Marvel, Mythen, Psychologie

Über Marvel-Figuren (Hulk. Captain America), Mythen und Psychologie.

Die Mythen der alten Griechen werden schon lange und gern als Ausdruck des kollektiven Unterbewusstseins der Menschen gelesen, als Literatur, die grundsätzlich die alle Menschen verbindenden psychologischen Vorgänge darstellt. Kann man Superheld*innen auch so lesen? (Vermutlich bin ich nicht der Erste, der sich diese Frage stellt, aber ich schreibe jetzt einfach mal drauflos und schaue, wo ich lande.)

Marvel Comics | MCU

Um nicht zu weit auszuholen, beschränke ich mich auf die Figuren von Marvel und dort hauptsächlich auf jene, die dank der Verfilmungen aus dem MCU (Marvel Cinematic Universe) und der Serien der letzten Jahre am bekanntesten sind.

Dualismus: Gut gegen Böse

Im Kern sind Superheld*innen-Geschichten simpel gestrickt: Es gibt eine*n Held*in, die*der für Moral, Mut, das Gute steht, und es gibt eine*n Gegenspieler*in („Bösewicht“), die*der Böses will. In der Umsetzung kommen immer noch Feinheiten hinzu, detailliertere Motivation, eine Backstory. Sonst würde es langweilig werden. Dass das Prinzip des Saubermanns gegen den Schurken nicht mehr wirklich zieht, merkt man daran, dass Figuren der guten Seite, die sich mindestens in der moralischen Grauzone bewegen, immer beliebter werden. Denken wir da an Punisher, Deadpool, Wolverine oder auch den Avenger Hawkeye und seine Gewalteskapaden zu Beginn des Films Avengers: Endgame.

Mit dem geringen Unterhaltungspotenzial einer streng dualistischen Welt (Gut vs. Böse) mussten sich die alten Griechen nicht quälen. Der Dualismus wurde in Europa erst durch das Christentum richtig groß (Gott vs. Teufel) und die hatten woanders her, was uns an dieser Stelle aber nicht weiter beschäftigen soll. Liest man heutzutage die Heldengeschichten von damals, wundert man sich, wer da so als Held bezeichnet wird. Moralisch fragwürdig schien eine Grundvoraussetzung zu sein. Interessanterweise kommen dadurch die Figuren der Mythen und die Mythen an sich näher an die Nacherzählung menschlicher Psychologie heran als die modernen Held*innenstorys. Dennoch finden sich einige Comicfiguren, die Grundsätzliches darzustellen scheinen.

Die Angst vor dem Kontrollverlust: Hulk

Dass der Hulk eine Neuinterpretation von Mr. Hyde aus Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde von Robert Louis Stevenson ist, Bruce Banner also ein Pendant zu Dr. Jekyll, muss man wohl kaum in Frage stellen. Mehrere interessante Faktoren spielen hier im Hintergrund mit. Lassen wir mal den klassistischen Ansatz von Stevenson beiseite. Es geht einerseits um den Wunsch, stark zu sein, die eigene Schwäche zu überwinden, und andererseits, die Angst davor, die Kontrolle zu verlieren (aber nicht im Sinne einer Abgabe der Kontrolle an andere Personen, sondern im Sinne einer Aufgabe der Kontrolle über sich selbst). Beide Antriebe einzeln finden wir häufig, aber kombiniert hauptsächlich im Umgang mit Drogen und besonders Alkohol: Ängste überwinden, Selbstbewusstsein und vermeintliche Stärke spüren, aber dafür ein Stück weit die Selbstbeherrschung aufgeben. Geht man zu weit, macht man sich lächerlich (oder stirbt schlimmstenfalls).

Auf einer anderen Ebene kann man die Transformation Banners in den Hulk auch als Wunsch eines Loslassens der Selbstkontrolle lesen, eines Auslebens von Frustration und Wut. Der Hulk ist immer wütend. Das kennen viele von uns. Aber der Hulk lebt seine Wut aus. Das macht ihn für uns interessant. Er handelt nach seinen dunklen Impulsen und hat dabei die Kraft, nicht gestoppt zu werden. Wer sich einmal richtig hilflos gefühlt hat, wird den Gedanken nachvollziehen können, dass man zwar ausrasten könnte, aber dafür umso mehr bestraft würde oder gar nichts bewirken würde. Wie gerne würde man dann zum Hulk werden und die Ungerechtigkeit, die uns widerfährt, zersmashen.

Die Hoffnung auf den Saubermann: Captain America

Weiter oben habe ich den Dualismus in Superheld*innengeschichten angesprochen. Captain America ist ein gutes Beispiel für den Guten. Er ist sauber, höflich, kämpft für das (vermeintlich) Gute, ist blond, männlich, Christ, Amerikaner, moralisch kompromisslos. Captain America ist eine patriotische Erlöserfigur, und vermutlich ist das der Grund, warum ich ihn nicht mag. Er ist die Verkörperung der Hoffnung, dass einer (ohne *) kommen wird, der uns alle rettet. Der Vergleich mit Jesus liegt gar nicht so fern. Captain America wird als „schwacher“ Mann geboren, nicht reich und nicht kräftig, aber hat ein Ziel, das er verfolgt, wie aus himmlischer Hand werden ihm Kräfte verliehen, er scharrt eine kleine treue Gefolgschaft um sich, mit denen er gegen das Böse kämpft und aus dessen Reihen sich später sein größter Gegner erhebt (der Winter Soldier, der durch sein unfreiwilliges Überlaufen zum Feind dennoch einen Verrat begeht), dann stirbt er und kehrt zurück, um die Menschen zu retten. Man könnte es sogar so lesen, dass die Transformation von Steve Rogers zu Captain America die erste Wiederkehr darstellt und die Rückkehr Captain Americas aus dem Eis die zweite: The Second Coming of Christ. Hier könnte man noch sehr weit interpretieren, aber darum soll es ja nicht gehen. Schließen wir also damit, dass die Figur und Story von Captain America nicht eine Darstellung eines Teils grundmenschlicher Psychologie ist, sondern die Darstellung einer anerzogenen, kombinierten Doktrin christlicher und USA-spezifisch nationalistischer Werte. Yay, Propaganda.

Vorläufiges Fazit

Ich habe mich verrannt. Das ist okay. Das ist Teil des Prozesses. Möglicherweise werde ich in nächster Zeit weitere Ideen zu diesem Blogeintrag hinzufügen, gerade fühlt er sich unvollständig und schief an.

Ähnliche Ideen packe ich manchmal in die Filmbeschreibungen der Blogreihe Thuraus Filmtagebuch. Gerade in den Ausgaben vom Juli und der kommenden für August werden etliche Marvel-Filme besprochen.

Ein einziger Absatz (von Cees Nooteboom)

Analyse eines Absatzes aus “Die folgende Geschichte” von Cees Nooteboom.

Noch immer, während ich dies schreibe, habe ich Die folgende Geschichte von Cees Nooteboom nicht ausgelesen und schreibe bereits den zweiten von diesem Buch inspirierten Blogeintrag. Den ersten findet ihr hier: Figurenbeschreibung und -kommunikation. Doch jetzt soll es um Gedanken zu einem kurzen Abschnitt des Werkes gehen:

»Abend in meiner Erinnerung, Abend in Lissabon. Die Lichter der Stadt waren angegangen, mein Blick war ein Vogel geworden, der ziellos über die Straßen flog. Es war kühl geworden, da oben, die Stimmen der Kinder waren aus den Gärten verschwunden, ich sah die dunklen Schatten von Liebenden, Standbilder, die sich aneinanderklammerten, sich träge bewegende Doppelmenschen. Ignis mutat res, murmelte ich, doch kein Feuer der Welt würde meine Materie noch verwandeln, ich war bereits verwandelt. Rings um mich wurde noch geschmolzen, gebrannt, da entstanden andere zweiköpfige Wesen, doch ich hatte meinen anderen, so rothaarigen Kopf schon vor so langer Zeit verloren, die weibliche Hälfte von mir war abgebrochen, ich war eine Art Schlacke geworden, ein Überbleibsel.« [Cees Nooteboom: Die folgende Geschichte; übersetzt von Helga von Beuningen; bei Suhrkamp]

Zur Situation: Der Ich-Erzähler ist begeisterter Lateinlehrer, ein großer Fan der Metamorphosen des Ovid, befindet sich in Lissabon und erinnert sich einer Liebschaft. Ignis mutat res ist ein altes, römisches Sprichwort und bedeutet: „Das Feuer verändert die Dinge“.

Was steckt alles in diesem wunderbaren Absatz? Mir geht es besonders um die Bezüge zu den Themengebieten, die den Erzähler ausmachen, also alles Lateinische, Griechische, Mythologische, Philosophische. Fangen wir mit den Doppelmenschen an. Platon ließ in seinen Dialogen andere für sich sprechen. In Symposion lässt er Aristophanes erzählen, dass Menschen früher 4 Arme, 4 Beine und 2 Gesichter hatten, bis Zeus sie aus Rache in Mann und Frau aufgespalten hat. Fortan suchten die Menschen ihre zweite Hälfte und mussten immer unvollständig bleiben. Dieses Bild steht im Zusammenhang mit der Seelenverwandtschaft. Zwei Menschen sind füreinander bestimmt, sie sind zwei Teile des gleichen Wesens. (Kurzer Ausflug: Laut Emanuel Swedenborg werden Liebespaare nach dem Tod im Himmel zu einem einzigen Wesen vereint werden, der dann ein Engel ist.) Auf diese Seelenverwandtschaft beziehungsweise den Verlust eines Teiles seiner selbst spielt der Erzähler hier meiner Meinung nach an. Einerseits versuchen die Liebespaare in der Stadt, zu vervollständigen, was bereits vor ihrer Geburt gespalten worden ist, sich gegenseitig zu komplettieren. Andererseits betont der Erzähler seine eigene Zerrissenheit. Er hat seinen seinen anderen, so rothaarigen Kopf schon vor so langer Zeit verloren, die weibliche Hälfte war von ihm abgebrochen.

Ich habe versucht, eine genauere Herkunft für das Sprichwort ignis mutat res zu finden als „römisches Sprichwort“, aber wurde leider nicht fündig. Die Herkunft solcher Sprüche ist oft unklar, aber zum Glück nicht immer. Nooteboom leitet damit jedenfalls eine Reihe von Ausdrücken, die mit dem Feuer in Zusammenhang stehen, ein. Worauf bezieht er sich hiermit?

Im ersten Gesang des zweiten Buches von Ovids Metamorphosen, der wichtigsten Grundlage unserer Kenntnisse der griechischen Mythologie, einem Werk, das sich, wie der Name sagt, um Verwandlungen dreht, geht es um Phaethon, den Sohn des Sonnengottes Helios. Phaethon besucht Helios eines Tages und nimmt seinem Vater das Versprechen ab, ihm einen Wunsch zu erfüllen, bevor er ihn geäußert hat. Dumme Idee, aber versprochen ist versprochen. Phaethon wünscht sich, eine Spritztour mit dem Sonnenwagen seines Vaters zu machen, mit dem dieser jeden Tag am Himmel entlangfährt – schließlich ist er die Sonne. Helios versucht es ihm erfolglos auszureden. Dann warnt er Phaethon, dass er weder zu hoch fliegen soll, um nicht den Himmel zu verbrennen, noch zu niedrig, um nicht die Erde zu zerstören. Was passiert? Phaethon kann die feuerspeienden Götterpferde vorm Wagen nicht kontrollieren und verbrennt die Welt, verändert sie.

Doch kein Feuer der Welt würde meine Materie noch verwandeln, sagt der Erzähler und greift damit nochmal das Sprichtwort auf. Das Feuer spielt auf die Geschichte von Phaethon an und das Wort verwandeln weist eindeutig auf die Metamorphosen hin. Kein Feuer der Welt kann man in diesem Fall auf das Feuer der Sonne beziehen, wodurch die Verwandlung des Erzählers vollkommen ausgeschlossen wird. Alle Paare, die er beobachtet, sind Einzelmenschen, die sich zu Doppelmenschen verwandeln, die einander finden und dadurch verändern. Aber der Erzähler verändert sich nicht mehr. Seine Sache, seine Lebensmaterie, (res) ist starr geworden. Es kann kein Zusammenführen der beiden Seelenhälften mehr geben. Tatsächlich hatte es sie bereits gegeben, gefolgt von einem weiteren Riss, einer Trennung (welcher Form auch immer).

Die Feuerbegriffe hören hier noch nicht auf. Um ihn herum wird noch geschmolzen, gebrannt. Meine Assoziation sind Ton und Metall. Feuchter Ton wird geformt und dann gebrannt, um fest zu werden. Metall wird erhitzt, um geformt werden zu können, und erkaltet danach in neuer Form. Zwei Wesen werden zu einem. Zum Ton assoziiere ich weiter, dass es mehrere Schöpfungsmythen, auch bei den alten Griechen, gab, nach denen die ersten Menschen aus Lehm geformt worden sind. Ton ist ein Teil der Lehmerde und daher passt es doch wieder. Zum erhitzten und dann erkalteten Metall im Bezug auf die Liebe habe ich eher die Assoziation, dass die Beziehung anfangs heiß ist, es dann zu einer dauerhaften Beziehung (Ehe) kommt und alles erkaltet. Das ist wenig romantisch. Nooteboom schreibt aber intelligent und humorvoll genug, um eine solche Idee einzuschmuggeln. Außerdem würde es einen schönen Rahmen ziehen: Die Beziehung des Erzählers zur Geliebten wurde unterbrochen, bevor sie völlig gefestigt oder komplett erkaltet war, sondern zu einem Zeitpunkt, als alles stimmte, einem Zeitpunkt, an dem es richtig wehtut.

Der Erzähler bezeichnet sich selbst als Schlacke, also als der nutzlose Rest, der bei der Verbrennung von Kohle oder der Verhüttung von Erzen übrig bleibt – Überbleibsel, sagt er ja selbst. Er bleibt im Bild des Feuers, des Schmelzens und der Verwandlungen.

Deshalb wollte ich über diesen Absatz schreiben. Er hat auf so vielen Ebenen etwas zu bieten und ich habe noch nicht einmal vom wunderschönen Bild des Vogels am Anfang – Prophetischer Vogelflug? Verwandlungen des Zeus in Tiergestalten? –, von der poetischen Sprache oder der perfekten Verknüpfung der sprachlichen Bilder und der Figurencharakterisierung gesprochen. So sieht richtig gute Literatur aus. Sprache, Gefühl, Figur, Spielerei und Tiefe bilden eine Einheit, verwandeln sich wie ein Liebespaar zu mehr als der Summe ihrer Einzelteile.

Orte, Körperteile, Evolution und intelligentes Design

Über literarische Vergleiche von Orten und Körperteilen, mit einem Ausflug in die Philosophie.

Es ist etliche Jahre her, dass ich Henry Millers Im Wendekreis des Krebses gelesen habe und ich habe vieles daraus vergessen, nicht jedoch einen Vergleich, der mich damals bereits faszinierte. Millers Geschichte spielt in Paris und der Ich-Erzähler wandert viel durch die großen und kleinen Straßen der Stadt. Dieses Straßennetz vergleicht er an einer Stelle mit dem Querschnitt eines Penis’, mit all den Kammern und Gefäßen, dünnen und dicken Adern. Wieso ist das so faszinierend?

Ein möglicher Grund dafür, dass ich mir dieses Bild gemerkt habe, könnte an meiner mimosenhaften Empfindlichkeit und meiner ausgeprägten Fantasie liegen: Ich stellte mir das aufgeschnittene Glied vor. Aber auf einer ganz anderen Ebene ist der Vergleich oder die Gruppe von Ortsvergleichen mit Teilen des menschlichen Körpers interessant. Kopiert der Mensch (absichtlich oder unabsichtlich?) in künstlichen Konstrukten die Bauwerke der Natur? Dass etliche Erfindungen auf Naturbeobachtungen beruhen, ist bekannt. Augen zu Kameras, Falken zu Flugzeugen und, was ich ebenfalls einmal gelesen habe, die Nutzung von bestimmten Pflanzen zu medizinischen Zwecken durch die Beobachtung entsprechender Verhaltensweisen bei Tieren. Doch dachte jemand bei der Planung einer Stadt an einen Blutkreislauf, in dem Autos wie Blutkörperchen fließen? Die wenigsten Städte sind von Grund auf geplant, also sollte sich die Frage bei älteren Städten von selbst erledigen, oder?

Im Laufe der Philosophiegeschichte gab es immer wieder Versuche von Gottesbeweisen. Manche bildeten eine direkte Kette, beispielsweise die Argumentation des unbewegten Bewegers von Thomas von Aquin (grob gesagt: jemand/etwas muss den Stein ins Rollen gebracht haben, weil jede Bewegung einen Auslöser haben muss), während andere indirekt argumentierten (beispielsweise David Hume), die den Begriff des intelligent design einführten und verbreiteten, der im Grunde skeptisch fragt, wie die Natur ohne Steuerung durch Gott komplexe Dinge wie das Auge hätte entwickeln sollen. Beim Argument des intelligenten Designs merkt man, dass wir uns in einer Zeit vor der Evolutionstheorie befinden.

An dieser Stelle könnte man den Bogen schlagen: Handelt es sich beim funktionierenden Straßennetz – gehen wir mal davon aus, dass es funktioniert – einer „natürlich“ gewachsenen, also nicht von vornherein geplanten, Stadt um eine Art von Evolutionsergebnis? Design ist es schließlich nicht oder wenigstens nicht vollständig. Eine Entwicklung hat über Jahrzehnte und Jahrhunderte stattgefunden, aus einer Fläche wurde ein Netz von Trampelpfaden, die kürzesten, effektivsten Strecken setzten sich durch, dann wurden die wichtigsten Pfade zu Straßen und am Ende steht ein komplexes Straßennetz, das alle Gebäude miteinander verbindet. Da sich effektivere Strecken gegen weniger effektive durchgesetzt haben und reine Fußwege zu einer Art Nischenexistenz verdrängt wurden, kann man sich durchaus einen Vergleich mit der Evolution erlauben.

In der Natur setzt sich ebenfalls das für die jeweilige Situation am besten angepasste System durch. Der menschliche Blutkreislauf dürfte für unsere Körper und unsere vielfältigen Lebensräume ideal sein. Dass der Körper, das Herz, die Gefäße, der Ernährung und der fehlenden Bewegung unserer Zeit manchmal nicht mehr standhalten kann, zeigt nur, dass sich unser Leben, das heißt das äußere System, an das sich der Körper anpassen müsste, geändert hat, nicht dass unsere Körper nicht für ihre natürliche Umgebung perfekt aufgestellt wären.

Nach diesen Überlegungen wäre jeder Vergleich zwischen Orten und Körperteilen durch die zugrunde liegenden Entwicklungsmechanismen beider Dinge sowohl gerechtfertigt als auch passend. Natürlich muss der Vergleich auch entsprechend gewählt werden: Ein Straßennetz kann schlecht mit der Funktion eines Fußes verglichen werden – oder vielleicht irre ich mich auch, dann würde mich die Umsetzung interessieren.

Hier kommen wir an einen schwierigen Punkt. Was, wenn unsere Art zu denken, uns einen Streich spielt? Sind die oben angesprochenen Vergleiche wirklich stimmig im Sinne einer ähnlichen Entwicklung und Familiarität oder nutzen wir so häufig und selbstverständlich Vergleiche, um Erklärungen zu vereinfachen, dass wir Verbindungen sehen, wo kaum welche sind? Sieht ein Straßennetz aus wie ein Blutkreislauf oder sehe ich nur, was ich sehen möchte?

Es gibt bei guten Vergleichen eindeutige Parallelen und diese sind sowohl unbestreitbar als auch ausreichend, um die Vergleiche zu rechtfertigen. In Das Maurerdekolleté des Lebens vergleiche ich einen Teil des Labyrinths, der eine Art Kanalisation darstellt, mit einem Darm. Ursprünglich war das die Begründung für diesen Blogeintrag, aber dann bin ich ein wenig abgekommen. Eine Kanalisation und ein Darm haben ähnliche Funktionen. Es geht soweit, dass man die Kanalisation als Fortsatz aller Därme einer Stadt betrachten könnte. Zwar nimmt sie keine Nährstoffe mehr auf, aber führt den Schmutz ab, den der Körper, die Stadt, produziert. Der Vergleich ist literarisch also problemlos machbar, aber er hilft uns nicht in der Frage, ob Vergleiche mehr sind als Denkhilfen. Letzter Gedanke dazu: Wären sie mehr, also würden sich alle Muster in allen Schichten der Existenz wiederholen, wären wir bei einer Grundlage der Alchemie angekommen: As above, so below.

Wenn das Straßennetz einer Stadt sich ähnlich natürlich entwickelt hat wie der Blutkreislauf von Säugetieren und ich als Autor eine Geschichte entwickele, die nicht natürlich gewachsen, sondern durchgeplant ist, werde ich zum intelligenten Designer oder bloß zum unbeteiligten Beobachter?

Das Maurerdekolleté des Lebens: Zu gut, um wahr zu sein?

Über eine Szene aus der Erzählung “Das Maurerdekolleté des Lebens” und die Psychologie dahinter.

Es soll in diesem Blogeintrag um einen ganz kleinen Part aus Das Maurerdekolleté des Lebens gehen. Wer das Werk völlig unvoreingenommen lesen möchte, sollte diesen Text also erst nach der Lektüre des Buches lesen. Ohne Spoiler geht es nicht.

»Ein anderer Weg führte nach rechts, doch wurde Theo misstrauisch. Von dort roch es nach frisch gebackenen Keksen und er hörte Musik. Blickte er in den Seitentunnel, fühlte er sich sicher. Dort schien es trocken und warm zu sein, weich und gemütlich. Die Sache war ihm nicht geheuer. Ihm fielen Hänsel und Gretel ein. Es schien zu gut, um wahr zu sein.«

Theo hat sich verlaufen, befindet sich in einem Tunnel und sieht keine besseren Optionen links oder rechts. Dann begegnet ihm inmitten des Ekels und der Orientierungslosigkeit etwas Schönes. Was tut er? Er glaubt nicht an sein Glück und geht daran vorüber.

Im tiefsten Elend ist man meist bereit, nach jeder Hand zu greifen, die gereicht wird. Doch schnell lernt man, die Hoffnung fahren zu lassen. Sie führt nur zu mehr Schmerz. Es ist erheblich weniger anstrengend, sich im Dreck zu suhlen, als sich herauszuziehen (selbst mit Hilfe). Dabei lohnt sich die Anstrengung – meist jedenfalls. Das Risiko einer weiteren Enttäuschung ist es wert eingegangen zu werden. Wer ganz unten ist, kann nicht tiefer fallen. Wer Angst hat, noch schlimmer dran zu sein, ist noch nicht ganz unten angekommen.

Theo läuft durch ein schmutziges Labyrinth. Wieso sollte dort unten plötzlich ein Ausweg auftauchen? Die Frage müsste lauten: Wieso nicht? Hänsel und Gretel haben im Hexenhaus gelitten, doch sie kommen stärker und erfahrener zurück. Hätten sie geahnt, was ihnen bevorstehen sollte, wären sie nicht hineingegangen. Wie wägt man ab? Jede Chance ist ein Risiko, jede Hoffnung eine Möglichkeit, erneut abzustürzen.

Es gibt mehrere ungesunde Verhaltens- und Denkweisen, die man in die Szene hineininterpretieren kann, und entsprechend mehrere Lesarten. Theo hat noch immer ein Ziel, das er zu erreichen versucht. Dieses Ziel ist nicht Glück oder Liebe oder sonst etwas Schönes, sondern ein Arbeitsplatz. Man könnte es so lesen, dass er sich durch das Labyrinth quält, um sich danach weiter abzurackern. Das gäbe Theo einen energischen Kern und der nach Keksen duftende mögliche Ausweg erschiene als Ablenkung, als Ort der Faulheit, als Betrug (sofern es eine Abkürzung wäre und er sich vor der nötigen Qual drückt) und als Abkommen vom Ziel. Menschen, die sich Pausen und angenehme Unterbrechungen ihrer Arbeit nicht gönnen (können), gibt es in unserer Gesellschaft zuhauf. Leistung wird belohnt und Muße als Faulheit betrachtet. Selbst Arbeitserleichterungen werden misstrauisch betrachtet, weil man mit neuen Hilfsmitteln plötzlich weniger hart arbeiten muss und weil jede Veränderung schwierig ist.

Das wäre bereits die zweite Lesart: Angst vor Veränderungen. Theos Weg repräsentiert auch sein Leben und in diesem hat er nichts als Wirrnis, Furcht, Dunkelheit, Schmutz und Ekel kennengelernt. Noch immer ist er orientierungslos unterwegs, aber er ist inzwischen lang genug in dieser unangenehmen Welt, dass er sie halbwegs kennt. Die Schulzeit ist vorbei, er ist durch die Mangel gedreht und indoktriniert worden, bevor er geschluckt und verdaut wurde. Ist der Weg sein Leben, dann kennt er nichts anderes als diesen Weg. Wie viele Menschen fürchten sich vor neuen Wegen, Erfindungen, Gesellschaftsformen, Moden oder Zuständen, nur weil diese eben neu sind? Es ist eine natürlicher Schutzinstinkt, vorsichtig gegenüber Neuem zu sein. Wollte ein Höhlenmensch seine Geschmackspalette erweitern, riskierte er sein Leben. Angst ist ein Gegenpol zur Neugierde. Ich glaube, dass mit zunehmendem Alter die Neugierde schwächer und die Angst vor Veränderungen größer wird. Das ist der Grund für Generationenkonflikte. Doch nicht nur das Alter verschiebt die Balance zwischen Angst und Neugierde, sondern auch Gefahr (oder der Anschein von Gefahr). Immer mehr Freiheit wird aufgegeben, um Sicherheit zu gewährleisten, und man muss gut aufpassen, wann welche Einschränkungen akzeptabel sind, was kurzfristig ist und was bleibt. Theos Entscheidung, nicht in den unbekannten (weil anders als die anderen gearteten) Tunnel abzubiegen, ist eine Entscheidung für die Sicherheit, die das Vertraute bietet, so unangenehm es auch sein mag, und gegen die unsichere Möglichkeit der Veränderung.

Dazu passend wäre der Gedanke an Menschen, die so viel Schlechtes erlebt haben, dass Gutes Misstrauen erzeugt. Es ist beinahe hinterhältig, wie das Schicksal mit Menschen spielen kann. Von außen wird Leid herangetragen und bleibt es lange genug, misstraut man dem Glück. Wer kennt nicht das Gefühl, dass das Leben zu gut oder zu einfach läuft? Dieses Gefühl, dass schon zu lange nichts mehr schiefgelaufen ist. Beinahe fühlt es sich ein Schwebezustand an. Man ist nicht wirklich im Bereich des Positiven, sondern wartet auf das Negative, ist dadurch in der Grauzone zwischen beidem und lässt sich von der Unsicherheit auffressen. In Zeiten von Covid19 könnte man es mit der Angst vor einer Ansteckung vergleichen: Die meisten sind sich relativ sicher, dass sie keinen schweren Verlauf hätten, aber man weiß ja nie. Es wäre einfacher, wenn man wirklich krank wäre und Bescheid wüsste, anstatt zu rätseln. Der angenehm wirkende Tunnel wäre die Hoffnung und vielleicht der Weg zu einem angenehmeren Leben, während der Weg, auf dem Theo letztendlich bleibt, die harte Realität darstellt, die auf ihre unangenehme und konkrete Weise sicher erscheint. Manche Menschen ruinieren sich das wenige Schöne, das sie finden (oder das sie findet), in der Sorge, dass es irgendwann nicht mehr schön sein wird.

Ich weiß nicht, wohin die Abzweigung führt. Es könnte eine Falle sein oder die schönstmögliche Version von Theos Reise. Das eben ist das Problem: Man kann es nicht wissen, wenn man es nicht ausprobiert. Sollte er zu einem späteren Zeitpunkt erneut an die Entscheidung gegen den Tunnel denken, wird ihn das sicherlich quälen.

Joker: What We F*ing Deserve

Besprechung des Films “Joker” und Interpretation einiger Szenen.

Aus zwei Gründen gehe ich selten ins Kino: 1. Kinobesuche sind teuer und 2. viele Kinofilme sind den Ticketpreis nicht wert. Joker habe ich mir jedoch im Kino angesehen und ich habe es nie bereut. Beim zweiten Sehen habe ich mir Notizen gemacht, um euch diesen Blogeintrag präsentieren zu können. Es wird einige dicke Spoiler geben. Fazit vorweg: Guckt euch den Film unbedingt an!

Während Marvel-Filme eine gewisse Konsistenz aufweisen, indem sie fast alle mittelmäßig (und unterhaltsam) sind, gibt es bei DC-Verfilmungen eine Bandbreite von schlechten und vorhersehbaren Filmen bis zu brillanten Kunstwerken. Wer ist daran Schuld? Ist mir egal. Ich ertrage 5 Green Lanterns für einen Dark Knight oder Joker. Also sprechen wir über das neueste Kunstwerk aus den Comic-Tiefen von DC.

Der Film beginnt und wir sehen Arthur, der später zum Joker werden wird, vor dem Spiegel sitzen. Gebrochen, traurig, bereits zu Beginn des Films am Ende seiner Kräfte. Er trägt die weiße Grundierung seines Clown-Make-Ups auf, hakt die Finger in die Mundwinkel und zieht sein Gesicht in Falten, kreiert ein grauenhaftes Lächeln unter schmerzerfüllten, halbtoten Augen. Ich liebe dieses Bild. Was Joaquin Phoenix für diese Figur leistet, seine Mimik, seine Gestik, sein Körper und seine Körperhaltung erinnern mich an die Leistungen von Christian Bale in The Machinist, für den er sich auf unglaubliche Maße heruntergehungert hatte. Leiden für die Kunst ist bekanntlich etwas, womit man mich beeindrucken kann. Das tote Lächeln vorm Spiegel ist eines der Bilder, die hängen bleiben.

Die Treppe ist ein anderes dieser Bilder. Wer den Film gesehen hat, weiß sofort, von welcher Treppe ich spreche. Es gibt eine lange Treppe, die Arthur auf dem Heimweg mühsam hinaufsteigen muss. Die gleichen Stufen tanzt er später, nach seiner Transformation zum Joker, hinab. Mehrmals kehrt der Film an diesen Ort zurück, doch niemals geht Arthur hinab, immer nur hinauf. Der Joker steigt hinab. Es scheint so schwierig für Leute wie Arthur aufzusteigen, während es so furchtbar einfach ist, nach unten zu gelangen. Arthur müht sich ab, aber der Joker tanzt – und zwar nicht verkrochen in der Wohnung, wie Arthur es gelegentlich tut.

Der mühsame Aufstieg passt zu Arthurs jahrelangen Versuchen, es hinzukriegen und positiv zu bleiben. Denn Arthur ist im Grunde zutiefst positiv und optimistisch: Er arbeitet, er glaubt, dass die Welt mehr Lachen braucht, er träumt von Bedeutsamkeit und Zustimmung, er nimmt seine Medikamente und geht zur einzigen Form von Therapie, die er sich leisten kann, bei den Social Services. Die Welt lässt ihm seinen hartnäckigen Optimismus nicht. In seiner letzten Therapiesitzung wirft er der Therapeutin vor, „you don’t listen, do you?“ und das sagt er tragischerweise zur einzigen Person, die wenigstens aus Professionalität halbwegs zuhört. Er gesteht ihr: „All I have are negative thoughts.“ Dann wird ihm mitgeteilt, dass fortan Therapie und Medikamente wegfallen werden. Der Absturz ist vorgezeichnet.

Doch gehen wir ins Eingemachte. Mehrmals sagten Batman oder Psychiater in den Comics über den Joker, dass er selbst kaum unterscheiden könne zwischen Realität und Einbildung, und besonders, dass er immer wieder neue Vergangenheiten zusammenspinnt. Dadurch wird jede Origin-Story potenziell zum Kopfkino des Jokers. Das gilt auch für diesen Film. Am Ende sieht man Arthur, den Joker, vor einer Psychiaterin sitzen – gleiches Gesicht wie die Therapeutin der Social Services, andere Frisur, anderes Auftreten – und sie fragt, worüber er lache. Es wird angedeutet, dass er sie umbringt und ausbricht. Damit ist eine naheliegende Interpretation, dass alle Geschehnisse des Films im Kopf des Jokers passiert sind. Das wiederum hieße, dass diese Origin-Story nicht stimme, dass nicht die Gesellschaft ihn über die Klippe zum totalen Wahnsinn, manifestiert im Joker, getrieben hat, sondern im Grunde er selbst – natürlich beeinflusst von Arthurs tatsächlicher Vorgeschichte. Der Name Arthur taucht allerdings in der einzigen mir bekannten Origin-Story in den Comics auf: in The Killing Joke (einem absoluten Must-Read für alle Joker- und Batman-Fans).

Im Film geht Arthur zum Anwesen der Waynes, weil er von seiner ebenfalls geisteskranken Mutter überzeugt worden ist, dass Bruce Wayne sein Halbbruder sei, Thomas Wayne also sein Vater. Hier musste ich im Kino stutzen. Bruce ist ein kleiner Junge, Thomas und Martha leben noch, wir befinden uns pre-Batman-Origin. Der Altersunterschied zwischen Bruce, Batman, und Arthur, Joker, ist im Film enorm, während beide in den Comics ungefähr das gleiche Alter haben müssten, weil Batman sonst einen Joker nahe der 60 bekämpfen würde, was nie so zu sein scheint. Allerdings glaubte der Joker in allen Comics an eine tiefe Verbindung zwischen ihm und Batman. Er wusste in vielen Geschichten sogar, dass Bruce Wayne Batman ist. Die scheinbare Verbindung der beiden wäre durch die Illusion einer Verwandtschaft betont. Eine weiterer Verknüpfungspunkt wird gegeben, wenn sich Joe Chill, der Mörder von Thomas und Martha, am Ende des Films in einer Joker-Maske und am Rande der vom Joker inspirierten Straßenschlachten an sein Werk begibt. Damit wäre in Jokers Fantasie, sofern der Film eine Einbildung des Jokers darstellt, er selbst sowohl mit Batman verwandt als auch mitverantwortlich für dessen Entstehung.

Die Kopfkino-Theorie wird außerdem unterstützt durch die Darstellung von Alfred, dem Butler der Waynes, und von Thomas Wayne. In den Comics werden beide meist extrem positiv gezeichnet: Alfred ist überaus höflich, immer eloquent, aber keineswegs schwach. Thomas ist meist ein Quasi-Heiliger, der zwar zu den Superreichen zählt, aber gleichzeitig als Arzt in den übelsten Vierteln arbeitet und/oder Bahnstrecken errichtet, um das Leben in der Stadt zu verbessern. Im Film sind beide unsympathisch und elitär. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass die Comics die Perspektive von Batman/Bruce, die Sicht des Waisen auf seinen echten Vater und seinen Ziehvater, zeigt, während der Film die Perspektive des Jokers einnimmt.

Ich merke gerade, dass ich noch seitenweise weiterschreiben könnte: über eine Hommage an Dark Knight, über manche Zitate, über die Subjektivität von Humor (einem extrem wichtigen Thema des Films), über die Wahl der Musik, das Oldschool-Flair des Films oder über die Diskussion „gebrochene Lanze für alle mit psychischen Erkrankungen versus die angebliche Verherrlichung von Gewalt und Rache“. Eine meiner Notizen sagt: „Joker ist der Taxi Driver unserer Generation, aber mit passenderem Ende“, was heißen soll, dass die Stile durchaus ähnlich sind und es inhaltliche Parallelen gibt, aber Taxi Driver es sich damals nicht traute, realistisch, ehrlich, brutal, verstörend zu enden (obwohl man auch hier interpretieren könnte, dass das Ende des Films ebenfalls nur im Kopf des Protagonisten stattgefunden hätte und er tatsächlich im Bordell verblutet ist oder möglicherweise in einer Psychiatrie dahinsiecht). Allein über die Szene, in der Arthur in den Kühlschrank steigt, könnte ich einen kompletten Blogeintrag schreiben … Vielleicht werde ich das auch.

Was bleibt noch zu sagen? Send in the clowns … there should be clowns …

Alte Milch: Stadt Land Fluss

Über die Hintergründe des Gedichts “Stadt Land Fluss” im Lyrikband “Alte Milch”.

In diesem Artikel wird es um das Gedicht Stadt Land Fluss aus meinem Gedichtband Alte Milch gehen. Damit ihr nicht blättern müsst, serviere ich es euch gratis:

Hänge voller Menschentrauben
Zertreten zu erlesenstem Weinen
Im Gleichschritt im Berufsverkehr

Steine und Stahl bewalden den Himmel
Erwachsen aus kindlichem Boden
Zerkratzen die Neurodermitis der Wolken

Doch Menschen können noch schwärmen
Gemeinsam für Wunder wie Heuschrecken
In millionenfacher Einzigartigkeit

Angefangen hat alles mit dem Wort „Menschentraube“, das ich irgendwo aufgeschnappt hatte. Es ist ein schönes Wort. Mein Verstand ging sofort auf Reisen und assoziierte wild los. Was macht man aus Trauben? Wein. Wein wächst an Hängen, auf Weinbergen, die auf uns Stadtmenschen oft idyllisch und beinahe natürlich wirken. Um Wein aus Trauben herzustellen, werden beziehungsweise wurden sie in großen Bottichen zertreten. Mit dem Wort „Wein“ verband ich außerdem sofort „Weinen“. Damit war das erste Bild, die erste Strophe, entstanden. Eine Mischung aus Stadtbild und Weinproduktion. Die zweite Zeile ist also keineswegs grammatikalisch falsch, obwohl man durchaus darüber stolpern soll. In der Stadt werden Menschen hin und her geschoben, es ist beengt und manchmal beklemmend. Die Anonymität ist deprimierend und der Zwang, unnatürlich scheinende Arbeiten zu erledigen, entfernt uns ein Stück weit von unseren Ursprüngen und kann zu einem sinnentleerten Leben führen. Ungefähr solche Gedanken wollte ich mit der ersten Strophe provozieren. Übrigens wurden früher Weintrauben auch gern zum Klang von Musik zertreten, um einen gewissen Rhythmus und Gleichschritt herbeizuführen.

Schaut man sich in Großstädten um, wandert der Blick schnell nach oben. Hochhäuser wachsen wie Wälder aus dem Boden. In der ersten Zeile der zweiten Strophe ist wieder ein Vergleich zwischen Stadt und Natur – Wald versus Architektur. Die zweite Zeile stellt den kindlichen Boden dem (Er)wachsen der Gebäude gegenüber. Kindlichkeit steht gegen Erwachsensein, also Naturzustand gegen Zivilisation oder Entwicklung. Die höchsten Punkte der Stadt stoßen bereits an die Wolken, sie kratzen daran, wie ja das Wort „Wolkenkratzer“ sehr schön ausdrückt. Einerseits wollte ich auf Wolkenkratzer anspielen und andererseits mit der Neurodermitis, die häufig stressbedingt ist, auf das nervöse Leben im Schatten dieser Riesen sowie auf die angegriffene Natur, die unter der menschlichen (und besonders der technischen) Entwicklung gelitten hat. Weiter zu kratzen ist kaum ein Weg zur Heilung, sondern verschlimmert das Problem noch, wenn es auch kurzzeitig erlösend wirken mag. Ich denke an die Schönheit mancher Städte, die zu verschleiern versucht, was auf dem Weg ihrer Entstehung alles zu Bruch gegangen ist.

In der dritten Strophe bleiben wir bei Naturbildern, hier das Schwärmen der Heuschrecken. Heuschrecken sind nicht nur eine biblische Plage, sondern auch eine reale. Sie tauchen in ungeheurer Anzahl auf und fressen alles kahl. Ihre Anwesenheit ist das Ende der existierenden Pflanzenwelt. Sie erholt sich irgendwann, jedoch erst, wenn die Heuschrecken wieder verschwunden sind. Die menschlichen Heuschrecken werden allerdings nicht so schnell verschwinden und die Natur ist in vielen Bereichen längst irreparabel zerstört. Wir fressen die Erde leer und hinterlassen eine Spur der Verwüstung – manchenorts wortwörtlich. Aber es steckt noch mehr in der dritten Strophe. Schwärmen kann auch für Begeisterung stehen. Trotz der grauen Welt um sie herum träumen die Menschen noch und hoffen auf Wunder, auf Erlösung vielleicht, einen Lottogewinn, das große Los oder die eine große Liebe. Wir träumen uns weg und fressen doch weiter wie Heuschrecken. Unsere westliche Erziehung hat uns alle gelehrt, dass wir einzigartig seien. Wir alle haben persönliches Glück und Erfüllung verdient, und doch scheinen wir alle die gleichen Fehler zu begehen. Nur selten verstehen wir uns selbst als Teil von etwas Größerem, von der Menschheit oder der Natur. Uns ist der Blick für das große Ganze verloren gegangen. Das ist wohl ein Grund dafür, dass kaum jemand bereit ist, für den Umweltschutz oder die Abwendung des Klimawandels Einschränkungen auf sich zu nehmen. Ich bin einzigartig, ich habe mir das verdient. Und weil so viele so denken, ändert sich wenig. Versucht die Politik, etwas zu ändern, fühlen wir uns in unserer Freiheit und Individualität eingeschränkt. Unsere Einzigartigkeit ist zu häufig eine Tarnung unseres Egoismus’.

Strophe Drei wird mit einem die vorherigen Strophen widersprechenden Doch eingeleitet, das ein Gefühl von Hoffnung aufkommen lässt, welches sich durch die drei Zeilen zieht. Liest man jedoch genauer, wird schnell deutlich, dass es sich um eine falsche Hoffnung handelt, ein künstlich hergestelltes Gefühl, um von der Wahrheit abzulenken. Denn die Wunder, für die die Menschen schwärmen, können keine wahren sein oder wenigstens nicht ihre eigenen. Sie agieren noch immer wie ein Schwarm von Insekten, der gemeinsam in irgendeine Richtung drängt, ohne zu wissen warum. So gelesen, wären sämtliche echten Wunder in Gefahr, bedroht durch die menschliche Heuschreckenplage, die alles in ihrem Weg zerfrisst und dann weiterzieht – wie sie Moden, Künstler oder politische Trends kurz aufnimmt und dann wieder wegwirft und vergisst. Wir sollten unsere wertvolle Einzigartigkeit nutzen, uns umsehen und selbst entscheiden, was wir aus der grundsätzlichen Aussage „Hier läuft doch etwas falsch“ machen.

Ich muss zugeben, dass ich selbst mehr träumerische Naturfantasien im Kopf hatte, als ich den Text verfasste, und weniger eine konkrete Forderung nach mehr Bewusstsein für die eigenen Taten und ihre Auswirkungen auf die Umwelt. Eine Lesart der letzten Strophe, die etwas simpler ist, könnte man formulieren als: Vielleicht sind wir gar nicht so besonders und vielleicht, nur vielleicht, tut uns ein bisschen Demut hier und da ganz gut. Dieser Aussage gibt ein weiteres zivilisatorisches und städtisches Phänomen Rückendeckung: Die Werbung. Werbung ist die Fortsetzung der Propaganda mit anderen Zielen (um mal ein Zitat von Carl von Clausewitz abzuwandeln). Täglich werden wir bombardiert mit Bildern, Farben, Gerüchen und Tönen, die uns dazu bringen sollen, bestimmte Produkte oder insgesamt mehr zu kaufen, und es wirkt. Es wirkt bei jedem von uns. Die Gemüseabteilung im Supermarkt hat einen Fußboden in Holz-Optik, weil wir das mit Natur in Zusammenhang bringen, im Laden läuft Musik, die darauf abgestimmt ist, uns bessere Laune zu machen, die Wege sind so angelegt, dass wir an allen Angeboten vorbeigehen müssen, Geruchsstoffe werden verbreitet, die uns unbewusst Appetit machen, und an der Kasse liegen unumgänglich Kleinigkeiten, die wir betrachten und auf die wir Lust bekommen, während wir brav in der Schlange warten. Dass wir alle mehr oder weniger darauf hereinfallen, zeigt doch, dass wir alle irgendwie gleich sind – ein Dämpfer für unsere absolute Einzigartigkeit. Was mancher als originellen eigenen Gedanken empfindet, hat er vorher hundertfach in Werbespots vermittelt bekommen. Wir sind Produkte unserer Umwelt. Wie gesagt, ich schließe mich keinesfalls aus.

Im Gegensatz zu vielen anderen meiner Gedichte ist Stadt Land Fluss sauber strukturiert in drei Strophen a drei Zeilen, wie eine am Reißbrett entstandene Stadt. Innerhalb der Strophen aber stolpert man hier und da, das Tempo ändert sich leicht, ein Fremdwort wird verwendet und außerdem eine grammatikalische Konstruktion, die man nicht erwartet. Es brodelt in den Städten, denn die Menschen sind noch immer zu einem guten Teil Tiere, die der lockereren Ordnung der Natur folgen und nicht dem strikten Gleichschritt der Zivilisation. Darüber darf man gerne nachdenken.

Wie funktioniert Interpretation?

Welche Vorgänge stehen hinter einer Interpretation?

(Eines vorweg: Dies ist keine Anleitung für korrekte Interpretationen und nutzt niemandem, der gerade nach Hilfe bei den Hausaufgaben sucht.)

Durch das Buch, das ich gerade lese (Hans-Joachim Maaz: Das falsche Leben), kam ich auf ein paar interessante Gedanken und Fragen. Zunächst dachte ich, dass ich die bildlichen Vergleiche in der Psychoanalyse hochinteressant finde, aber ich frage mich, inwiefern sie zutreffend sind oder sein können. Asthma als Erkrankung, die anzeigen soll, dass man sich erdrückt fühlt und einem die Luft zum Atmen in einer Beziehung (z.B. zu den Eltern) fehlt, klingt spannend, aber scheint mir völlig unbeweisbar oder wenigstens auf einen Glauben an einen Verstand hinzuweisen, der selbst bildhaft denkt und reagiert. Von den Thema habe ich allerdings zu wenig Ahnung, um es ernsthaft bewerten zu können. Mir kam durch diesen Gedanken jedoch die Idee, dass diese Vergleiche und dieses bildhafte Denken der literarischen Interpretation recht nahe zu stehen scheint.

Vor einer Weile habe ich Michael Leuchtenbergers Geschichte Das Archiv interpretiert (Hier geht es zum entsprechenden Artikel: Alte Akten und wilde Spekulationen). Diese scheint mir noch immer passend zu sein. Aber wie funktioniert eine Interpretation? Warum erscheint es logisch, Akten als Erinnerungen zu verstehen?

Für ältere literarische Epochen gibt es schon lange gewisse Regeln, um Texte zu verstehen. Dabei denke ich beispielsweise an die blaue Blume in der Romantik, die für Sehnsucht und Liebe und für das metaphysische Streben nach dem Unendlichen steht laut Wikipedia (und vielen anderen Quellen). Kennt man eine solche Regel und weiß, dass sich die Autor*innen der Romantik sich daran gehalten haben, fällt eine Interpretation erheblich leichter. Jedoch muss irgendwer auf die Idee gekommen sein, dass eine farbige Pflanze für innere Vorgänge stehen könnte. Wie kann das sein? Wie und wieso ziehen wir Parallelen zwischen derart unterschiedlichen Dingen?

Zunächst mal sollte klargestellt werden, dass ich diese Fragen nicht stelle, weil ich sie beantworten kann, sondern weil ich sie mich beschäftigen. Mit Texten wie diesem hier versuche ich selbst schreibend und denkend mögliche Antworten zu entwickeln. Es handelt sich um einen schreibenden Denkprozess. Wo sind also die Verbindungen und warum erscheinen sie mir logisch? Eine mögliche Lösung könnte in einem erweiterten Blickwinkel gefunden werden. Eine Akte beziehungsweise das Wort allein kann noch nicht legitim mit einer Erinnerung gleichgesetzt werden, auch wenn man Erinnerungen als Daten im Gehirn bezeichnen könnte und Aktenordner physisch festgehaltene Daten beinhaltet. Trotzdem wäre es zu weit gegriffen, jede Erwähnung von Akten(ordnern) in der Literatur als Erinnerungen zu interpretieren. Es ist bloß eine einzelne Assoziation. Man muss selbstverständlich die gesamte Geschichte betrachten und Konstellationen oder Ansammlungen ähnlicher Assoziationen sammeln. Die Mischung aus dem Abstieg in einen Keller, alten Akten, einem traumatisierenden Erlebnis und einer erwähnten Psychotherapie bildet ein Netzwerk aus Vorkommnissen, die alle in die gleiche Richtung interpretiert werden können. Hinzu kommen manchmal Schlagworte oder Hinweise innerhalb des Textes (hier der Vergleich zwischen Zeitschriften, die neben den Akten gefunden werden, und Erinnerungen). Dieser Hinweis ist ziemlich deutlich und erzwingt die Interpretationsrichtung schon beinahe, wirkt aber nur aufgrund der Einbindung in das erwähnte Netzwerk.

Damit ist aber noch immer nicht geklärt, wie es grundsätzlich möglich ist, derartige Vergleiche und Assoziationen zu finden. Wahrscheinlich benötigt man zur Beantwortung der Frage erheblich mehr Wissen in Fachbereichen, von denen ich keine Ahnung habe: Psychologie, Neurologie etc. Ich vermute aber, dass man die Bilder in Texten und die Dinge, die sie bedeuten (können), auf gemeinsame Nenner herunterbrechen kann, wie ich es weiter oben mit der Verknüpfung Erinnerungen/Akten – Daten gezeigt habe. Ist das aber bei (scheinbar?) Abstrakterem ebenfalls möglich? Wo ist die Schnittstelle von blauen Blumen und Sehnsucht? Man müsste beide Elemente der blauen Blume untersuchen: Farbe und Pflanze, also Eigenschaft und Gegenstand. Blau könnte als dunkle Farbe durch ihre Nähe zur Nacht ein Hinweis auf Melancholie sein, einem Gefühl, das als Anteil der Sehnsucht betrachtet werden könnte. Eine Blume wiederum ist schön, zerbrechlich und vergeht zwangsläufig. Die Schönheit der Pflanze kann als Bezug zum Objekt der Liebe (einer schönen Frau/einem schönen Mann) verstanden werden, ihre Zerbrechlichkeit mit der Gefahr (oder eingetretenen Situation) eines Endes einer Beziehung und ihr Vergehen im Zusammenhang mit dem Tod und damit einer Nachwelt oder einem transzendenten Zustand. Ohne weitere Hinweise durch ein Assoziationsnetzwerk wirkt diese Interpretation allerdings bei den Haaren herbeigezogen.

Mir ist bewusst, dass es professionelle Arbeiten zu allen erwähnten Themen gibt oder geben müsste, aber mir ist es wichtig, selbst auf derartige Erkenntnisse zu kommen, damit sie besser erinnert und möglicherweise angewandt werden können. Fassen wir also zusammen, was ich glaube herausgefunden zu haben: Die Interpretation von Literatur setzt voraus, dass interpretierte Details auf einen Punkt heruntergebrochen werden können, die sie mit etwas Anderem teilen, um eine neue Bedeutung anzunehmen, und in einer Netzwerk ähnlich zu verstehender Details Bestätigung der neuen Bedeutung finden.

Mir scheint diese von Assoziationen und Bildern getragene Denkweise urmenschlich zu sein. Mit Hilfe von Geschichten können wir Erinnerungen bewiesenermaßen besser verarbeiten und speichern. Denken wir beispielsweise an die Aborigines, die das Land mit Geschichten überzogen haben und sich niemals verlaufen. Denken wir außerdem an die Ursprünge jeder Religion, die in der Zuschreibung von Bedeutungen von Naturerscheinungen liegen, oder einfach an die Art und Weise, wie wir uns an unser Leben und unsere Erlebnisse erinnern: in Form strukturierter Geschichten, die nicht selten Sinn zuschreiben, wo eigentlich bloß Geschehnisse und Zufälle geherrscht haben. Ich finde es faszinierend, dass man literarisches Verständnis auf so tiefem Level mit dem menschlichen Denken und Sein zusammenbringen kann. Damit wäre Literatur eine Ausprägung eines Aspekts unseres Daseins, was mal wieder ihre Bedeutung unterstreicht. Mit dem Ergebnis bin ich zufrieden.

Alte Akten und wilde Spekulationen

Interpretation der Kurzgeschichte “Das Archiv” aus dem Buch “Derrière La Porte” von Michael Leuchtenberger.

Neulich habe ich die Sammlung von Kurzerzählungen Derrière La Porte von Michael Leuchtenberger rezensiert. Hier geht es zum Beitrag: Michael Leuchtenberger: Derrière La Porte. Heute möchte ich eine Interpretationsmöglichkeit von Das Archiv, das es übrigens auch einzeln zu kaufen gibt, auf euch loslassen. Ohne Spoiler ist das völlig unmöglich. Wer das Buch also noch nicht gelesen hat, es aber noch vorhat, sollte sich den Eintrag für später speichern und ab hier nicht weiterlesen.

Ein Angestellter allein in einem alten und vergessenen Keller voller Akten, die er zu sichten hat. Mich erinnerte das an eine Therapie. Aber bauen wir es anders auf. Es gibt eine neue Chefin, die aufräumen möchte. Im Laufe des Aufräumprozesses wird ein Schlüssel gefunden zu einer Tür, die ebenfalls erst gefunden werden muss. Hinter alten Rollschränken mit Akten wird diese Tür gefunden und dahinter befindet sich ein weiterer Raum mit Kisten, Zeitschriften und Akten, noch älter als jene im Vorraum. Die Chefin gibt die Anweisung, die alten Akten zu sichten für eine Historie des Amtes und gibt den zusätzlichen Auftrag, nach Arbeiten über Architektur zu fahnden. Nun könnte man die Chefin als Therapeutin verstehen und die Akten als Erinnerungen. Der Protagonist, die Person in Therapie, steigt in den dunklen Keller hinab seiner Erinnerungen hinab. Zunächst sind jedoch die Akten in den Rollschränken im Weg. Mühsam müssen sie beiseite geschafft werden. Nebenbei wird erwähnt, dass die Rollschränke dazu neigen, von allein in Bewegung zu geraten. Mindestens einmal wurde der Protagonist bereits von ihnen beinahe eingesperrt. Es ist fast so, als gäbe es eine Kraft, die sich dagegen wehrt, dass die alten Akten/Erinnerungen wieder zum Vorschein kommen. Ein Verdrängungsmechanismus lässt sich vermuten. Im versteckten Hinterzimmer, das man als Un(ter)bewusstsein verstehen kann oder als Ort verdrängter Geschehnisse, wird dem Protagonisten schwindlig. Die Luft ist abgestanden und in der Ecke wuchert etwas Dunkles. Mehrmals wird er ohnmächtig. Während er mehr und mehr Zeit dort unten verbringt und vergessenes Wissen durcharbeitet (im Zusammenhang mit alten Zeitschriften wird dies explizit so genannt), breitet sich die dunkle Masse aus. Schließlich bekommt sie Struktur. Pflanzenartig und doch beweglicher, mit Auswüchsen, die in den Raum ragen und zugreifen wollen. Der Protagonist will fliehen, als er es bemerkt, aber ist längst im Keller eingeschlossen worden. Er ist gefangen in alten Erinnerungen. Dann versucht er, die Tür zum dunklen Raum mit dem verdrängten Wissen wieder zu schließen, aber auch dafür ist es zu spät. Die Auswüchse haben den Raum eingenommen und die Tür bereits durchschritten. Nach kurzer Flucht findet sich die Figur schließlich auf dem Boden, auf Knie und Hände gestützt. Die dunklen Auswüchse haben Arme und Beine umschlossen, er sinkt mit den Händen im Boden ein, während er voller Furcht und Ekel bemerkt, dass etwas seinen Rücken berührt. Man kann sich kaum eine unangenehmere und wehrlosere Stellung vorstellen, als auf allen Vieren festgebunden zu sein. Die so lange weggesperrten und nun wieder befreiten Erinnerungen nehmen ihn völlig ein.

Der Protagonist verliert das Bewusstsein und erwacht erst wieder, als seine Kolleginnen und Kollegen ihn finden, aber ohne die dunklen Auswüchse. Fortan bleibt der Geruch des Raums und der Auswüchse ein Teil seines Lebens.

Diese Gruselgeschichte kann meines Erachtens nach als Retraumatisierung gelesen werden. Verdrängte Erinnerungen werden im Laufe einer Therapie heraufbefördert und müssen nun in mühevoller Arbeit verdaut werden. Man weiß jetzt, was sich Dunkles im Unterbewusstsein verborgen hielt und drohte, aber damit klarzukommen, ist eine Lebensaufgabe.

Verfasst ist Das Archiv in Briefform und zwar einem Brief an eine Therapeutin, die mit dem Protagonisten fortan arbeiten soll. Wenn man will, könnte man also noch einen Schritt weitergehen und die Retraumatisierung samt Folgeschäden nicht als gut durchdachten Schritt einer ausgebildeten Therapeutin verstehen, sondern als Resultat laienhaften Herumdokterns durch die Chefin, die in diesem Szenario bloß jemand wäre, der es gut meint und damit Schaden anrichtet.

Ich weiß nicht, ob Michael Leuchtenberger diese Lesart beabsichtigt oder auch nur selbst bemerkt hat, aber ich finde sie hochinteressant. Sollte es keine Absicht gewesen sein, macht es das nur noch spannender, denn was die Leserschaft in Geschichten finden kann, das man als Autor*in selbst nicht sieht, ist enorm. Genau um derartige Lesarten zuzulassen, plädiere ich immer für relativ offene Geschichten. Zu viele eindeutige Erklärungen können Interpretationsfreiräume einschränken und somit auch die Freude an der Geschichte.

Zum Abschluss möchte ich mal wieder ganz deutlich darauf hinweisen, dass Figuren und Erzähler nicht die Autor*innen sind. Ich habe hier eine Geschichte analysiert und nicht den Verfasser, würde mir also niemals anmaßen, durch diese wirre Interpretation auf mögliche Traumata des Autors zu schließen. Ob die Lesart ein Kunstgriff, ein Zufall, die unbewusste Verarbeitung eines Geschehnisses (eines selbst erlebten oder fremden) oder mehr über mich als über ihn aussagt (und in dem Fall: was es über mich aussagt), ist völlig offen.

Alte Milch: Definitionen

Über das Gedicht “Definitionen” aus dem Lyrikband “Alte Milch”.

Mit nur 14 Wörtern (inklusive Titel) ist Definitionen das kürzeste Gedicht in Alte Milch. Seine Kürze lässt es simpel erscheinen, durchschaubar auf einen Blick, aber so einfach ist es nicht. Ich wurde gebeten, ein paar Gedanken dazu aufzuschreiben und gehe der Bitte hiermit nach.

Definitionen

manche machen mich
zu einem
von euch

diese
zum beispiel

irren
ist menschlich

Ein Wesen außerhalb der menschlichen Sphäre, ein Unmensch, ein Monster, ein Außenseiter. So betrachtet sich das lyrische Ich in diesem Text. Was steht wirklich im Gedicht? Der Inhalt an sich ist sehr simpel und kann in zwei Sätzen ausgedrückt werden:

Manche allgemein anerkannten und existierenden Definitionen des Menschseins schließen mich (→ lyrisches Ich) in die Gruppe der Menschen mit ein. Ein Beispiel für eine dieser Definitionen lautet: Irren ist menschlich.

Da mehr nicht gesagt wird, muss es sich um einen dieser nervigen Texte handeln, bei denen man selbst denken oder zwischen den Zeilen lesen muss. Nicht alle Definitionen machen das lyrische Ich zu einem Menschen. Das heißt, dass es entweder manche Definitionen explizit ausschließen oder dass Definitionen für andere Wesen als Menschen existieren, die das lyrische Ich einschließen. Da die gewählte Definition ausgerechnet irren ist menschlich lautet, wird das lyrische Ich sich kaum für etwas Besseres halten als den Rest der Menschheit. Sein Ausschluss beinhaltet also keine Arroganz, sondern ein Gefühl von Minderwertigkeit. Das lyrische Ich fühlt sich hier nur durch sein Irren, also eine Verfehlung an sich, mit den anderen verbunden.

Die Perspektive ist eine distanzierte. Eine kühle Sprache ohne Ausschmückungen, keine Reime, keine Großbuchstaben, nicht einmal ein durchgehender Rhythmus. All das unterstützt die ereignislose Kühle und Ausgeschlossenheit des lyrischen Ichs. Es spricht die Leserschaft direkt an oder die Menschheit oder einfach eine Gruppe von Menschen, aber gleichzeitig bekommt man nicht das Gefühl, dass ein Dialog möglich wäre. Hier lässt sich kein Einstieg zu einem Gespräch finden, sondern ein Monolog wie er im Kopf stattfindet oder in einem Abschiedsbrief.

Die Grund- und Eigendefinition des lyrischen Ichs ist unmenschlich und minderwertig. Was macht es noch zum Menschen? Das Irren, also weitere Fehlerhaftigkeit. Doch bedeutet dies nicht auch einen Funken Hoffnung? Wenn sich die Menschheit (unter anderem) über fehlerhafte Schlüsse definiert und das lyrische Ich genau in diesem Punkt mit ihr übereinstimmt, besteht die Möglichkeit, dass alle oder wenigstens eine der Schlüsse, die es in diese Außenseiterposition gebracht haben, fehlerhaft sind. Man könnte noch weiter gehen. Eine Außenseiterposition aufgrund des Gefühls von Minderwertigkeit ist immer Kopfsache, fiktiv, eingebildet. Menschen sind nicht minderwertig, sie fühlen sich minderwertig. Es handelt sich also um einen grundsätzlichen Irrtum, der ganze Leben definieren und kontrollieren kann. Dieser Irrtum ist nicht selbstverschuldet und fast immer von außen aufgezwungen und dennoch nicht weniger inkorrekt.

Was bedeutet es, dass Irren menschlich sei? Es bedeutet, dass wir alle Fehler machen. Es bedeutet aber auch, dass wir befähigt sind, diese Fehler und Irrungen einzusehen und damit in der Lage sind, uns zu ändern und zu bessern. Dies gilt für diejenigen, die sich für weniger wert halten, und für auch für diejenigen, die sie dazu gebracht haben. Die Menschheit existiert seit jeher nach dem Prinzip trial and error: Eine Mutation, die sich durchgesetzt hat und dann das gleiche Prinzip auf Gesellschaften, Erfindungen und alle weitere Bereiche ausgedehnt hat. Im Kleinen führen wir es weiter, wenn wir Beziehungen durchtesten, hier und dort Dinge ausprobieren, unausgegorene Entscheidungen treffen oder uns anderweitig dumm verhalten. Trial and error. Jemandem das Selbstwertgefühl zu zerstören fällt eindeutig in den Bereich „error“, ganz egal was vorher versucht wurde. Sollte es sogar das Ziel gewesen sein, ist auch das Ziel ein Fehler. Seht es ein und fühlt es nach – es wird euch menschlicher machen.

Sorck: Zwei Vögel und die Ordnung im Chaos

Über eine Szene aus dem Roman “Sorck” sowie ihre Hintergründe.

Eine winzige Szene aus dem Roman Sorck, slawische Mythologie und ein verstecktes Statement sind Thema dieses Artikels. Ohne Spoiler wird es nicht abgehen können. Seid also gewarnt!

Situation: In Sankt Petersburg hat Martin Sorck eine unangenehme Einreise überstanden und steht nun im Freien.

„Der Himmel schimmerte grau und schien sich direkt an den Boden anzuschließen, ohne Horizont, ohne Trennlinie. Ihm fielen zwei Vögel auf, die als Paar zum Hafenbecken flogen, einer hell, einer dunkel. Am Ziel angekommen schwebten sie auf der Stelle, um dann ihre Flügel anzulegen und sich ins Wasser zu stürzen. Einen Moment später tauchten sie wieder auf, schlugen wild mit dem Gefieder und erhoben sich in die Luft. Ihr Rückweg führte über Sorck hinweg und als sie genau über ihm flogen, rieselte feuchter Sand auf seine Stirn.“

Um diesen kurzen Moment innerhalb einer turbulenten Geschichte soll es gehen. Was hat es damit auf sich? Wieso Vögel? Wieso dort?

In Sorck tauchen immer wieder Bezüge zu Religion und Mythologie auf. So auch hier. In der slawischen Mythologie, genauer gesagt in der slawischen Kosmogonie, gibt es eine Schöpfungsgeschichte in verschiedenen Versionen. Kurz zusammengefasst: Aus dem Nichts entsteht mit Beginn des Zeitflusses das Weltenei, aus dem Bieleboh und Czorneboh entstehen. Diese beiden, der weiße Gott und der schwarze Gott, bauen unsere Welt. In manchen Darstellungen werden sie als zwei Vögel dargestellt, die Erde vom Meeresgrund holen und an Land tragen.

Wir Menschen suchten schon immer nach einer Erklärung für unsere Existenz und erfanden sie in Form von Geschichten. Das ist der Kern jeder Religion. Die Erklärung für die Existenz von Martin Sorck ist die Geschichte, die ich erfinde. Schöpfung in zweiter Potenz, wenn man so will. Ich bin bei meiner Figur zu jeder Zeit und bin verantwortlich für alles Gute und alles Böse, das ihr zustößt. Aber nicht aus einem Gotteskomplex heraus habe ich mich als Schöpfer in die Geschichte geschrieben, sondern als Statement der Planmäßigkeit im Chaos der Geschichte.

Wie eine Segnung fällt der Sand von den göttlichen Vögeln herab auf die Stirn Sorcks. Es gibt einen Plan für ihn. Während seiner Reise sucht er nach Sinn und Bestimmung. Es gibt Sinn und Planmäßigkeit, aber nicht auf einer Ebene, die er überblicken könnte. Ein weiterer Kommentar dazu steht auch im Artikel Sorck: Die Dachbogenszene.

Dass die Szene in Russland angesiedelt ist, erklärt ihr Bezug zur slawischen Mythologie, so wie Bezüge zur nordischen Mythologie beispielsweise in Stockholm auftauchen.

Was Martin Sorck nicht merkt und wohl auch kaum jemand sonst: die beiden Vögel tauchen mehrmals auf. Noch auf dem Kreuzfahrtschiff sieht er sie auf dem Monitor an seiner Kabinenwand.

„Zwei sandige Vögel und ein Mann in einem Trenchcoat. Er fragte sich, ob es das selbe Rorschachbild wie zuvor war, […]“

Ihm wurde ein Blick in die Zukunft gewährt, den er nicht verstehen konnte. Dadurch wurde den Lesenden der gleiche Blick gewährt und sie teilten das gleiche Unverständnis mit ihm. Gibt es Zeichen und gibt es einen Sinn in der Welt, so übersteigen sie unser Verständnis. Anders ausgedrückt: Sollte es tatsächlich einen Gott geben, der alles lenkt, hat das für uns keine Bedeutung, da wir weder verstehen können, was er tut, noch ändern können, was geschieht. Man könnte es als Zeichen der gleichen Ansicht betrachten, dass die frühe christliche Theologie darauf bestand, dass Gott bereits vor der Erschaffung der Welt festgelegt hatte, welche Menschen in den Himmel kommen und welche in die Hölle. Weit vor der Geburt einer Person steht sein Schicksal fest und was sie auf Erden tut, ändert nichts daran. Für einen allwissenden Gott scheint das passend, aber für die Kirche war das unpraktisch. Warum sollte man sich gut verhalten, wenn man nichts am Ergebnis ändern kann? Plötzlich musste man sich seinen Platz im Himmel verdienen. Das als kleiner Ausflug in die Theologie.

Eine Parallele dazu gibt es in Form folgender Weltsicht: Die Welt basiert auf physikalischen Regeln, ist also eine riesige Kauselverkettung. Wir Menschen bilden unsere Entscheidungen (unseren freien Willen) aufgrund von Erfahrungen und Reizen, die wiederum Teil der Kausalverkettung sind. Damit wäre jede Handlung, jeder Gedanke und jedes noch so zufällig wirkende Ereignis von vornherein vorherbestimmt, wenn auch nicht geplant. Es gab die Ansicht, dass man jeden Zustand des Universums zu jeder Zeit berechnen könnte, wenn man in der Lage wäre, den kompletten Weltzustand zu einem bestimmten Zeitpunkt zu bestimmen. Laplacescher Determinismus. Die Heisenbergsche Unschärferelation hat dem einen Strich durch die Rechnung gemacht. Aber das führt jetzt zu weit.

Zurück zu den Vögeln: Passenderweise tauchen diese auch in einer Kirche auf. Martin Sorck entdeckt eine kleine Statue.

„Eine Frauengestalt in langer, heller Robe erhob den schlanken Zeigefinger ihrer rechten Hand und deutete auf zwei Vögel, die über ihr flogen. Einer von ihnen war wiederum mit Gold überzogen, der andere, dunklere, nicht.“

Hier wurden sogar mehrere mythologische beziehungsweise story-eigene Bezüge miteinander verknüpft. Eva, die Frau, die Sorck kennenlernt, begegnete ihm in der gleichen Pose wie hier Mokosch, die slawische Fruchtbarkeitsgöttin. Dass es sich um Mokosch handelt, sieht man übrigens an der lateinischen Widmung unter der Statue, die sich auf einen ihrer Beinamen bezieht. Die Verbindung zwischen Martin Sorck und Eva wird hier ebenso gezeigt wie die Planmäßigkeit ihrer Zusammenführung. Es gibt Ordnung im Chaos.

Vielleicht noch ein paar persönlichere Notizen dazu:

Ich liebe diese kleinen versteckten Geheimnisse in Büchern. Ob ich sie selber gestalte oder jemand anders (wie Kehlmann, der mit Du hättest gehen sollen seine eigene Shining-Version geschrieben hat und an einer Stelle versteckt auf das Buch und den Film hinweist), ist dabei gleich. Daher wollte ich das besprochene Detail am liebsten schon direkt nach der Veröffentlichung verraten. Aber jetzt, da mehr Leute Sorck gelesen haben, ist der Zeitpunkt passender.

Man könnte meinen, ich sei religiös oder beschäftigte mich viel mit Gott, aber dem ist eigentlich nicht so. Ich glaube nicht an Gott. Allerdings ist es für mich ausgesprochen wichtig, einen Sinn in den Dingen zu sehen, die ich tue. Ein Leben ohne höhere Bedeutung ist bedeutungslos, sinnlos, also schwer zu leben. Daher habe ich immer nach Sinn gesucht und ihn in der Literatur gefunden. Auf einer lebenslangen Sinnsuche stolpert man zwangsläufig über Religionen, da andere ihren Sinn darin gesucht und gefunden haben. Dieser Aspekt und die deutliche Verbindung zwischen göttlicher Schöpfung und menschlicher Schöpfung und Kreativität bringen mich immer wieder zu religiösen Themen.

Mir ist bewusst, dass ich in diesem Artikel riesige Themenkomplexe angerissen habe (Mythologie, Religion, Determinismus, Literatur, Sinnsuche), mit denen man sich ein Leben lang beschäftigen könnte. Daher bitte ich um Verzeihung für die vage Darstellung. Sicherlich werden alle Themen nochmal besprochen genauer werden, aber für einen Überblick über die Idee hinter dieser winzigen Szene sollte das reichen.