Shibari-Ästhetik

Über die besondere Ästhetik des Shibari.

Der wichtige Begriff hier lautet Kunst. In einigen früheren Artikeln habe ich bereits über BDSM und teilweise über die Ästhetik der Szene geschrieben. Hier könnt Ihr die Texte nochmal nachlesen:

Freiheit, Geborgenheit, BDSM

Sorck: Frau Major

Seit zwei Tagen habe ich eine vage Idee im Kopf, der ich in diesem Beitrag nachgehen möchte, weil ich weiß, dass ich schreibend anders denke. Beim Shibari geht es nicht darum, jemanden einfach zu fixieren, sondern darum, dies kunstvoll zu tun. Praktisches wird mit Ästhetischem verbunden und dieses Praktische wiederum dient üblicherweise der Erotik. Wo immer derart unterschiedliche Aspekte aufeinanderprallen, droht Kunst zu entstehen.

Shibari ist das Einfangen einer lebendigen Fotografie. Die künstlich hergestellte Position der gefesselten Person wird mithilfe von Seilen fixiert, wie eine in Pose gesetzte Person mithilfe von Pinselstrichen (einzelner Haare, wie kleine Seile, in Farbe getaucht) auf die Leinwand gebunden wird. Durch die zusätzliche Dimension, die die Malerei nur andeuten kann, ähnelt Shibari-Kunst eher Bildhauerei: Eine Figur, fixiert im Augenblick. Doch die Bildhauerei unterscheidet sich wiederum durch ihre Beständigkeit vom Shibari, denn dieses ist beschränkt durch die Vergänglichkeit des Materials – der Mensch ist vergänglich und die Position, in die er geschnürt wird, kann ohne gesundheitliche Schäden nicht ewig gehalten werden. In diesem Sinne wäre Shibari verwandt mit Street Art, dessen Essenz die Vergänglichkeit ist. Sie wird übermalt von anderen Künstler*innen oder Gegnern dieser Kunst, zerstört durch das Wetter oder durch den Abriss der Wände, die ihr als Untergrund dienen. Es wäre für Street Art-Künstler*innen aber eher ungewöhnlich, wenn sie ihre eigenen Kreationen selbst auflösen würden, wie man es beim Shibari tut.

Aussage ist ein wichtiger Punkt von Kunstwerken, doch gibt es etliche Beispiele, in denen Aussage keinerlei Bedeutung besitzt, sondern Konsequenz (im Sinne einer Entwicklung, beispielsweise monochrome Gemälde als Höhepunkt des Reduzierungszwangs in der modernen Kunst), Technik, Provokation oder reine Ästhetik. Shibari könnte man als aus einem Handwerk entwickelten Kunstform definieren, in der Aussage hinter Technik und Ästhetik zurücktritt, wobei die Technik wiederum sowohl im Dienste der Ästhetik steht als auch für sich Bedeutung trägt. Das Material könnte interessanter kaum sein: Der Mensch, verschnürt zu einem Gemälde. Durch die ständige Veränderung des Menschen wird jede noch so perfekte Shibari-Installation mit jeder Wiederholung zu einem neuen Werk, immer einzigartig.

In Bezug zum Beitrag über den Begriff der Begrenzung wäre noch interessant, dass dieser Aspekt besonders stark beim Shibari hervortritt. Der Körper wird in Segmente eingeteilt, Seile werden zu Bilderrahmen und die Haut zum Gemälde, der Körper wird zu einem Mosaik, und doch ist das Werk nur als Ganzes Kunst. Am Ende hat man einen Ausschnitt aus einem Leben, einen begrenzten Menschen, frei und vollständig, befreit von Verantwortung für eine Weile, freiwillig zum Objekt gemacht, das den eigenen Willen beurlauben darf.

Ich darf nicht unerwähnt lassen, dass es im Roman Sorck eine Szene mit Bondage-/Shibari-Elementen gibt. Die Passagiere sind nicht gefesselt, aber bewegungsunfähig und wehrlos, während die Kellner zum Teil verschnürt sind, sich aber frei bewegen. Das menschliche Leben ist eine Ansammlung von Widersprüchen, und häufig sind jene unfrei, die frei scheinen, und umgekehrt.

Es gibt etwas an diesem Themenfeld, das ich nicht recht greifen kann und das mich beschäftigt. Worauf möchte ich hinaus? Wonach suche ich? Vielleicht ist es wieder die Frage nach Freiheit, Kontrolle und Realität (beziehungsweise der subjektiven Wahrnehmung dieser). Was dem einen Menschen eine Höllenvorstellung ist, ist dem anderen eine Erlösung. Niemand möchte sich wehrlos fühlen. Doch was sind wir anderes als wehrlos, wenn wir jemandem vollends vertrauen und uns nackt zu ihnen legen, schlafend oder wachend, Hände an verletzlichen Stellen des Körpers zulassen? Vertrauen ist wohl der Knackpunkt, Vertrauen und Hingabe. Damit wäre beim Shibari nicht bloß der Künstler/die Künstlerin dem Werk ergeben, sondern auch das (lebendige) Werk dem Künstler/der Künstlerin. Wenn Literatur als Dialog zwischen Autor*in und Leser*innen verstanden werden kann, wäre Shibari der Dialog zwischen Werk und Künstler*in – ein echter Dialog, nicht ein indirekter. Oder?

Möglicherweise werde ich Antworten auf meine Fragen und zufriedenstellende Endpunkte für meine Gedankengänge zu diesem Thema finden. Dann teile ich sie mit euch. Sollte ich keine Endpunkte finden, werden weitere schlecht verknüpfte Seile in meinem Kopf herumtreiben. Was ist besser? Lose Seile, die man vielleicht niemals verknüpfen kann, oder ein gordischer Knoten, der sich nur lösen lässt, indem man ihn zerstört?

Freiheit, Geborgenheit, BDSM

Über die freiwillige Abgabe von Kontrolle, BDSM und die Verarbeitung in der Literatur.

Wie passt das bitte zusammen?

Freiheit war für mich immer ein wichtiges Thema. Ich wollte nie wie andere sein und stattdessen meinen eigenen Weg gehen, auch wenn ich selten wusste, wo er hinführen würde. Ein betrunkener Arbeitskollege sagte mir mal: „Mattes, ich bin mir sicher, du wirst deinen eigenen Weg gehen, auch wenn du nirgendo ankommen wirst.“ Das gefiel mir immer gut.

Als Erwachsener hat man die Freiheit, selbst zu entscheiden, was man tun oder lassen will. Es gibt Einschränkungen, aber grundsätzlich sind diese auch nur zum Schein vorhanden. Man muss arbeiten gehen, Steuern zahlen, mit Menschen sprechen, weiterleben … Aber muss man das wirklich? Im Grunde nicht. Es hat bloß Konsequenzen, wenn man sich dagegen entscheidet. Man kann sich aber gegen vieles entscheiden und damit für die möglichen Konsequenzen. Beispielsweise habe ich mich entschieden, alles auf Literatur auszurichten und habe dafür wenig Geld, kaum Luxus und viel Stress. Freiheit bedeutet Kontrolle über das eigene Leben (im Rahmen eines sozialen Gefüges, wenn man sich dafür entscheidet, und außerhalb dessen, wenn man es will und hinbekommt).

Die Geborgenheit, die man als Kind genießt, resultiert im Nachhinein auch daraus, dass man keine Verantwortung tragen musste. Zwar strebte man nach Unabhängigkeit, aber es fehlte die Macht, wichtige Entscheidungen zu treffen. Alle Entscheidungen, die man selbst getroffen hat, entwickelten sich mit den Eltern als Rückendeckung. Wichtiges wurde einem abgenommen. Es handelt sich also um eine angenehme Unfreiheit, wenn man so will. Keine Gefangenschaft, sondern Schutz. Man hat weniger Kontrolle über sich und das eigene Leben, aber genießt größte Sicherheit.

BDSM ist für mich ein interessantes Konzept, das ich gerne in Texten verwende. Aus meiner Sicht geht es dabei viel um Freiheit, Kontrolle, Verantwortung und Sicherheit. Das Motto save, sane, consensual and fun steht im Vordergrund und hat immer präsent zu sein. Alle Parteien achten auf die Sicherheit des Spiels, das sich in geistig gesunden Bahnen bewegt, einvernehmlich ist und Spaß machen soll. (Zufällig ist das auch das Motto der S.S.C.F. Aisha Harmonia, dem Kreuzfahrtschiff im Roman Sorck.)

Im BDSM gibt es üblicherweise die zwei Pole Kontrolle und Kontrollaufgabe – Kontrollverlust wäre falsch, da es sich um eine freiwillige Abgabe handelt und keinen unfreiwilligen Verlust. Mich interessierte psychologisch immer die (scheinbare?) Abgabe der Kontrolle, also der Sub-Part. Warum lässt sich jemand fesseln, hilflos machen, erniedrigen oder schlagen? Lassen wir mal die rein sexuellen Freuden von Schmerz und die möglichen Gründe dafür außen vor, also den reinen Masochismus, und bleiben bei der Abgabe von Kontrolle. Liegt nicht eine gewisse Geborgenheit darin, keine Verantwortung mehr für sich und seinen Körper zu tragen? Ja, man kann sich nicht mehr bewegen, aber das heißt auch, dass man nicht muss. Man hat nicht mehr die Macht, selbst zu entscheiden, aber man muss eben auch nicht mehr. Entscheidungen kosten Kraft. Wenn man das (und generell die Welt des BDSM) gruselig findet, sollte man sich kurz daran erinnern, dass es sich um ein Spiel handelt, mit dem beide Seiten einverstanden sind. Es gibt ein Safeword, ein Wort, das verwendet wird, um das Spiel abzubrechen. Derjenige, der scheinbar alle Kontrolle und Macht abgegeben hat, besitzt die ganze Zeit die Macht, das komplette Spiel zu stoppen. Ein Wort und es ist aus. Damit (und durch vorherige Kommunikation sowie geistige Gesundheit) werden Grenzen gesetzt. Im Grunde könnte man sagen, dass die ultimative Macht des Spiels beim scheinbar machtlosen Part liegt. Dieses Element taucht auch in Sorck auf, wenn Eva Martin aggressiv dazu auffordert, mit ihr zu tun, was er möchte. Im Endeffekt tut er damit, was sie will. Sie hat von Anfang bis Ende die Kontrolle über ihr Leben. Deshalb zählt sie zu meinen Lieblingsfiguren.

Es ist kaum verwunderlich, dass viele Subs Menschen sind, die im Alltag viel Verantwortung tragen, wie beispielsweise Manager. Die Fantasie eines reichen, mächtigen und erfolgreichen Typen, der auch noch sexuell dominant ist, trifft nur selten zu, auch wenn sie in entsprechender Literatur häufiger vorkommt. Im Spiel wechselt man die Rollen. Warum sollte man sonst spielen? Subs tauschen Verantwortung und Kontrolle gegen die Freiheit und Geborgenheit verantwortungsloses und machtloses Ausgeliefertsein.

Man kann also die Situationen im BDSM, in denen man Kontrolle und Verantwortung abgibt, als Erinnerung an kindliche Geborgenheit interpretieren. Alles wird einem abgenommen, aber ohne bösen Willen dahinter. Noch deutlicher wird es, wenn man an die Littles- & Caregiver-Szene denkt, in der der eine Part (Little) in kindliches Verhalten verfällt und der andere Part (Caregiver) eine elterliche Aufpasserrolle übernimmt. Häufig spielt es sich vollends losgelöst von sexuellen Akten ab, was den Fokus bei den Littles darauf, keinerlei Verantwortung tragen zu müssen, aus meiner Sicht noch verstärkt. Allerdings muss ich zugeben, dass ich wenig Interesse an dieser Szene und entsprechend wenig Einblick hatte und habe.

Zurück zur Literatur: In Sorck dreht sich alles um Kontrolle und Kontrollverlust – über das eigene Leben, über Alkohol- und anderen Konsum, über andere Menschen … – und von daher passten die Anleihen an die Welt des BDSM so gut hinein (und es gibt etliche davon, wenn man darauf achtet). Eigentlich war aber ein Gedicht aus Alte Milch der Auslöser für diesen Beitrag. Auch in anderen Texten geht es häufig darum. Kontrolle und Kontrollverlust ist eines meiner Grundthemen, wie ich es bereits im Blogeintrag Grundthema: Macht/Ohnmacht, Kontrolle/Kontrollverlust kurz besprochen hatte.

Streben wir nicht alle nach Freiheit und Selbsterfüllung, während es uns gleichzeitig nach Sicherheit und Geborgenheit verlangt? Wie kann man das unter ein Dach bringen? Wie frei kann man sein, wenn man ganz alleine ist? Und wie viel Freiheit opfert man, um sicherer und bequemer zu leben?

Was mich angeht, könnte man behaupten, ich lebe in Freiheit und ginge meinen eigenen Weg. Aber, um es mal kryptisch auszudrücken, hat meine Freiheit von damals zu einigen Unfreiheiten heute – nein, keine Vorstrafen – geführt und meine Psyche unterdrückt mich auch gerne mal. Mit den Konsequenzen meiner Freiheit und meiner freiwilligen Selbsteinschränkung (Arbeit vor Vergnügen usw.) lebe ich jeden Tag.

Den ganzen Themenkomplex rund um den freien Willen habe ich mal außen vor gelassen, genauso den Diskurs über Freiheit versus Sicherheit in der Gesellschaft, weil das viel zu weit geführt hätte. Vergessen habe ich beides jedoch nicht und vielleicht (recht sicher) werden diese Themen noch nachgeholt. Außerdem möchte ich darauf hinweisen, dass ich Laie bin in Bezug auf alle Themen, die ich hier besprochen habe, und es sich nicht um eine Expertenmeinung handelt.

Fun Fact zum Abschluss: Die Begriffe Masochismus und Sadismus entstammen direkt aus der Literatur. Der Sadismus ist nach dem Marquis de Sade benannt, der in Gefangenschaft Geschichten geschrieben hat, die ihm die zweifelhafte Ehre, der Namensvater des Sadismus zu sein, eingehandelt haben, und der Masochismus nach Leopold von Sacher-Masoch, der seinen Titel durch das Buch Venus im Pelz erlangte, also zwei Autoren.