Das Maurerdekolleté des Lebens: Zu gut, um wahr zu sein?

Über eine Szene aus der Erzählung “Das Maurerdekolleté des Lebens” und die Psychologie dahinter.

Es soll in diesem Blogeintrag um einen ganz kleinen Part aus Das Maurerdekolleté des Lebens gehen. Wer das Werk völlig unvoreingenommen lesen möchte, sollte diesen Text also erst nach der Lektüre des Buches lesen. Ohne Spoiler geht es nicht.

»Ein anderer Weg führte nach rechts, doch wurde Theo misstrauisch. Von dort roch es nach frisch gebackenen Keksen und er hörte Musik. Blickte er in den Seitentunnel, fühlte er sich sicher. Dort schien es trocken und warm zu sein, weich und gemütlich. Die Sache war ihm nicht geheuer. Ihm fielen Hänsel und Gretel ein. Es schien zu gut, um wahr zu sein.«

Theo hat sich verlaufen, befindet sich in einem Tunnel und sieht keine besseren Optionen links oder rechts. Dann begegnet ihm inmitten des Ekels und der Orientierungslosigkeit etwas Schönes. Was tut er? Er glaubt nicht an sein Glück und geht daran vorüber.

Im tiefsten Elend ist man meist bereit, nach jeder Hand zu greifen, die gereicht wird. Doch schnell lernt man, die Hoffnung fahren zu lassen. Sie führt nur zu mehr Schmerz. Es ist erheblich weniger anstrengend, sich im Dreck zu suhlen, als sich herauszuziehen (selbst mit Hilfe). Dabei lohnt sich die Anstrengung – meist jedenfalls. Das Risiko einer weiteren Enttäuschung ist es wert eingegangen zu werden. Wer ganz unten ist, kann nicht tiefer fallen. Wer Angst hat, noch schlimmer dran zu sein, ist noch nicht ganz unten angekommen.

Theo läuft durch ein schmutziges Labyrinth. Wieso sollte dort unten plötzlich ein Ausweg auftauchen? Die Frage müsste lauten: Wieso nicht? Hänsel und Gretel haben im Hexenhaus gelitten, doch sie kommen stärker und erfahrener zurück. Hätten sie geahnt, was ihnen bevorstehen sollte, wären sie nicht hineingegangen. Wie wägt man ab? Jede Chance ist ein Risiko, jede Hoffnung eine Möglichkeit, erneut abzustürzen.

Es gibt mehrere ungesunde Verhaltens- und Denkweisen, die man in die Szene hineininterpretieren kann, und entsprechend mehrere Lesarten. Theo hat noch immer ein Ziel, das er zu erreichen versucht. Dieses Ziel ist nicht Glück oder Liebe oder sonst etwas Schönes, sondern ein Arbeitsplatz. Man könnte es so lesen, dass er sich durch das Labyrinth quält, um sich danach weiter abzurackern. Das gäbe Theo einen energischen Kern und der nach Keksen duftende mögliche Ausweg erschiene als Ablenkung, als Ort der Faulheit, als Betrug (sofern es eine Abkürzung wäre und er sich vor der nötigen Qual drückt) und als Abkommen vom Ziel. Menschen, die sich Pausen und angenehme Unterbrechungen ihrer Arbeit nicht gönnen (können), gibt es in unserer Gesellschaft zuhauf. Leistung wird belohnt und Muße als Faulheit betrachtet. Selbst Arbeitserleichterungen werden misstrauisch betrachtet, weil man mit neuen Hilfsmitteln plötzlich weniger hart arbeiten muss und weil jede Veränderung schwierig ist.

Das wäre bereits die zweite Lesart: Angst vor Veränderungen. Theos Weg repräsentiert auch sein Leben und in diesem hat er nichts als Wirrnis, Furcht, Dunkelheit, Schmutz und Ekel kennengelernt. Noch immer ist er orientierungslos unterwegs, aber er ist inzwischen lang genug in dieser unangenehmen Welt, dass er sie halbwegs kennt. Die Schulzeit ist vorbei, er ist durch die Mangel gedreht und indoktriniert worden, bevor er geschluckt und verdaut wurde. Ist der Weg sein Leben, dann kennt er nichts anderes als diesen Weg. Wie viele Menschen fürchten sich vor neuen Wegen, Erfindungen, Gesellschaftsformen, Moden oder Zuständen, nur weil diese eben neu sind? Es ist eine natürlicher Schutzinstinkt, vorsichtig gegenüber Neuem zu sein. Wollte ein Höhlenmensch seine Geschmackspalette erweitern, riskierte er sein Leben. Angst ist ein Gegenpol zur Neugierde. Ich glaube, dass mit zunehmendem Alter die Neugierde schwächer und die Angst vor Veränderungen größer wird. Das ist der Grund für Generationenkonflikte. Doch nicht nur das Alter verschiebt die Balance zwischen Angst und Neugierde, sondern auch Gefahr (oder der Anschein von Gefahr). Immer mehr Freiheit wird aufgegeben, um Sicherheit zu gewährleisten, und man muss gut aufpassen, wann welche Einschränkungen akzeptabel sind, was kurzfristig ist und was bleibt. Theos Entscheidung, nicht in den unbekannten (weil anders als die anderen gearteten) Tunnel abzubiegen, ist eine Entscheidung für die Sicherheit, die das Vertraute bietet, so unangenehm es auch sein mag, und gegen die unsichere Möglichkeit der Veränderung.

Dazu passend wäre der Gedanke an Menschen, die so viel Schlechtes erlebt haben, dass Gutes Misstrauen erzeugt. Es ist beinahe hinterhältig, wie das Schicksal mit Menschen spielen kann. Von außen wird Leid herangetragen und bleibt es lange genug, misstraut man dem Glück. Wer kennt nicht das Gefühl, dass das Leben zu gut oder zu einfach läuft? Dieses Gefühl, dass schon zu lange nichts mehr schiefgelaufen ist. Beinahe fühlt es sich ein Schwebezustand an. Man ist nicht wirklich im Bereich des Positiven, sondern wartet auf das Negative, ist dadurch in der Grauzone zwischen beidem und lässt sich von der Unsicherheit auffressen. In Zeiten von Covid19 könnte man es mit der Angst vor einer Ansteckung vergleichen: Die meisten sind sich relativ sicher, dass sie keinen schweren Verlauf hätten, aber man weiß ja nie. Es wäre einfacher, wenn man wirklich krank wäre und Bescheid wüsste, anstatt zu rätseln. Der angenehm wirkende Tunnel wäre die Hoffnung und vielleicht der Weg zu einem angenehmeren Leben, während der Weg, auf dem Theo letztendlich bleibt, die harte Realität darstellt, die auf ihre unangenehme und konkrete Weise sicher erscheint. Manche Menschen ruinieren sich das wenige Schöne, das sie finden (oder das sie findet), in der Sorge, dass es irgendwann nicht mehr schön sein wird.

Ich weiß nicht, wohin die Abzweigung führt. Es könnte eine Falle sein oder die schönstmögliche Version von Theos Reise. Das eben ist das Problem: Man kann es nicht wissen, wenn man es nicht ausprobiert. Sollte er zu einem späteren Zeitpunkt erneut an die Entscheidung gegen den Tunnel denken, wird ihn das sicherlich quälen.

Autor: Matthias Thurau

Autor, 1985 geboren, aus Dortmund. Schreibt Romane, Erzählungen, Lyrik. Rezensent beim Buchensemble, Mitglied von Nikas Erben.

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