In diesem Artikel wird es um das Gedicht Stadt Land Fluss aus meinem Gedichtband Alte Milch gehen. Damit ihr nicht blättern müsst, serviere ich es euch gratis:
Hänge voller Menschentrauben
Zertreten zu erlesenstem Weinen
Im Gleichschritt im Berufsverkehr
Steine und Stahl bewalden den Himmel
Erwachsen aus kindlichem Boden
Zerkratzen die Neurodermitis der Wolken
Doch Menschen können noch schwärmen
Gemeinsam für Wunder wie Heuschrecken
In millionenfacher Einzigartigkeit
Angefangen hat alles mit dem Wort „Menschentraube“, das ich irgendwo aufgeschnappt hatte. Es ist ein schönes Wort. Mein Verstand ging sofort auf Reisen und assoziierte wild los. Was macht man aus Trauben? Wein. Wein wächst an Hängen, auf Weinbergen, die auf uns Stadtmenschen oft idyllisch und beinahe natürlich wirken. Um Wein aus Trauben herzustellen, werden beziehungsweise wurden sie in großen Bottichen zertreten. Mit dem Wort „Wein“ verband ich außerdem sofort „Weinen“. Damit war das erste Bild, die erste Strophe, entstanden. Eine Mischung aus Stadtbild und Weinproduktion. Die zweite Zeile ist also keineswegs grammatikalisch falsch, obwohl man durchaus darüber stolpern soll. In der Stadt werden Menschen hin und her geschoben, es ist beengt und manchmal beklemmend. Die Anonymität ist deprimierend und der Zwang, unnatürlich scheinende Arbeiten zu erledigen, entfernt uns ein Stück weit von unseren Ursprüngen und kann zu einem sinnentleerten Leben führen. Ungefähr solche Gedanken wollte ich mit der ersten Strophe provozieren. Übrigens wurden früher Weintrauben auch gern zum Klang von Musik zertreten, um einen gewissen Rhythmus und Gleichschritt herbeizuführen.
Schaut man sich in Großstädten um, wandert der Blick schnell nach oben. Hochhäuser wachsen wie Wälder aus dem Boden. In der ersten Zeile der zweiten Strophe ist wieder ein Vergleich zwischen Stadt und Natur – Wald versus Architektur. Die zweite Zeile stellt den kindlichen Boden dem (Er)wachsen der Gebäude gegenüber. Kindlichkeit steht gegen Erwachsensein, also Naturzustand gegen Zivilisation oder Entwicklung. Die höchsten Punkte der Stadt stoßen bereits an die Wolken, sie kratzen daran, wie ja das Wort „Wolkenkratzer“ sehr schön ausdrückt. Einerseits wollte ich auf Wolkenkratzer anspielen und andererseits mit der Neurodermitis, die häufig stressbedingt ist, auf das nervöse Leben im Schatten dieser Riesen sowie auf die angegriffene Natur, die unter der menschlichen (und besonders der technischen) Entwicklung gelitten hat. Weiter zu kratzen ist kaum ein Weg zur Heilung, sondern verschlimmert das Problem noch, wenn es auch kurzzeitig erlösend wirken mag. Ich denke an die Schönheit mancher Städte, die zu verschleiern versucht, was auf dem Weg ihrer Entstehung alles zu Bruch gegangen ist.
In der dritten Strophe bleiben wir bei Naturbildern, hier das Schwärmen der Heuschrecken. Heuschrecken sind nicht nur eine biblische Plage, sondern auch eine reale. Sie tauchen in ungeheurer Anzahl auf und fressen alles kahl. Ihre Anwesenheit ist das Ende der existierenden Pflanzenwelt. Sie erholt sich irgendwann, jedoch erst, wenn die Heuschrecken wieder verschwunden sind. Die menschlichen Heuschrecken werden allerdings nicht so schnell verschwinden und die Natur ist in vielen Bereichen längst irreparabel zerstört. Wir fressen die Erde leer und hinterlassen eine Spur der Verwüstung – manchenorts wortwörtlich. Aber es steckt noch mehr in der dritten Strophe. Schwärmen kann auch für Begeisterung stehen. Trotz der grauen Welt um sie herum träumen die Menschen noch und hoffen auf Wunder, auf Erlösung vielleicht, einen Lottogewinn, das große Los oder die eine große Liebe. Wir träumen uns weg und fressen doch weiter wie Heuschrecken. Unsere westliche Erziehung hat uns alle gelehrt, dass wir einzigartig seien. Wir alle haben persönliches Glück und Erfüllung verdient, und doch scheinen wir alle die gleichen Fehler zu begehen. Nur selten verstehen wir uns selbst als Teil von etwas Größerem, von der Menschheit oder der Natur. Uns ist der Blick für das große Ganze verloren gegangen. Das ist wohl ein Grund dafür, dass kaum jemand bereit ist, für den Umweltschutz oder die Abwendung des Klimawandels Einschränkungen auf sich zu nehmen. Ich bin einzigartig, ich habe mir das verdient. Und weil so viele so denken, ändert sich wenig. Versucht die Politik, etwas zu ändern, fühlen wir uns in unserer Freiheit und Individualität eingeschränkt. Unsere Einzigartigkeit ist zu häufig eine Tarnung unseres Egoismus’.
Strophe Drei wird mit einem die vorherigen Strophen widersprechenden Doch eingeleitet, das ein Gefühl von Hoffnung aufkommen lässt, welches sich durch die drei Zeilen zieht. Liest man jedoch genauer, wird schnell deutlich, dass es sich um eine falsche Hoffnung handelt, ein künstlich hergestelltes Gefühl, um von der Wahrheit abzulenken. Denn die Wunder, für die die Menschen schwärmen, können keine wahren sein oder wenigstens nicht ihre eigenen. Sie agieren noch immer wie ein Schwarm von Insekten, der gemeinsam in irgendeine Richtung drängt, ohne zu wissen warum. So gelesen, wären sämtliche echten Wunder in Gefahr, bedroht durch die menschliche Heuschreckenplage, die alles in ihrem Weg zerfrisst und dann weiterzieht – wie sie Moden, Künstler oder politische Trends kurz aufnimmt und dann wieder wegwirft und vergisst. Wir sollten unsere wertvolle Einzigartigkeit nutzen, uns umsehen und selbst entscheiden, was wir aus der grundsätzlichen Aussage „Hier läuft doch etwas falsch“ machen.
Ich muss zugeben, dass ich selbst mehr träumerische Naturfantasien im Kopf hatte, als ich den Text verfasste, und weniger eine konkrete Forderung nach mehr Bewusstsein für die eigenen Taten und ihre Auswirkungen auf die Umwelt. Eine Lesart der letzten Strophe, die etwas simpler ist, könnte man formulieren als: Vielleicht sind wir gar nicht so besonders und vielleicht, nur vielleicht, tut uns ein bisschen Demut hier und da ganz gut. Dieser Aussage gibt ein weiteres zivilisatorisches und städtisches Phänomen Rückendeckung: Die Werbung. Werbung ist die Fortsetzung der Propaganda mit anderen Zielen (um mal ein Zitat von Carl von Clausewitz abzuwandeln). Täglich werden wir bombardiert mit Bildern, Farben, Gerüchen und Tönen, die uns dazu bringen sollen, bestimmte Produkte oder insgesamt mehr zu kaufen, und es wirkt. Es wirkt bei jedem von uns. Die Gemüseabteilung im Supermarkt hat einen Fußboden in Holz-Optik, weil wir das mit Natur in Zusammenhang bringen, im Laden läuft Musik, die darauf abgestimmt ist, uns bessere Laune zu machen, die Wege sind so angelegt, dass wir an allen Angeboten vorbeigehen müssen, Geruchsstoffe werden verbreitet, die uns unbewusst Appetit machen, und an der Kasse liegen unumgänglich Kleinigkeiten, die wir betrachten und auf die wir Lust bekommen, während wir brav in der Schlange warten. Dass wir alle mehr oder weniger darauf hereinfallen, zeigt doch, dass wir alle irgendwie gleich sind – ein Dämpfer für unsere absolute Einzigartigkeit. Was mancher als originellen eigenen Gedanken empfindet, hat er vorher hundertfach in Werbespots vermittelt bekommen. Wir sind Produkte unserer Umwelt. Wie gesagt, ich schließe mich keinesfalls aus.
Im Gegensatz zu vielen anderen meiner Gedichte ist Stadt Land Fluss sauber strukturiert in drei Strophen a drei Zeilen, wie eine am Reißbrett entstandene Stadt. Innerhalb der Strophen aber stolpert man hier und da, das Tempo ändert sich leicht, ein Fremdwort wird verwendet und außerdem eine grammatikalische Konstruktion, die man nicht erwartet. Es brodelt in den Städten, denn die Menschen sind noch immer zu einem guten Teil Tiere, die der lockereren Ordnung der Natur folgen und nicht dem strikten Gleichschritt der Zivilisation. Darüber darf man gerne nachdenken.