Orte, Körperteile, Evolution und intelligentes Design

Über literarische Vergleiche von Orten und Körperteilen, mit einem Ausflug in die Philosophie.

Es ist etliche Jahre her, dass ich Henry Millers Im Wendekreis des Krebses gelesen habe und ich habe vieles daraus vergessen, nicht jedoch einen Vergleich, der mich damals bereits faszinierte. Millers Geschichte spielt in Paris und der Ich-Erzähler wandert viel durch die großen und kleinen Straßen der Stadt. Dieses Straßennetz vergleicht er an einer Stelle mit dem Querschnitt eines Penis’, mit all den Kammern und Gefäßen, dünnen und dicken Adern. Wieso ist das so faszinierend?

Ein möglicher Grund dafür, dass ich mir dieses Bild gemerkt habe, könnte an meiner mimosenhaften Empfindlichkeit und meiner ausgeprägten Fantasie liegen: Ich stellte mir das aufgeschnittene Glied vor. Aber auf einer ganz anderen Ebene ist der Vergleich oder die Gruppe von Ortsvergleichen mit Teilen des menschlichen Körpers interessant. Kopiert der Mensch (absichtlich oder unabsichtlich?) in künstlichen Konstrukten die Bauwerke der Natur? Dass etliche Erfindungen auf Naturbeobachtungen beruhen, ist bekannt. Augen zu Kameras, Falken zu Flugzeugen und, was ich ebenfalls einmal gelesen habe, die Nutzung von bestimmten Pflanzen zu medizinischen Zwecken durch die Beobachtung entsprechender Verhaltensweisen bei Tieren. Doch dachte jemand bei der Planung einer Stadt an einen Blutkreislauf, in dem Autos wie Blutkörperchen fließen? Die wenigsten Städte sind von Grund auf geplant, also sollte sich die Frage bei älteren Städten von selbst erledigen, oder?

Im Laufe der Philosophiegeschichte gab es immer wieder Versuche von Gottesbeweisen. Manche bildeten eine direkte Kette, beispielsweise die Argumentation des unbewegten Bewegers von Thomas von Aquin (grob gesagt: jemand/etwas muss den Stein ins Rollen gebracht haben, weil jede Bewegung einen Auslöser haben muss), während andere indirekt argumentierten (beispielsweise David Hume), die den Begriff des intelligent design einführten und verbreiteten, der im Grunde skeptisch fragt, wie die Natur ohne Steuerung durch Gott komplexe Dinge wie das Auge hätte entwickeln sollen. Beim Argument des intelligenten Designs merkt man, dass wir uns in einer Zeit vor der Evolutionstheorie befinden.

An dieser Stelle könnte man den Bogen schlagen: Handelt es sich beim funktionierenden Straßennetz – gehen wir mal davon aus, dass es funktioniert – einer „natürlich“ gewachsenen, also nicht von vornherein geplanten, Stadt um eine Art von Evolutionsergebnis? Design ist es schließlich nicht oder wenigstens nicht vollständig. Eine Entwicklung hat über Jahrzehnte und Jahrhunderte stattgefunden, aus einer Fläche wurde ein Netz von Trampelpfaden, die kürzesten, effektivsten Strecken setzten sich durch, dann wurden die wichtigsten Pfade zu Straßen und am Ende steht ein komplexes Straßennetz, das alle Gebäude miteinander verbindet. Da sich effektivere Strecken gegen weniger effektive durchgesetzt haben und reine Fußwege zu einer Art Nischenexistenz verdrängt wurden, kann man sich durchaus einen Vergleich mit der Evolution erlauben.

In der Natur setzt sich ebenfalls das für die jeweilige Situation am besten angepasste System durch. Der menschliche Blutkreislauf dürfte für unsere Körper und unsere vielfältigen Lebensräume ideal sein. Dass der Körper, das Herz, die Gefäße, der Ernährung und der fehlenden Bewegung unserer Zeit manchmal nicht mehr standhalten kann, zeigt nur, dass sich unser Leben, das heißt das äußere System, an das sich der Körper anpassen müsste, geändert hat, nicht dass unsere Körper nicht für ihre natürliche Umgebung perfekt aufgestellt wären.

Nach diesen Überlegungen wäre jeder Vergleich zwischen Orten und Körperteilen durch die zugrunde liegenden Entwicklungsmechanismen beider Dinge sowohl gerechtfertigt als auch passend. Natürlich muss der Vergleich auch entsprechend gewählt werden: Ein Straßennetz kann schlecht mit der Funktion eines Fußes verglichen werden – oder vielleicht irre ich mich auch, dann würde mich die Umsetzung interessieren.

Hier kommen wir an einen schwierigen Punkt. Was, wenn unsere Art zu denken, uns einen Streich spielt? Sind die oben angesprochenen Vergleiche wirklich stimmig im Sinne einer ähnlichen Entwicklung und Familiarität oder nutzen wir so häufig und selbstverständlich Vergleiche, um Erklärungen zu vereinfachen, dass wir Verbindungen sehen, wo kaum welche sind? Sieht ein Straßennetz aus wie ein Blutkreislauf oder sehe ich nur, was ich sehen möchte?

Es gibt bei guten Vergleichen eindeutige Parallelen und diese sind sowohl unbestreitbar als auch ausreichend, um die Vergleiche zu rechtfertigen. In Das Maurerdekolleté des Lebens vergleiche ich einen Teil des Labyrinths, der eine Art Kanalisation darstellt, mit einem Darm. Ursprünglich war das die Begründung für diesen Blogeintrag, aber dann bin ich ein wenig abgekommen. Eine Kanalisation und ein Darm haben ähnliche Funktionen. Es geht soweit, dass man die Kanalisation als Fortsatz aller Därme einer Stadt betrachten könnte. Zwar nimmt sie keine Nährstoffe mehr auf, aber führt den Schmutz ab, den der Körper, die Stadt, produziert. Der Vergleich ist literarisch also problemlos machbar, aber er hilft uns nicht in der Frage, ob Vergleiche mehr sind als Denkhilfen. Letzter Gedanke dazu: Wären sie mehr, also würden sich alle Muster in allen Schichten der Existenz wiederholen, wären wir bei einer Grundlage der Alchemie angekommen: As above, so below.

Wenn das Straßennetz einer Stadt sich ähnlich natürlich entwickelt hat wie der Blutkreislauf von Säugetieren und ich als Autor eine Geschichte entwickele, die nicht natürlich gewachsen, sondern durchgeplant ist, werde ich zum intelligenten Designer oder bloß zum unbeteiligten Beobachter?

Apokalyptische Bilder

Über apokalyptische Bilder in der Literatur.

Katastrophen kommen vor, gerade in der Literatur. Eines der bekanntesten Bücher der Welt hat eine Version der größten Katastrophe beschrieben, die die Menschheit fürchtet: Die Apokalypse, die Offenbarung des Johannes im letzten Buch des Neuen Testaments. Da das Christentum eine der Grundlagen westlicher Kultur (und damit auch Literatur) darstellt, ist der Einfluss immens und darf nicht übersehen werden.

Mag man nun gläubig sein oder nicht, sich für Religion interessieren oder nicht, es gehört zur Grundbildung, wenigstens ein paar Dinge über jede große Religion und hierzulande besonders über das Christentum zu wissen. Daher wird (oder wurde?) dieses Wissen in der Literatur üblicherweise vorausgesetzt. Ein Beispiel dafür zeigt sich in apokalyptischen Bildern, um Katastrophen vorzubereiten, zu betonen oder schlicht in religiösen Kontext zu setzen. Die Offenbarung des Johannes zählt vermutlich zu den bekanntesten Teilen der Bibel – denn, seien wir ehrlich, kaum jemand hat das ganze Ding gelesen. Ausschnitte werden selbst in Zombie-Filmen oder Songs gerne zitiert. Spontan fällt mir noch das Stück Woyzeck von Georg Büchner ein, in dem immer wieder entsprechende Bilder vorkommen. Es ist zwar Jahre her, dass ich es gelesen und gesehen habe, aber ich erinnere mich an das Bild des roten Himmels.

Ein roter Himmel allein macht noch kein apokalyptisches Bild. Aber ein Zusammenkommen von Elementen wie Katastrophen, Erdbeben, Flut, Hunger, Krieg, Feuer, Dunkelheit, der Farbe Rot bildet Muster, die eine entsprechende Interpretation ermöglichen. Jede furchteinflößende Erscheinung oder Zerstörung in Größenordnungen, die scheinbar über das Menschliche hinausgehen, wurde gerne mit dem Ende der Welt verglichen. Ein berühmtes Beispiel dafür wäre das Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755, das überall in der Kultur widerhallte, ob nun bei Kleist (umgewandelt in Das Erdbeben in Chili) oder bei Voltaire, der als Reaktion auf das Erdbeben wenige Jahre danach mit Candide die Theodizee von Leibniz humorvoll angriff. Dieses Beben war so verheerend, dass es nicht nur immer wieder mit dem Ende der Welt verglichen worden ist, sondern in der Philosophie ein Echo hervorrief, das den Glauben an die Güte Gottes nochmals in Frage stellte. Wie kann dies die beste aller möglichen Welten sein, wenn so etwas passiert?

Ich bin etwas abgekommen. Obwohl die Literaturgeschichte durchzogen ist von Anspielungen auf die Apokalypse, sollte man heutzutage vermutlich vorsichtiger sein damit. Religion ist nicht mehr derart wichtig im Alltag, dass Leser*innen entsprechende Hinweise unbedingt erkennen. Aber es gibt noch immer eine Menge Anwendungsmöglichkeiten für apokalyptische Bilder. Einerseits sind solche Bilder völlig unvermeidbar, wenn man Katastrophen beschreibt, die weltverändernd sind. Daher tragen sie oft Namen wie „Zombie- Apokalypse“, „Judgement Day“ (in der Terminator-Reihe) usw. Andererseits kann man mit apokalyptischen Bildern in kleineren Dosen ungute Stimmungen unterstreichen oder eine zum Inhalt der Geschichte passende Metaphernumgebung erschaffen. Schreibt man über einen Pastor, wäre es nur passend, wenn die Bilder der Geschichte aus der Bibel stammten.

Dass apokalyptische Bilder Unruhe auslösen, ist nur logisch. Die Offenbarung des Johannes ist eine Ansammlung unkontrollierbarer und furchterregender Elemente. Man kann sie problemlos als einen religiös inspirierten Albtraum lesen.

Sprechen wir noch über andere Apokalypsen/Weltend-Szenarien? Vielen ist nicht bewusst, dass es früher einmal eine Menge verschiedener Bibelversionen gegeben hat. Die Tora, das Alte Testament, wurde in der hebräischen Version um ca. 100 n. Chr. kanonisiert, nicht aber die griechischen Übersetzungen. Als die Tora als Altes Testament in den Bibelkanon übernommen worden ist, wurden noch Elemente aus den griechischen Übersetzungen hinzugefügt. Um ca. 400 n.Chr. einigte man sich auf den Kanon für das Neue Testament (und warf beispielsweise die Geschichte von Adams erster Frau raus, weil diese zu aufmüpfig war). Es gibt also den Bibelkanon, die nicht übernommenen Bücher und eine Reihe von Parts, bei denen man sich nicht sicher ist, ob sie einmal dazu gehörten oder nur aus der gleichen Zeit stammen. Innerhalb dieser Schriften gibt es eine ganze Reihe von Offenbarungen und eben Apokalypsen. Kleriker hatten viele schlimme Träume. Aber damit waren sie nicht alleine.

In der nordischen Mythologie gibt es Ragnarök, ein spannender Weltuntergang mit allem, was dazugehört: Krieg, Monster, Erdbeben, Fluten, endloser Nacht und einem Dämonenschiff aus Fußnägeln. Ein schönes Weltende ist auch der Angriff der Spiegelwesen aus dem alten China. Es heißt, irgendwann einmal lebten in den Spiegeln andere Wesen, losgelöst von uns. Sie hatten uns angegriffen und wurden zurückgeschlagen. Als Strafe wurden sie verurteilt, uns zu imitieren. Aber eines Tages, sagt die Prophezeiung, werden die Spiegelwesen sich rächen, aus den Spiegeln treten, sich mit den Wesen des Wassers verbünden und die Menschheit niederringen.

Ist es nicht witzig, wie arrogant das Selbstbild der Menschen schon immer gewesen ist? Die Vorstellung, dass es keine Welt geben kann, wenn es uns nicht mehr gibt, steckt wohl dahinter, wenn man das Ende der Welt und das Ende der Menschheit immer wieder gleichsetzt. Fällt der Baum im Wald auch um, wenn es niemand sieht? Ja natürlich, wir sind nicht wichtig für die Welt. Aber (!) wenn das Leben uns zusetzt, fühlt es sich manchmal wie das Ende der Welt an, und das ist okay. Daher darf man in der Literatur mit derart monströsen Bildern spielen, um Katastrophen mehr Atmosphäre zu geben und zu zeigen, dass beispielsweise jeder Tod zugleich der Weltuntergang ist (Hermann Burger).

Wir kennen am Ende nur uns selbst und unsere Existenz ist die ganze Welt.