viel mehr als aus diesen Punkten. So gern ihr vielleicht würdet, ihr könnt euch nicht jedes Detail des Weges merken, ihr könnt nicht einmal jedes Detail wahrnehmen. Also entscheidet ihr euch für markante Stellen, an denen ihr euch entlanghangeln könnt: Wegpunkte.

Das Leben ist eine Geschichte ist ein Weg. Sartre behauptete in Die Wörter, er habe als Kind begriffen, dass das Leben eines Menschen vom Tode aus beurteilt werden würde. Er wollte Schriftsteller werden, also würde man sein Leben als das eines Schriftstellers beurteilen und jeden Schritt darin im diesem Licht beleuchten. Er sagte als Kind deshalb Dinge daher, die intelligent wirkten, aber nichts bedeuteten, um seine Familie und Bekannte zu beeindrucken, die im Nachhinein und in Erinnerung daran, ihn im Gedächtnis behielten mit er war immer schon zum Schriftsteller gemacht. Wann auch immer er diese Erkenntnis tatsächlich gehabt haben mag, sie ist korrekt. Wir interpretieren Taten und Worte im Lichte dessen, was danach kommt – oder besser: was danach gekommen ist. Er hat schon als Kind lieber Fußball gespielt als zur Schule zu gehen. Diesen Satz habe ich vor einer ganzen Weile im Radio gehört. Er trifft auf unglaublich viele Menschen zu, aber die angesprochene Person wurde Profi-Fußballer, also interpretiert man es anders: nicht als kindliche Spielerei, sondern als Vorbereitung auf ein größeres Ziel. Das Leben ist eine Geschichte ist ein Weg.

Diesen Satz könnt ihr kombinieren, wie ihr wollt. Da hier hauptsächlich Autor*innen lesen, sagen wir mal: Eine Geschichte ist ein Weg ist ein Leben. Es gibt für jede Figur und für den Plot an sich entscheidende Punkte, auf die alles hinarbeitet, damit am Ende ein anderer Zustand (und sei es ein geistiger) herrscht als am Anfang. In der Literatur muss die Illusion von Wegpunkten (oder die Illusion ihrer unerschütterlichen Wichtigkeit) bewahrt und genährt werden. Man muss sich auf einen Narrativ konzentrieren, der Taten und Gefühle erklärt und dabei nicht zu komplex ist, um ihn zu verstehen. Ein dargestelltes Leben darf nicht so kompliziert sein wie ein tatsächliches. Die unglaubliche Menge an Einflüssen, Gedanken, Wahrnehmungen eines einzelnen Menschen ist unmöglich in eine Geschichte zu fassen, weshalb wir den Großteil dessen ignorieren und unser Augenmerk auf das Entscheidende werfen. Wir riskieren dabei, die Motivation von Figuren zu flach erscheinen zu lassen oder die Wegpunkte zu kitschig zu gestalten. Über welche Plotpunkte definiert ihr euer Leben? Wirkten diese Punkte für eine Romanfigur glaubhaft, interessant, klischeehaft, kitschig, realistisch?

Ein Weg ist eine Geschichte ist ein Leben. Vielleicht stammt unsere Aufteilung in Sinnabschnitte und Wegpunkte ursprünglich von unserem Orientierungssinn in der Natur. Wir gehen einen Weg und erzählen uns die entscheidenden Stellen wie eine Geschichte. Denken wir kurz an die Aborigines, die jedem wichtigen (und vielleicht für uns unwichtig wirkenden) Punkt im Land eine Bedeutung zugewiesen haben innerhalb ihrer großen Erzählung: Dreaming. Stellt euch einmal vor, ihr bewegt euch jeden Tag in einem riesigen Netzwerk aus Geschichten, die zusammen eine Landkarte bilden und eine Ahnentafel und die gesamte Göttergeschichte und die Historie eures Volkes der letzten 40.000 Jahre. Wer die Geschichte kennt, verläuft sich in ihr nicht.

Vielleicht ist die ständige Suche nach neuen Geschichten und die Ausarbeitung bestehender nicht mehr als ein Versuch, Ordnung in einer Welt zu schaffen, in der man sich verlaufen hat.

Selfpublishing und Buchläden

Wie man die eigenen Bücher in Auslagen von Buchläden und anderen Geschäften unterbringt.

Immer mal wieder, seltener als ich sollte, besuche ich Buchläden (und andere Geschäfte) in Dortmund und stelle mich als Autor vor. Das mache ich, um meinen Namen ins Gespräch und meine Bücher in die Regale zu bringen. Hier möchte ich kurz darstellen, wie ich das anstelle, wie ich mich vorbereite und worauf man man achten sollte.

Zunächst einmal sollte festgestellt werden, dass nicht nur Buchläden Bücher verkaufen. Es gibt in jeder Stadt Ladenbesitzer*innen, die bereit sind, die lokale Kulturszene zu unterstützen und beispielsweise Bücher unbekannter Autor*innen zu verkaufen. In meinem Fall wären das beispielsweise Lotto Seel oder Landgut, beide fußläufig von meiner Wohnung zu erreichen. Diese Unterstützung ist Gold wert. Oliver Seel, Besitzer von Lotto Seel, veranstaltet Lesungen und Konzerte, pflegt einen persönlichen Umgang mit seiner Kundschaft und macht aktiv Werbung für mein Buch. Üblicherweise wird kein Beteiligter reich mit dem Arrangement, weshalb eine faire Absprache und ein Verkauf in Kommission angebracht ist. Ich teile den Gewinn (-> Einnahmen nach Abzug der Druckkosten etc.) ungefähr 50/50. In meinem Fall sind Werke und Geschäfte nicht inhaltlich verknüpft, aber sollte man Bücher verkaufen, die einen klaren Bezug zu einem Geschäft haben, könnte man an entsprechender Stelle nachfragen. Warum sollte nicht eine Bäckerei ein Buch über einen Bäckergesellen verkaufen?

Im Buchhandel selbst sind die Deals meist schwieriger. Von Verlagen erhält der Handel einen Rabatt von etwa 40%, was die meisten Selfpublisher*innen nicht bieten können. Ich selbst kann es mir nicht leisten, eine Auflage drucken zu lassen, die einen solchen Rabatt erlaubt. An der Stelle muss man verhandeln. Ein Buchladen teilte mir mit, feste Rabatte von lokalen Autor*innen in Höhe von 30% zu verlangen. Das ist schon zuvorkommend. Wir reden hier übrigens immer noch vom Verkauf in Kommission, sodass dem Laden selbst kein Risiko bleibt. Diese Verkaufsform ist manchmal allerdings nicht machbar. Filialen von Ketten wie Thalia oder Mayersche bekommen Schwierigkeiten mit der internen Abrechnung, wenn sie Kommissionsverkäufe anbieten. In dem Fall bleibt nur übrig, auf die eigenen Werke hinzuweisen. Von beiden genannten Ketten haben Dortmunder Filialen Exemplare meines Romans Sorck bestellt. Es ist also machbar.

Häufiger wurde ich schon gefragt, wie ich vorgehe. Kommen wir also jetzt dazu. Da ich etwas menschenscheu bin, nehme ich mir nicht zu viel vor. Ein Geschäft oder zwei reichen, um meine Energiereserven aufzubrauchen. Wenn es euch ähnlich geht, macht es doch auch so.

Mir ist aufgefallen, dass es gute und schlechte Zeiten gibt, um einen solchen Besuch zu starten. In den meisten Läden waren die Besitzer*innen, die Entscheidungen treffen konnten, Dienstags bis Samstags vor Ort und hatten am Montag frei. Direkt nach Eröffnung am Morgen ist das Personal noch mit dem Aufbau beschäftigt und hat wenig Zeit für Anfragen. Mittags zwischen 12 Uhr und 15 Uhr ungefähr machen die Mitarbeiter*innen abwechselnd Pause, was zu Engpässen führen kann. Auch hier hat man wenig Zeit für dahergelaufene Autor*innen. Auch zu den Stoßzeiten, besonders samstags, sollte man, wenn möglich, nicht aufkreuzen. Der ideale Zeitpunkt ist also meiner Meinung nach dienstags bis freitags gegen 11 Uhr vormittags. Mir ist klar, dass um die Zeit wegen des Jobs nicht jede*r losziehen kann, was meine Einschätzung allerdings nur untermauert.

Wenn ich dann im Laden bin, stelle ich mich vor und komme schnell zum Punkt: Gruß, Name, Beruf, Anliegen – Guten Tag, ich heiße Matthias Thurau, bin Autor aus Dortmund und habe vor Kurzem einen Roman veröffentlicht. Diesen würde ich gern in Ihrem Geschäft anbieten. Wer wäre der richtige Ansprechpartner dafür? Erwischt man direkt die richtige Person, geht es weiter. Hat man wen anders vor sich (vielleicht sogar eine Person in Ausbildung oder neu im Laden), ist diese Person nicht überfordert, sondern kann mich weiterleiten. (Die wenigsten werden überfordert sein, aber in meiner Ausbildung gab es Situationen, in denen man mich festnagelte und Dinge von mir verlangte, die ich noch nicht leisten konnte, weshalb ich das hier anspreche.)

Wichtig ist, dass man freundlich ist, aber nicht unterwürfig. Ihr habt ein Produkt geschaffen und anzubieten, an dem beide Parteien verdienen können. Ihr steht also auf gleicher Augenhöhe mit den Händlern. Um die Augenhöhe aufrechtzuerhalten, muss man natürlich alle Fragen beantworten können, die eventuell auftauchen:

Was ist das für ein Buch? – Habt einen Pitch oder eine Kurzzusammenfassung im Kopf!
Wo könnte man sich näher darüber informieren? – Rezensionen, Blogs, Interviews.
Wo und in welcher Form ist es erhältlich? – Großhändler, Eigenexemplare, Taschenbuch etc.
Wie kann man euch erreichen? – Immer eine Visitenkarte zur Hand haben!
Was möchtet und was könnt ihr für Konditionen anbieten? – Verschenkt eure Bücher nicht! Ihr solltet wissen, wie viele Exemplare ihr zur Hand habt, was ihr pro Exemplar selbst bezahlt habt, wie viel Gewinn ihr pro Exemplar mindestens erwartet usw. Am besten habt ihr ein Maximum im Kopf, das ihr sowohl in Form von Prozenten als auch in Form einer Geldsumme ausdrücken könnt. Ihr wollt nicht mit Prozentrechnung anfangen, während ihr im Gespräch seid.

Ein paar verkaufsfördernde Argumente kann man auch wunderbar fallen lassen. In meinem Fall wären das beispielsweise die Zeitungsberichte über mich und meine Bücher. So weiß mein Gegenüber, dass ich aktiv werbe und die Möglichkeit besteht, dass Menschen tatsächlich meine Bücher kaufen wollen.

Damit alles klappt, sollte man zwei Dinge dabei haben: Eine Visitenkarte und ein Exemplar des Buches (das auch zur Ansicht vor Ort gelassen werden kann). Wenn ihr ein Buch dort lasst, könnt ihr durchaus verlangen, es hinterher zurückzubekommen oder dass es als Teil der Lieferung gilt, die hinterher vereinbart wird. Ihr habt hart für das Werk gearbeitet! Außerdem rechnet es sich nicht, wenn ihr ein Buch verschenkt, das euch z.B. 8€ im Druck kostet, und ihr dafür drei Bücher verkauft, die euch insgesamt nur 6€ einbringen.

Auch sollte man nicht vergessen, dass nicht alle Tage Autor*innen vorbeischneien. Neugierige Fragen oder ein ausgewachsenes Gespräch sind möglich. Das sollte allen klar sein. Aber wenn es dazu kommt, habt ihr schon gewonnen. Das Interesse ich geweckt, die Sympathie offenbar vorhanden und die paar Zentimeter im Regal, die ein Buch benötigt, sollten kein Problem mehr darstellen.

Ist der Deal gemacht, fehlt noch der Lieferschein. Vorlagen gibt es kostenlos online. Wichtig darauf ist: Was wird geliefert (Titel, ISBN), wie viel davon, für welchen Verkaufspreis und mit welchem Händlerrabatt?

Es ist nicht immer einfach. Manchmal muss man zweimal oder dreimal vorbeischauen, bevor die richtige Ansprechperson da ist. Manchmal wird man auf eine Emailadresse verwiesen, manchmal wird dann bloß ein Exemplar genommen oder zwei und ich warte noch immer auf den Fall, in dem ich ein eindeutiges Nein kassiere. Das kann passieren und das wird passieren. Aufgeben werde ich deshalb nicht.

Warum eigentlich persönliche Besuche?

Anfangs habe ich E-Mails geschrieben und keine Antworten bekommen, nicht eine. Telefonieren hasse ich persönlich. Man kann sich nicht in die Augen schauen und weiß nicht, ob man nicht gerade stört. Um mein Ziel zu erreichen, musste ich also persönlich hin. Das wäre mein Antrieb. Es gibt aber auch weniger subjektive Gründe dafür. Ein persönlicher Besuch zeigt, dass man wirklich Interesse hat und Zeit opfert. Es sendet ein erheblich kräftigeres Signal als ein Anruf oder eine E-Mail. Darüber hinaus ist es schwieriger, einer Person eine Absage zu erteilen, die einem freundlich ins Gesicht lächelt, als einer, die irgendwann etwas getippt und abgeschickt hat. Geht also hin!

Diese Aktionen sind für viele (und da schließe ich mich ein) anstrengend. Daher ein paar aufmunternde oder beruhigende Worte: Buchverkäufer*innen sind Buchmenschen wie wir. Sie sind meist freundlich, erfüllt von Liebe zur Literatur und machen ihren Job nur sehr selten, weil sie nichts besseres finden konnten. Selbst wenn sie eure Bücher nicht verkaufen können oder wollen, werden sie euch das freundlich beibringen und euch nicht wüst herauswerfen. Das ist jedenfalls meine Erfahrung. Wenn es dann doch klappt, wenn ihr euch getraut habt und erfolgreich wart, freut ihr euch umso mehr. Ich bin jedes Mal stolz auf mich und sammele mit jedem Besuch mehr Mut für den nächsten.

Leo Perutz: Der schwedische Reiter

Über den Roman “Der schwedische Reiter” von Leo Perutz.

Ausnahmsweise schreibe ich eine Buchbesprechung. Mir ist danach. Also los:

Zwei Männer scheinen am Ende zu sein, noch bevor die Geschichte beginnt. Ihre Lebenswege und alle Ziele, Anstrengungen, Schicksalsschläge und Zufälle darin sind miteinander verknüpft. Wenn die Geschichte tatsächlich endet, steht da eine rührende Szene, die von Liebe und Schicksal durchströmt ist.

Wie soll man Der schwedische Reiter einordnen? Man kann sagen, es handele sich um einen historischen Roman, der am Anfang des 18. Jahrhunderts in Schlesien spielt. Allerdings ist es auch ein Abenteuer- und Liebesroman, ein Kunstmärchen, ein Werk des Magischen Realismus und modern durch die Thematisierung von Flucht, Verfolgung, Leid und Lebenswillen.

Dies ist meine erste Buchbesprechung und deshalb werde ich doch lieber persönlicher im Ton und in der Gestaltung. Es gibt zwei Dinge im Buch, die anstrengend sind. Leo Perutz schrieb einmal, dass er in historischen Romane zu schreiben versuche, wie seine Großmutter erzählte. Die Sprache passt, soweit ich das sagen kann, zur Zeit, in der die Geschichte spielt. Trotz schönem Satzrhythmus kann das stören oder braucht wenigstens Gewöhnung. Die andere Sache ist, dass die beiden weiblichen Figuren naiv, unselbständig und auch mal rachsüchtig sind. Sie sind da, um hübsch zu sein und zu dienen, die eine etwas wilder, die andere brav. Eine Ursache dafür liegt wohl in Perutz’ Entscheidung, sämtliche Figuren typisiert zu konzipieren, sodass sie erst durch die schicksalhafte Verquickung der Handlung und durch die Fantasie der Leser*innen mit Charakter erfüllt werden müssen. Dies funktioniert im Falle der männlichen Figuren besser, da sie mehr Handlung und mehr Sprechanteil haben. Aber mit einer modernen Sichtweise ein Werk zu attackieren, das 1936 erschien und im frühen 18. Jahrhundert spielt, ist müßig. Es fällt allerdings auf.

Also zur Schönheit des Werkes! Der Aufbau vom Ende der Geschichte zum Anfang und wieder zum Ende, die Verknüpfung der einzelnen wichtigen Wegpunkte, die schließlich eine großartige Auflösung erlauben, ist unschlagbar. Dieser Aspekt erinnert mich an die besten Filme von Guy Ritchie. Allerdings scheint Perutz’ Auflösung mehr von Leidenschaft getragen denn von Humor. Dies ist einer der Momente, in denen ich am liebsten spoilern würde. Ich liebe die Auflösung und den Aufbau dieses Romans.

In der Zwischenzeit, zwischen Aufwerfen des Rätsels und Erklärung, gibt es eine abenteuerliche Geschichte um Landstreicher, Räuber, Diebe, Soldaten und Liebe. Man fühlt sich hier und da an Till Eulenspiegel erinnert. Folgende mögliche Verbindung fiel mir beim Lesen auf: Das Buch erinnert mich an Till Eulenspiegel – Daniel Kehlmann hat mit Tyll einen Roman mit dieser Figur im Zentrum geschrieben – ich selbst kenne Leo Perutz aus Essays von Kehlmann – dachte Kehlmann dank Perutz an Eulenspiegel? Doch zurück zum Buch: Dieser Anteil des Buches ist spannend und unterhaltsam.

Hineingemixt wird nun auch noch eine Menge Aberglaube und Religion. Ein (möglicherweise?) toter Müller, Zaubersprüche, die eventuell wirken, ein göttliches Gericht, das aber keine der gängigen Sünden bestraft. Dies ist der magisch-realistische Anteil, die Verflechtung von Realität und Glauben, Aberglauben, Spiritualität zu einer neuen Wirklichkeit. Doch Perutz treibt Spielchen und weicht den Kern dieses Konstruktes auf. Christliche Moral ist nicht die Moral des Buches, sondern bloß eine Ansicht, die vertreten wird – und das nicht von den Mitgliedern der Kirche. Als Leser*innen sind wir in der moralischen Interpretation des Werkes auf uns gestellt. Uns bleibt nur die ästhetische Konstruktion, um uns entlangzuhangeln. Sie gilt es zu bewundern. Was das Leben wirklich bedeutet oder ob es etwas bedeutet, müssen wir nicht verstehen, können es vielleicht auch niemals.

Für Fans von Details sollte ich noch darauf hinweisen, dass Perutz, soweit ich das erkennen konnte, Kapiteleinteilung, Jahreszahlen etc. an in der christlichen Numerologie wichtigen Zahlen angepasst hat.

Am Ende einer Buchbesprechung sollten wohl eine Empfehlung oder Bewertung folgen. Ich gebe keine Punkte oder Sterne. Die Wahrheit ist, ich kann nicht einschätzen, ob heutigen Leser*innen Der schwedische Reiter zusagen wird. Aber im Grunde handelt es sich um einen Fantasyroman und sowas mögt ihr doch, oder?

Ein Tanz hin zur Klarheit

Über die Aufführung des Stückes “Purgatorio” des Balletts in Dortmund.

Dortmund bietet mehr als Bier und Fußball. Zum Glück. Es gibt zum Beispiel ein hervorragendes Ballett-Ensemble, das unter Leitung Xin Peng Wangs jedes Jahr eine neue, eigene Literatur-Adaption auf die Bühne bringt. In der Spielzeit 2019 ist es der zweite Teil der Reihe nach Dantes Comedia: Purgatorio.

Die Divina Comedia (Göttliche Komödie) ist eines der wichtigsten Werke der Weltliteratur und sei hier ganz kurz zusammengefasst:

Teil 1: Inferno – Dante wird von Vergil durch die Hölle geführt
Teil 2: Purgatorio – Dante begutachtet den Läuterungsberg
Teil 3: Paradiso – Dante schaut den Himmel

Dass man die Comedia ein Leben lang studieren kann und nicht fertig werden würde, darf auch erwähnt werden. Dante fasste das Wissen seiner Zeit in einem Werk zusammen, erschuf die Grundlage der Höllenvorstellung des Christentums (Feuer, Schwefel etc.) und schrieb das alles in Italienisch, das es damals in der Form noch nicht gab, weshalb er hunderte Worte erfinden oder adaptieren musste.

Was ist der Läuterungsberg?

Purgatorio, im Deutschen oft als Fegefeuer übersetzt, obwohl das Fegefeuer bloß ein Teil des Purgatorio darstellt, ist ein Bereich im Nachleben, wo sündige Seelen sich reinigen von ihrer Schuld, um danach den Himmel zu betrachten und Teil haben zu dürfen an Gottes Wärme. Es ist ein Bereich zwischen dem Himmel, in den nur die reinen Seelen eingelassen werden, und der Hölle, in der die verlorenen Seelen für immer leiden. Wer nicht gut genug für den Himmel ist und nicht nicht schlecht genug für die Hölle, darf einige Jahrhunderte lang leidend einen Berg erklimmen, um am Ende durch eine reinigende Feuerwand zu laufen und danach erlöst zu werden.

Losgelöst von allem Christlichen, was bleibt von der Idee des Purgatorio? Schuld, Schuldgefühl, Reue und ein reinigender Weg, an dessen Ende Vergebung, Ruhe und Klarheit stehen. Es bleibt ein Prozess hin zu etwas, das wir alle anstreben und von dem wir ständig weiter zu entfernen scheinen. Wie setzt man das als Ballett um?

Es beginnt mit der Nachstellung einer Performance der Künstlerin Marina Abramovic und zwar The Cleaner. Jemand sitzt auf einem Berg blutiger Knochen und reinigt in mühsamer Arbeit einen nach dem anderen. Als Kommentar zum Ende der Kosovo-Krise konzipiert, passt das Werk auch allgemeiner zum (Selbst-)Reinigungsthema des Purgatorio.

Ein weiteres Motiv, das auftaucht und den ersten Part des Stückes mitbestimmt, ist das Schlagen mit der flachen Hand auf Hals und Glieder, das die Seelen wieder und wieder vollführen. In der chinesischen Medizin gilt dieses rhythmische Schlagen als heilsam und reinigend, weil es die Körpersäfte und -energien weckt und sie fließen lässt.

Für die größte Zeit wird das Stück Become Ocean von John Luther Adams gespielt, ein Stück, das das langsame Aufbäumen, Aufbauen, Brechen und Zerfließen einer Welle darzustellen versucht. Wasser als reinigendes Mittel und Teil fast jeder großen Religion. Es wird langsam getanzt und im Dunkeln. Schwer wiegt noch die Last der Sünden auf den Seelen. Doch mit der Zeit und nach viel Mühe, wenn die Welle John Luther Adams den Schmutz fortgetragen hat, lockern sich die Glieder, das Atmen wird einfacher, die Bewegungen leichter. Man nähert sich der letzten, reinigenden Feuerwand des Fegefeuers. Kate Moores The Art of Levitation scheint die Gravitation auf der Bühne aufzuheben, im Feuer wirbeln die Seelen, Tänzerinnen und Tänzer drehen sich, springen und tanzen auf Spitze durchs Fegefeuer, befreit von aller Last des Lebens.

Ich sitze im Publikum und merke, wie meine Beine zittern. Anspannung und Konzentration zwangen meine Muskeln, straff und kampfbereit zu sein. Nun lockern sie sich. Die Vorstellung, Buße tun zu können und dadurch alle Last meiner Irrtümer, Fehlhandlungen und Gemeinheiten loszuwerden, stimmt mich euphorisch und dann traurig, weil ich mangels des richtigen Glaubens nicht an ihr festzuhalten vermag. Doch geht es in Purgatorio nicht um christlichen Glauben, sondern um menschliche Bedürfnisse. Vielleicht ist das Fegefeuer die Summe der Schuld, die wir anhäufen, mit uns tragen und die uns zu besseren Menschen macht, bevor wir im Wissen, dass wir sie durch gute Taten abbezahlt haben, am Ende unseres Lebens einschlafen. Bessern wir uns nicht nach Ansicht und Einsicht unserer Fehler, werden sie immer an uns nagen, ohne dass Linderung kommen wird. Das wäre dann die Hölle.

Was kann man von einem Ballett mehr erwarten, als Schönheit, Eleganz, kunstvolle Gestaltung, gekonnte Umsetzung und Wellen von Gefühlen, die zu Kontemplation führen und uns letztlich, mit etwas Glück, zu besseren Menschen machen (wenn auch nur für einen Abend)?

Sorck: Zwei Vögel und die Ordnung im Chaos

Über eine Szene aus dem Roman “Sorck” sowie ihre Hintergründe.

Eine winzige Szene aus dem Roman Sorck, slawische Mythologie und ein verstecktes Statement sind Thema dieses Artikels. Ohne Spoiler wird es nicht abgehen können. Seid also gewarnt!

Situation: In Sankt Petersburg hat Martin Sorck eine unangenehme Einreise überstanden und steht nun im Freien.

„Der Himmel schimmerte grau und schien sich direkt an den Boden anzuschließen, ohne Horizont, ohne Trennlinie. Ihm fielen zwei Vögel auf, die als Paar zum Hafenbecken flogen, einer hell, einer dunkel. Am Ziel angekommen schwebten sie auf der Stelle, um dann ihre Flügel anzulegen und sich ins Wasser zu stürzen. Einen Moment später tauchten sie wieder auf, schlugen wild mit dem Gefieder und erhoben sich in die Luft. Ihr Rückweg führte über Sorck hinweg und als sie genau über ihm flogen, rieselte feuchter Sand auf seine Stirn.“

Um diesen kurzen Moment innerhalb einer turbulenten Geschichte soll es gehen. Was hat es damit auf sich? Wieso Vögel? Wieso dort?

In Sorck tauchen immer wieder Bezüge zu Religion und Mythologie auf. So auch hier. In der slawischen Mythologie, genauer gesagt in der slawischen Kosmogonie, gibt es eine Schöpfungsgeschichte in verschiedenen Versionen. Kurz zusammengefasst: Aus dem Nichts entsteht mit Beginn des Zeitflusses das Weltenei, aus dem Bieleboh und Czorneboh entstehen. Diese beiden, der weiße Gott und der schwarze Gott, bauen unsere Welt. In manchen Darstellungen werden sie als zwei Vögel dargestellt, die Erde vom Meeresgrund holen und an Land tragen.

Wir Menschen suchten schon immer nach einer Erklärung für unsere Existenz und erfanden sie in Form von Geschichten. Das ist der Kern jeder Religion. Die Erklärung für die Existenz von Martin Sorck ist die Geschichte, die ich erfinde. Schöpfung in zweiter Potenz, wenn man so will. Ich bin bei meiner Figur zu jeder Zeit und bin verantwortlich für alles Gute und alles Böse, das ihr zustößt. Aber nicht aus einem Gotteskomplex heraus habe ich mich als Schöpfer in die Geschichte geschrieben, sondern als Statement der Planmäßigkeit im Chaos der Geschichte.

Wie eine Segnung fällt der Sand von den göttlichen Vögeln herab auf die Stirn Sorcks. Es gibt einen Plan für ihn. Während seiner Reise sucht er nach Sinn und Bestimmung. Es gibt Sinn und Planmäßigkeit, aber nicht auf einer Ebene, die er überblicken könnte. Ein weiterer Kommentar dazu steht auch im Artikel Sorck: Die Dachbogenszene.

Dass die Szene in Russland angesiedelt ist, erklärt ihr Bezug zur slawischen Mythologie, so wie Bezüge zur nordischen Mythologie beispielsweise in Stockholm auftauchen.

Was Martin Sorck nicht merkt und wohl auch kaum jemand sonst: die beiden Vögel tauchen mehrmals auf. Noch auf dem Kreuzfahrtschiff sieht er sie auf dem Monitor an seiner Kabinenwand.

„Zwei sandige Vögel und ein Mann in einem Trenchcoat. Er fragte sich, ob es das selbe Rorschachbild wie zuvor war, […]“

Ihm wurde ein Blick in die Zukunft gewährt, den er nicht verstehen konnte. Dadurch wurde den Lesenden der gleiche Blick gewährt und sie teilten das gleiche Unverständnis mit ihm. Gibt es Zeichen und gibt es einen Sinn in der Welt, so übersteigen sie unser Verständnis. Anders ausgedrückt: Sollte es tatsächlich einen Gott geben, der alles lenkt, hat das für uns keine Bedeutung, da wir weder verstehen können, was er tut, noch ändern können, was geschieht. Man könnte es als Zeichen der gleichen Ansicht betrachten, dass die frühe christliche Theologie darauf bestand, dass Gott bereits vor der Erschaffung der Welt festgelegt hatte, welche Menschen in den Himmel kommen und welche in die Hölle. Weit vor der Geburt einer Person steht sein Schicksal fest und was sie auf Erden tut, ändert nichts daran. Für einen allwissenden Gott scheint das passend, aber für die Kirche war das unpraktisch. Warum sollte man sich gut verhalten, wenn man nichts am Ergebnis ändern kann? Plötzlich musste man sich seinen Platz im Himmel verdienen. Das als kleiner Ausflug in die Theologie.

Eine Parallele dazu gibt es in Form folgender Weltsicht: Die Welt basiert auf physikalischen Regeln, ist also eine riesige Kauselverkettung. Wir Menschen bilden unsere Entscheidungen (unseren freien Willen) aufgrund von Erfahrungen und Reizen, die wiederum Teil der Kausalverkettung sind. Damit wäre jede Handlung, jeder Gedanke und jedes noch so zufällig wirkende Ereignis von vornherein vorherbestimmt, wenn auch nicht geplant. Es gab die Ansicht, dass man jeden Zustand des Universums zu jeder Zeit berechnen könnte, wenn man in der Lage wäre, den kompletten Weltzustand zu einem bestimmten Zeitpunkt zu bestimmen. Laplacescher Determinismus. Die Heisenbergsche Unschärferelation hat dem einen Strich durch die Rechnung gemacht. Aber das führt jetzt zu weit.

Zurück zu den Vögeln: Passenderweise tauchen diese auch in einer Kirche auf. Martin Sorck entdeckt eine kleine Statue.

„Eine Frauengestalt in langer, heller Robe erhob den schlanken Zeigefinger ihrer rechten Hand und deutete auf zwei Vögel, die über ihr flogen. Einer von ihnen war wiederum mit Gold überzogen, der andere, dunklere, nicht.“

Hier wurden sogar mehrere mythologische beziehungsweise story-eigene Bezüge miteinander verknüpft. Eva, die Frau, die Sorck kennenlernt, begegnete ihm in der gleichen Pose wie hier Mokosch, die slawische Fruchtbarkeitsgöttin. Dass es sich um Mokosch handelt, sieht man übrigens an der lateinischen Widmung unter der Statue, die sich auf einen ihrer Beinamen bezieht. Die Verbindung zwischen Martin Sorck und Eva wird hier ebenso gezeigt wie die Planmäßigkeit ihrer Zusammenführung. Es gibt Ordnung im Chaos.

Vielleicht noch ein paar persönlichere Notizen dazu:

Ich liebe diese kleinen versteckten Geheimnisse in Büchern. Ob ich sie selber gestalte oder jemand anders (wie Kehlmann, der mit Du hättest gehen sollen seine eigene Shining-Version geschrieben hat und an einer Stelle versteckt auf das Buch und den Film hinweist), ist dabei gleich. Daher wollte ich das besprochene Detail am liebsten schon direkt nach der Veröffentlichung verraten. Aber jetzt, da mehr Leute Sorck gelesen haben, ist der Zeitpunkt passender.

Man könnte meinen, ich sei religiös oder beschäftigte mich viel mit Gott, aber dem ist eigentlich nicht so. Ich glaube nicht an Gott. Allerdings ist es für mich ausgesprochen wichtig, einen Sinn in den Dingen zu sehen, die ich tue. Ein Leben ohne höhere Bedeutung ist bedeutungslos, sinnlos, also schwer zu leben. Daher habe ich immer nach Sinn gesucht und ihn in der Literatur gefunden. Auf einer lebenslangen Sinnsuche stolpert man zwangsläufig über Religionen, da andere ihren Sinn darin gesucht und gefunden haben. Dieser Aspekt und die deutliche Verbindung zwischen göttlicher Schöpfung und menschlicher Schöpfung und Kreativität bringen mich immer wieder zu religiösen Themen.

Mir ist bewusst, dass ich in diesem Artikel riesige Themenkomplexe angerissen habe (Mythologie, Religion, Determinismus, Literatur, Sinnsuche), mit denen man sich ein Leben lang beschäftigen könnte. Daher bitte ich um Verzeihung für die vage Darstellung. Sicherlich werden alle Themen nochmal besprochen genauer werden, aber für einen Überblick über die Idee hinter dieser winzigen Szene sollte das reichen.

Zeitungsartikel und Eigenwerbung

Über den Gedichtband “Alte Milch” und einen Zeitungsartikel, der dazu erschienen ist.

Die Ruhrnachrichten hat einen Bericht über mich und meinen neuesten Gedichtband Alte Milch gedruckt sowie online zur Verfügung gestellt. Hier geht es um Online-Artikel: Ruhrnachrichten: Matthias Thurau

Zeitung: Alte Milch

Wie es dazu gekommen ist und wie das ablief, möchte ich hier kurz zusammenfassen. Vielleicht fühlen sich andere dadurch inspiriert.

Dies ist nun der zweite Artikel über mich, der im Lokalteil der Ruhrnachrichten erschienen ist. Ich freue mich riesig. Zum ersten Bericht hatte ich einen Blogeintrag verfasst, den ihr hier finden könnt: Sorck: Ein Zeitungsartikel

Als im Sommer Sorck erschien, hatte ich noch keine Ahnung, wie ich effektiv für mein Buch werben könnte. Ich versuchte es über die üblichen Social Media Kanäle, die ihr übrigens rechts finden könnt, und entschied mich schließlich, aktiver zu werden, meine Wohnung zu verlassen und anderweitig zu werben. Teil der neuen Strategie waren Besuche bei Buchhandlungen und anderen Geschäften, um meine Werke auszulegen. Das funktionierte tatsächlich in 100% der bisherigen Fälle. Allerdings habe ich noch lange nicht alle in Frage kommenden Geschäfte besucht. Ein weiterer Versuch war die Kontaktaufnahme mit Zeitungen und Zeitschriften. Leider waren diese Versuche nicht von Erfolg gekrönt, außer im Fall der Ruhrnachrichten, wie ihr im Link oben nachlesen könnt.

Vor einigen Wochen ist dann mein Gedichtband Alte Milch veröffentlicht worden. Ich kontaktierte den Reporter, der mich damals besuchte, erneut und hatte bereits am nächsten Tag eine feste Zusage und einen Termin vereinbart. Zu meinem großen Glück wohnt er nur wenige Minuten von mir entfernt, sodass wir uns wieder in meiner Wohnung treffen konnten. Das ist aus mehreren Gründen von Vorteil. Einerseits fühlt man sich im eigenen Zuhause sicherer und entspannter. Andererseits bekommt der Reporter einen Einblick in meine Arbeitsumgebung und den Alltag. Außerdem habe ich alle notwendigen Materialien (Bücher, Notizen, Flyer) und vieles mehr vor Ort, was ich sonst hätte mitnehmen müssen und hätte vergessen können.

Reporter sind auch nur Menschen. Das darf man nicht vergessen. Auch sollte man im Kopf behalten, dass sie (wenigstens in diesem Fall) keine Literaturkritiker sind und kein Interesse daran haben, einen Verriss zu schreiben. Ein Artikel, in dem das Buch eines unbekannten Autors gelobt wird, ist interessanter als ein Artikel, in dem ein Werk schlecht gemacht wird, das bisher niemand kennt. Entsprechend konnte ich meine Nervosität diesmal zügeln, wenn auch nicht abstellen. Begonnen haben wir mit Smalltalk, um dann die Fragen und Anregungen abzuarbeiten, die der Reporter vorbereitet hatte. Natürlich hilft es, wenn man gut vorbereitet ist, aber den Artikel muss man nicht selber schreiben und entsprechend sollte das reichen, was man ohnehin über das eigene Werk zu sagen weiß.

In weniger als einer Stunde war das Gespräch beendet und ich hatte alles gesagt, was ich sagen wollte. Es freut mich sehr, dass im Artikel zwei der Läden (Lotto Seel und Landgut), in denen meine Bücher verkauft werden, erwähnt wurden, aber auch Nikas Erben, zu denen ich mich inzwischen zählen darf, und dieser Blog. Ich verstehe die Buchdeals mit Geschäften und die Zusammenarbeit mit anderen Autor*innen als gegenseitige Unterstützung, zu der jede Seite beiträgt, sofern es in ihrer Macht liegt. Daher wird bei Lotto Seel auch zu jedem verkauften Buch ein Flyer mitgegeben von Michael Leuchtenberger und Nika Sachs. Ich hoffe sehr, dass alle Erwähnten und Beteiligten mit mir zusammen die Vorteile der Publicity genießen können.

Was manchem vielleicht noch interessant erscheint, ist der Zeitraum, in dem das alles ablief. Einen Tag nach der Kontaktaufnahme per E-Mail war ein Termin vereinbart, der einige Tage später stattfand. Einen Tag nach dem Termin wurde der Artikel online veröffentlicht und am Tag darauf stand er in der Printausgabe. Im Fall des Artikels über Sorck ließ die Printausgabe ein paar Tage länger auf sich warten.

Als Selfpublisher muss man selbst dafür sorgen, gesehen zu werden. Man sollte sich also nicht davor scheuen, sich auch zu zeigen.

PS:
Da es im Artikel etwas missverständlich ausgedrückt wurde: Beide Bücher sind in jeder Buchhandlung und überall online zu kaufen. Sorck gibt es als Ebook bisher nur bei Amazon, aber ab Dezember auch auf allen anderen Plattformen.

Süchtige Gesellschaft

Über die verschiedenen Süchte in unserer Gesellschaft und warum sie Themen meiner Werke sind.

I – Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist eine Kneipe. Menschen gehen hinein, trinken, stellen sich für eine Zigarette vor die Tür und trinken weiter. Mindestens einmal monatlich gibt es Streit, Leute brüllen sich gegenseitig an oder der Wirt schmeißt jemanden raus. Ganz normal.

II – In der Eingangszone des Jobcenters sitzt ein Mitarbeiter am Schreibtisch, blickt hektisch und übermüdet auf dem Monitor hin und her, trinkt einen Schluck Red Bull und versucht seine Wut im Zaum zu halten. Es ist 8 Uhr morgens. Ganz normal.

III – Ein Teenager kommt nach einem stressigen Schultag nach Hause. In der Nacht hatte er zu wenig geschlafen, in der Schule wurde er gemobbt und von Lehrern angeschrien. Er hat 500 Follower auf Instagram, aber keine Freunde, die ihm zuhören. Mit drei Klicks landet er auf Pornhub, sein Belohnungszentrum feuert wie wild, er vergisst für eine Weile die quälende Einsamkeit und fragt sich hinterher, was zur Hölle er sich da angesehen hat. Ganz normal.

Beispiele kann man ohne enden finden und erfinden, um zu zeigen, wie viel ungesunde Verhaltensweisen und wie viel Suchtmittelkonsum in unserer Gesellschaft akzeptiert und häufig sogar gefördert wird. Mir selbst ist etliche Male passiert, dass ich gefragt wurde, warum ich nicht (mehr) trinke. Fragen wie: Bist du krank? Musst du noch fahren? Oder Aussagen wie: Ein Bier kann doch nicht schaden. Gehe ich am Wochenende abends durch Dortmund, begegnen mir irgendwann nur noch Betrunkene. Das ist deren Recht, aber vielleicht sollte man mal darüber nachdenken.

Ich habe Freunde zugrunde gehen sehen und war stand selbst am Abgrund. Ich bin kein Heiliger. Mein Blog trägt den Titel Autorsein als Kampfakt und ein Teil meines permanenten Kampfes ist der mit Fressattacken, Suchtdruck, Stress, Bingewatchen und anderen Verhaltensweisen, die ungesund sind und die mich auf Dauer unzufrieden stimmen, auch und besonders weil sie kurzfristig lohnenswert scheinen.

Daher ist das Thema der süchtigen Gesellschaft für mich interessant und wichtig. Im Roman Sorck taucht es auf in Form von Alkohol- und Drogenkonsum sowie übermäßiger Esserei. Im Gedichtband Alte Milch kommen ebenfalls Alkohol und Drogen vor (diesmal auch in Form von Zigaretten und Koffein). Außerdem wird noch Pornokonsum (oversexed and underfucked), das scheinbar Soziale und manchmal den Selbstwert angreifende von Social Media, Stress und Einsamkeit, die aus all dem erwachsen können, oder von denen man sich ablenkt, behandelt.

Adolf Muschg sagte einmal sinngemäß, man behandele gesellschaftliche Probleme, indem man persönliche Probleme verarbeite. Dem stimme ich zu. Die Probleme der Gesellschaft, in der ich lebe, werden zwangsläufig meine Probleme (ob nun direkt oder indirekt). Daher erscheint es passend, sie wenigstens in der Lyrik in Ich-Perspektive zu behandeln. Nicht jedes behandelte Thema ist eines, das mich direkt und persönlich betrifft, sondern eines, das mich beschäftigt und über das man nachdenken sollte. Über den Unterschied zwischen Erzähler/lyrischem Ich und mir als Person habe ich im Artikel Der Erzähler, das lyrische Ich und Ich mehr geschrieben. Entgegen mancher Meinung sind Suchtprobleme kein Zeichen persönlicher Schwäche, sondern Ausdruck größerer Problematiken, die man als Sozialgemeinschaft zu lösen hat. Sie auf die Betroffenen abzuwälzen, ist faul und unfair.

Ursprünglich war es nicht das Ziel gewesen, mit meiner Literatur Kritik zu üben oder Veränderungen herbeizuführen, aber es ergab sich zwangsläufig, weil es mich beschäftigte. Inzwischen sollen meine Texte zum Nachdenken anregen, Fragen aufwerfen und Probleme aufzeigen. Einer dieser Problemkomplexe ist die süchtige Gesellschaft. Weitere habe ich bereits besprochen oder werde es noch tun.

Der Erzähler, das lyrische Ich und ich

Über den Unterschied zwischen Erzähler bzw. Lyrischem Ich und Autor*in sowie das Spiel mit der Verwechslung beider.

Das Schöne an Fiktion ist, dass sie fiktiv ist. Niemand braucht zu wissen, wer ich bin, wie ich mich fühle, was ich den ganzen Tag treibe oder was ich über die Welt und die Menschen denke.

Ein Erzähler ist nicht sein*e Autor*in und das lyrische Ich ebenfalls nicht. Das ist eine uralte Wahrheit, die man bereits in der Schule lernt und die wieder und wieder vergessen wird. In manchen Genres scheint es offensichtlicher als in anderen, doch neulich stolperte ich über einen Tweet: eine Science-Fiction-Autorin wurde gefragt, ob ihre Geschichte autobiographisch sei. Dieser Tweet und einige Interpretationen meines Gedichtbands Alte Milch und Fragen zu ebendiesem forderten geradezu einen Artikel zum Thema.

Es ist selbstverständlich, dass Schreibende sich nicht aus dem Geschriebenen heraushalten können. Ich schlüpfe jedoch in eine andere Rolle, wenn ich Literatur erschaffe. Man kann es vergleichen mit manchen Alltagssituationen oder einem Job-Interview. Während ich versuche, einen Job zu ergattern, werde ich mich nicht verhalten, wie ich mich bei Freunden verhalte, dort wiederum nicht wie im Familienkreis und nirgends bin ich, wie ich in meinem Kopf bin. Hinzu kommt die Diskrepanz zwischen Innen- und Außenwelt. Mein Denken ist nicht mein Verhalten und umgekehrt. Eine Person wirklich zu kennen ist also immer schwierig. In der Literatur bauen wir noch sehr viel mehr Schichten zwischen uns und die Öffentlichkeit. Das, was von unserem Inneren übrigbleibt, variiert, aber niemals erzählen wir direkt von uns. Ein Erzähler ist angepasst an eine Geschichte, genau wie die Figuren auch. Auch der Ich-Erzähler bin nicht ich.

Lyrik thematisiert nicht selten Bereiche, die üblicherweise als persönlich empfunden werden. Seien es nun Gefühle wie Liebe und Hass, privates Verhalten oder Sexualität. Addiert man dazu die Ich-Perspektive, die in der Lyrik gängig ist, wird schnell der Eindruck erzeugt, jemand schreibe über sich selbst. Doch Schreibende lassen sich zwischen den Zeilen finden und nicht in ihnen. Beispielsweise schreibe ich selbst häufig über Alkohol und man kann und darf daraus interpretieren, dass ich eine persönliche Geschichte mit dieser Droge habe. Was man nicht schließen sollte, ist, dass die lyrisch oder prosaisch veröffentlichten Vorkommnisse eigene Erlebnisse seien.

Fairerweise sollte ich zugeben, dass ich gerne mit diesem Phänomen spiele. Das Image des gequälten Künstlers liegt mir und es ist nicht nur ein Image. Das bedeutet jedoch nicht, dass ich autobiographisch schreibe. Die tiefsten Wahrheiten eines Menschen sind am weitesten von der Sprache entfernt. Lyrik macht es möglich, sie anzudeuten oder darauf hinzuweisen, dass es sie gibt. Sie lässt im Bestfall spüren, wie es sich anfühlt, diese Wahrheiten in sich zu tragen. Das kann sie jedoch nur dann, wenn sie vage oder trügerisch bleibt, anstatt explizit zu nennen zu versuchen, was Sache ist. Das Unaussprechliche ist manchmal nicht unaussprechlich aufgrund seiner Ungeheuerlichkeit, sondern weil es schlichtweg keine Sprache gibt, die Gefühle und Wahrheiten vollends auszudrücken vermöchte.

Im Vorwort zu Alte Milch heißt es: „Ich verspreche, ich sage die Wahrheit, aber nicht wirklich.“ Das kann auf zwei Weisen gelesen werden. Entweder ich spreche nicht wirklich die Wahrheit oder ich verspreche es nicht wirklich. Beide Varianten sind richtig. Man könnte es aber noch auf eine dritte Art lesen. Vielleicht „sage“ ich auch nichts Wirkliches, weil die Wirklichkeit hinter unserer Interpretation verborgen bleibt und eine persönliche Realität (verstanden als Zusammenspiel aus äußerer Wahrnehmung von Gegebenheiten und innerer Verarbeitung derselben) nicht durch Sprache auszudrücken ist. (Anmerkung: Einige Gedanken dazu finden sich auch im Eintrag Der Traum ist Teil der Realität.) Das heißt, kurz gefasst, dass ich Shit verändere oder erfinde, weil es anders nicht geht. Ich schreibe nur indirekt über mich.

Um zu wissen, wie ich bin, muss man ich sein.