Erschütterungen. Dann Stille.: Paradies

Über die Erzählung “Paradies” in “Erschütterungen. Dann Stille.”

Content Notes: Moral/Ethik, Religion, Suizid, Leid

Darf man ein nicht mehr ertragbares Leben (selbst) beenden? Was ist wertvoller: Das Leben als solches oder ein (natürlich für die betroffene Person selbst) lebenswertes Leben? Dürfen andere für uns entscheiden, was wir mit unserem Leben und mit unserem Körper anstellen? Wo ziehen wir die Grenzen?

Im folgenden Blogeintrag geht es um die Kurzgeschichte Paradies aus Erschütterungen. Dann Stille.. Spoiler sind unvermeidbar. Bitte lest zuerst die Geschichte und dann diesen Text!

Unhaltbare Moral

Moralisches Verhalten ist jedes Verhalten, das einer Ethik folgt. Diese Ethik wiederum (und das dazugehörige Verhalten) können unmoralisch wirken und (relativ) sogar sein, wenn man selbst einem anderen Ethiksystem folgt.

Die Moral fundamentalistischer Christen beispielsweise erscheint mir grausam, veraltet und absolut abschaffenswürdig. Wir reden hier nicht von Nächstenliebe, sondern von Abscheulichkeiten wie Abtreibungsverboten oder eben historisch: Völkermord, Unterdrückung, Kolonialisierung, wenn es beispielsweise um die Konquistadoren in Südamerika geht.

In Paradies habe ich mich für eine Gemeinde von Konquistadoren entschieden und sie symbolisch für artverwandte Denkrichtungen heutzutage verwendet.

Hopp, Hopp, Himmel und Hölle

Das Leben der Dorfgemeinschaft in Paradies ist alles andere als paradiesisch. Warum halten sie das aus? Es werden 2 Antworten darauf gegeben. Einerseits sind sie alle fest davon überzeugt, dass Suizid eine Todsünde ist (was angesichts der Gräueltaten, die sie selbst begangen haben und auf die sie auch noch stolz sind, pervers erscheint). Andererseits startet ein solcher Glaube immer in der Gemeinde und bleibt nur in dieser lebendig. Oder anders: Gruppendruck. Man stellt Wachen auf, damit sich niemand umbringt. Stellt euch ein Leben vor, das aus Jahrhunderten des Leidens besteht, und dann stellt sich jemand vor euch und lässt euch nicht sterben.

Religion ist eine intersubjektive Absprache. Als Kind wird dir erklärt, dieses und jenes sei zu glauben und jenes und welches sei falsch. Herzlichen Glückwunsch, Kind, du bist jetzt Republikaner (oder Katholik, Mormone, Moslem, Buddhist oder was auch immer). Die Gemeinschaft hält ihre Grenzen dicht nach innen, damit niemand entkommen kann. Der Blödsinn, der daraus erwachsen kann, ist unfassbar.

Gedankenexperimente

Philosophie ist keine Disziplin, in der man sich die Hände schmutzig macht. Im Grunde findet alles im Kopf statt. Wenn Chemiker*innen Säuren zusammenkippen und Physiker*innen mit Lasern spielen, veranstalten Philosoph*innen Gedankenexperimente. Sinn von Gedankenexperimenten ist es beispielsweise, Situationen aufzuzeigen, in denen Fehler von Theorien oder Denksystemen zutage treten.

Paradies kann als solches Gedankenexperiment gelesen werden. Ist das System hinnehmbar, wenn es den einzigen Ausstieg aus einer unerträglichen Situation verbietet? Vergessen wir nicht, dass wir zwar nicht mehr von der Kirche des Mittelalters reden, die Personen, die sich selbst töteten, nicht mit Messe und auf dem Friedhof beerdigen ließ, aber die Regeln der gleichen Kirche noch immer die Grundlagen der Moral unserer Gesellschaft bilden. Darf man den Freitod wählen, wenn das Leben unerträglich wird? Jetzt wären wir mitten in der Debatte um den Gnadentod für Schwerstleidende.

Nebenthemen und Assoziationen

Ich weiß nie, ob Leser*innen gewillt sind, so weit zu denken, wie ich es mir erhoffe. Assoziationen zur Freitod-Debatte und zu veralteten Moralvorstellungen sollten jedenfalls aufpoppen. Die Dorfgemeinschaft als Vertreter unzeitgemäßer und geradezu brutaler Wertvorstellungen ist recht deutlich dargestellt, denke ich. Sie raubten und mordeten im Namen ihres Ethiksystems. Nur das nicht enden wollende Leben hält sie davon ab zu verschwinden, wie es sein sollte. Angesichts dessen fragt man sich, warum ähnlich Denkende noch heute so dermaßen viel Macht besitzen.

Dystopie

Die Dorfgemeinschaft in Paradies folgt festen Regeln, christlichen Regeln. Der Vorsteher verkauft die Existenz dort nicht nur als Leben, sondern sogar als paradiesisches Leben. Die Logik ist schwer zu schlagen. Was erwartet jemanden im Paradies? Ewiges Leben in der Gemeinschaft der Gläubigen. Das ist natürlich auch Unfug. Die Existenz im Dorf ist mindestens das Purgatorium. Man könnte argumentieren, dass das Ende der Vorhölle durch den Freitod eingeleitet wird und danach der Himmel folgt. Das Leid wäscht die Seele rein, wie in Dantes Göttlicher Komödie. Doch die Dorfgemeinschaft ist dermaßen verbohrt in ihren Ansichten, dass sie das nicht sehen können. Sie bleiben sogar ihrem Gott fern und sind in einer moralischen Sackgasse gefangen. Wie Republikaner, die vom Krieg profitieren, Waffenbesitz verteidigen, Polizeibrutalität und systemischen Rassismus unhinterfragt akzeptieren, während sie gleichzeitig von christlichen Werten sprechen.

Eine solche Gesellschaft, die eine derartige Grausamkeit und Brutalität als positive Werte verkauft, während Unterdrückung herrscht, ist eindeutig eine dystopische. Wir sollten nicht zulassen, dass dieser Horror weiter Fuß fasst in der Welt. Hoffen wir das Beste und handeln wir danach!

Der Unmoralische als Moralmensch

Der Ich-Erzähler ist kein Mensch, den man als besonders „moralisch“ bezeichnen würde. Vielleicht folgt er seiner eigenen Ethik, aber auch diese folgt nicht den gängigen Normen. Kurz: Er ist ein Krimineller. Das wird jedenfalls angedeutet. Er wirkt egoistisch, dank seines bunten Aufzugs geradezu egozentrisch. Aber dumm ist er nicht.

Der Vorteil des Egoismus ist, dass man das eigene Leid bemerkt, ohne es durch irgendwelche Normen zu rechtfertigen. Es mag Adel liegen im Leid, aber das heißt nicht, dass man leiden muss, wenn es auch anders geht. Der Ich-Erzähler erkennt das. Er durchblickt die Situation, und bringt sich um.

Sorck: Zwei Vögel und die Ordnung im Chaos

Über eine Szene aus dem Roman “Sorck” sowie ihre Hintergründe.

Eine winzige Szene aus dem Roman Sorck, slawische Mythologie und ein verstecktes Statement sind Thema dieses Artikels. Ohne Spoiler wird es nicht abgehen können. Seid also gewarnt!

Situation: In Sankt Petersburg hat Martin Sorck eine unangenehme Einreise überstanden und steht nun im Freien.

„Der Himmel schimmerte grau und schien sich direkt an den Boden anzuschließen, ohne Horizont, ohne Trennlinie. Ihm fielen zwei Vögel auf, die als Paar zum Hafenbecken flogen, einer hell, einer dunkel. Am Ziel angekommen schwebten sie auf der Stelle, um dann ihre Flügel anzulegen und sich ins Wasser zu stürzen. Einen Moment später tauchten sie wieder auf, schlugen wild mit dem Gefieder und erhoben sich in die Luft. Ihr Rückweg führte über Sorck hinweg und als sie genau über ihm flogen, rieselte feuchter Sand auf seine Stirn.“

Um diesen kurzen Moment innerhalb einer turbulenten Geschichte soll es gehen. Was hat es damit auf sich? Wieso Vögel? Wieso dort?

In Sorck tauchen immer wieder Bezüge zu Religion und Mythologie auf. So auch hier. In der slawischen Mythologie, genauer gesagt in der slawischen Kosmogonie, gibt es eine Schöpfungsgeschichte in verschiedenen Versionen. Kurz zusammengefasst: Aus dem Nichts entsteht mit Beginn des Zeitflusses das Weltenei, aus dem Bieleboh und Czorneboh entstehen. Diese beiden, der weiße Gott und der schwarze Gott, bauen unsere Welt. In manchen Darstellungen werden sie als zwei Vögel dargestellt, die Erde vom Meeresgrund holen und an Land tragen.

Wir Menschen suchten schon immer nach einer Erklärung für unsere Existenz und erfanden sie in Form von Geschichten. Das ist der Kern jeder Religion. Die Erklärung für die Existenz von Martin Sorck ist die Geschichte, die ich erfinde. Schöpfung in zweiter Potenz, wenn man so will. Ich bin bei meiner Figur zu jeder Zeit und bin verantwortlich für alles Gute und alles Böse, das ihr zustößt. Aber nicht aus einem Gotteskomplex heraus habe ich mich als Schöpfer in die Geschichte geschrieben, sondern als Statement der Planmäßigkeit im Chaos der Geschichte.

Wie eine Segnung fällt der Sand von den göttlichen Vögeln herab auf die Stirn Sorcks. Es gibt einen Plan für ihn. Während seiner Reise sucht er nach Sinn und Bestimmung. Es gibt Sinn und Planmäßigkeit, aber nicht auf einer Ebene, die er überblicken könnte. Ein weiterer Kommentar dazu steht auch im Artikel Sorck: Die Dachbogenszene.

Dass die Szene in Russland angesiedelt ist, erklärt ihr Bezug zur slawischen Mythologie, so wie Bezüge zur nordischen Mythologie beispielsweise in Stockholm auftauchen.

Was Martin Sorck nicht merkt und wohl auch kaum jemand sonst: die beiden Vögel tauchen mehrmals auf. Noch auf dem Kreuzfahrtschiff sieht er sie auf dem Monitor an seiner Kabinenwand.

„Zwei sandige Vögel und ein Mann in einem Trenchcoat. Er fragte sich, ob es das selbe Rorschachbild wie zuvor war, […]“

Ihm wurde ein Blick in die Zukunft gewährt, den er nicht verstehen konnte. Dadurch wurde den Lesenden der gleiche Blick gewährt und sie teilten das gleiche Unverständnis mit ihm. Gibt es Zeichen und gibt es einen Sinn in der Welt, so übersteigen sie unser Verständnis. Anders ausgedrückt: Sollte es tatsächlich einen Gott geben, der alles lenkt, hat das für uns keine Bedeutung, da wir weder verstehen können, was er tut, noch ändern können, was geschieht. Man könnte es als Zeichen der gleichen Ansicht betrachten, dass die frühe christliche Theologie darauf bestand, dass Gott bereits vor der Erschaffung der Welt festgelegt hatte, welche Menschen in den Himmel kommen und welche in die Hölle. Weit vor der Geburt einer Person steht sein Schicksal fest und was sie auf Erden tut, ändert nichts daran. Für einen allwissenden Gott scheint das passend, aber für die Kirche war das unpraktisch. Warum sollte man sich gut verhalten, wenn man nichts am Ergebnis ändern kann? Plötzlich musste man sich seinen Platz im Himmel verdienen. Das als kleiner Ausflug in die Theologie.

Eine Parallele dazu gibt es in Form folgender Weltsicht: Die Welt basiert auf physikalischen Regeln, ist also eine riesige Kauselverkettung. Wir Menschen bilden unsere Entscheidungen (unseren freien Willen) aufgrund von Erfahrungen und Reizen, die wiederum Teil der Kausalverkettung sind. Damit wäre jede Handlung, jeder Gedanke und jedes noch so zufällig wirkende Ereignis von vornherein vorherbestimmt, wenn auch nicht geplant. Es gab die Ansicht, dass man jeden Zustand des Universums zu jeder Zeit berechnen könnte, wenn man in der Lage wäre, den kompletten Weltzustand zu einem bestimmten Zeitpunkt zu bestimmen. Laplacescher Determinismus. Die Heisenbergsche Unschärferelation hat dem einen Strich durch die Rechnung gemacht. Aber das führt jetzt zu weit.

Zurück zu den Vögeln: Passenderweise tauchen diese auch in einer Kirche auf. Martin Sorck entdeckt eine kleine Statue.

„Eine Frauengestalt in langer, heller Robe erhob den schlanken Zeigefinger ihrer rechten Hand und deutete auf zwei Vögel, die über ihr flogen. Einer von ihnen war wiederum mit Gold überzogen, der andere, dunklere, nicht.“

Hier wurden sogar mehrere mythologische beziehungsweise story-eigene Bezüge miteinander verknüpft. Eva, die Frau, die Sorck kennenlernt, begegnete ihm in der gleichen Pose wie hier Mokosch, die slawische Fruchtbarkeitsgöttin. Dass es sich um Mokosch handelt, sieht man übrigens an der lateinischen Widmung unter der Statue, die sich auf einen ihrer Beinamen bezieht. Die Verbindung zwischen Martin Sorck und Eva wird hier ebenso gezeigt wie die Planmäßigkeit ihrer Zusammenführung. Es gibt Ordnung im Chaos.

Vielleicht noch ein paar persönlichere Notizen dazu:

Ich liebe diese kleinen versteckten Geheimnisse in Büchern. Ob ich sie selber gestalte oder jemand anders (wie Kehlmann, der mit Du hättest gehen sollen seine eigene Shining-Version geschrieben hat und an einer Stelle versteckt auf das Buch und den Film hinweist), ist dabei gleich. Daher wollte ich das besprochene Detail am liebsten schon direkt nach der Veröffentlichung verraten. Aber jetzt, da mehr Leute Sorck gelesen haben, ist der Zeitpunkt passender.

Man könnte meinen, ich sei religiös oder beschäftigte mich viel mit Gott, aber dem ist eigentlich nicht so. Ich glaube nicht an Gott. Allerdings ist es für mich ausgesprochen wichtig, einen Sinn in den Dingen zu sehen, die ich tue. Ein Leben ohne höhere Bedeutung ist bedeutungslos, sinnlos, also schwer zu leben. Daher habe ich immer nach Sinn gesucht und ihn in der Literatur gefunden. Auf einer lebenslangen Sinnsuche stolpert man zwangsläufig über Religionen, da andere ihren Sinn darin gesucht und gefunden haben. Dieser Aspekt und die deutliche Verbindung zwischen göttlicher Schöpfung und menschlicher Schöpfung und Kreativität bringen mich immer wieder zu religiösen Themen.

Mir ist bewusst, dass ich in diesem Artikel riesige Themenkomplexe angerissen habe (Mythologie, Religion, Determinismus, Literatur, Sinnsuche), mit denen man sich ein Leben lang beschäftigen könnte. Daher bitte ich um Verzeihung für die vage Darstellung. Sicherlich werden alle Themen nochmal besprochen genauer werden, aber für einen Überblick über die Idee hinter dieser winzigen Szene sollte das reichen.