Viele Autor*innen schreiben gern mit Hintergrundmusik und haben dafür eigene Playlists oder Go-To-Songs. Eigentlich gehöre ich nicht zu diesen Autor*innen. Ich bevorzuge Stille oder White Noise. Doch manchmal kommen Musik und Schreibarbeit ungeplant zusammen. Dann entsteht etwas Neues. In diesem Blogeintrag geht es um die Geschichte Not In Love in Erschütterungen. Dann Stille.. Warnung: Spoiler sind unmöglich zu vermeiden.
Content Notes: Selbstverletzung, Alkohol, Liebeskummer, Verwirrung
Es ist Freitag, ich bin in Liebe
Es ist Freitag, ich bin in Liebe. pic.twitter.com/nx9FmmJjrt
— jess the december witch (@FrauBlod) March 6, 2020
Der zitierte Tweet einer Twitter-Autorin ist aus einer Reihe ihrer Freitagstweets. It’s Friday, I’m in love hat Robert Smith 1992 zu singen begonnen und tut es in den Köpfen vieler noch immer. 2010 hat er etwas anderes zu singen begonnen: I’m not in love. Not In Love ist ein Cover von Crystal Castles (von 2010) mit Smith als Ausnahme-Sänger und im Original von Platinum Blonde aus dem Jahr 1983. Dies ist Song Nr. 1, der mich inspirierte.
Song Nr. 2 ist ebenfalls von Crystal Castles und heißt Sad Eyes. Er ist aus dem Jahr 2012, von einem anderen Album. Aus irgendwelchen Gründen wurden beide Titel in meiner Playlist direkt aufeinander folgend gespielt (so wie im Augenblick des Schreibens dieses Artikels auch). You can’t disguise sad eyes, heißt es dort. Und dann hat es mich gepackt. Ich habe beide Songs auf Dauer-Repeat gestellt und geschrieben.
Refrain: I’m not in love!
Vehement behauptet die Stimme: I’m not in love! I’m not in love! Sie behauptet es so häufig, dass es unglaubwürdig wird. Warum sollte irgendjemand wieder und wieder betonen, dass er nicht mehr liebt? Und wie eine Befreiung oder Aufklärung ändert sich der Text in We are not in love. Das Ich darf nicht mehr „in Liebe“ sein (ich mag und klaue diese Formulierung oder Direktübersetzung von Jess an dieser Stelle), weil das Paar nicht mehr existiert, weil das Wir nicht mehr „in Liebe“ ist – wie könnte es, wenn mindestens ein Part die Liebe aufgegeben hat?
Eine ähnliche Assoziationskette wollte ich auslösen mit der Wiederholung der Worte Not In Love in der Geschichte. Außerdem wollte ich mit der Wiederholung, die wie ein Mantra oder Refrain wirkt, auf den Song und die musikalische Herkunft der Erzählung hindeuten. Der Ich-Erzähler versucht, sich selbst zu überreden. Er singt sich seine Lügen vor, bis er sich endlich davon befreien kann.
Ja ja, die Liebe
Liebe in allen Variationen ist vermutlich das älteste und meist behandelte Thema der gesamten Literatur- und Kulturgeschichte der Welt. Als Thema wird es niemals ausgedient haben. Jedenfalls nicht, solange die Menschen noch lieben, noch in Liebe sind, noch die Liebe verlieren und vermissen und Sehnsucht haben und hoffen, immer wieder hoffen.
Ich habe vermutlich nicht mehr Ahnung von Vergnügen und Schmerz der Liebe als die meisten anderen, auch wenn es sich für jede*n so anfühlen mag, dass er gerade jetzt, gerade hier besonders heftig zugeschlagen hat.
Mir fällt gerade auf, dass ich einen Fehler begangen habe. Mal wieder habe ich Liebe mit romantischer Liebe gleichgesetzt. Nicht alle empfinden romantische Liebe und das ist okay. Ich würde tatsächlich gern mehr über andere Formen der Liebe (Freundschaft beispielsweise) lesen. Doch wer zu romantischer Liebe fähig ist (oder dazu verdammt, sie zu empfinden), wird mir vermutlich zustimmen, dass es wenig gibt, das sich intensiver anfühlt. Daher verzeihe man mir meine fehlerhafte Ausdrucksweise in Anbetracht der albernen Emotionsnostalgie, in die man verfallen kann, wenn man über romantische Liebe nachdenkt.
Tempo, und Stopp!
Not In Love ist verwischt, was das Tempo angeht. Die Erzählung ist nicht stabil, sondern rennt einmal voran und stoppt dann wieder, um einen kurzen Moment festzuhalten, der wichtiger zu sein scheint als die Jahre davor. Kennt ihr das aus der eigenen subjektiven Wahrnehmung der Zeit? Im Positiven kann es vorkommen, dass man tage- und wochenlang hetzt und nicht zur Ruhe kommt, und dann sitzt ihr da und haltet eine Hand in eurer Hand. Das Tempo ändert sich. Endlich. Im Negativen sieht es ähnlich aus, aber fühlt sich anders an. Alles rast in Gleichgültigkeit und in Stumpfsinn emotionslos vorbei, bis ihr die Hand, die euch gerettet hatte, in einer fremden Hand erblickt. Alles gefriert und splittert und brennt zugleich. Der Anblick eines vertrauten Menschen kann unfassbar schmerzhaft sein. Das ist es, was ich erreichen wollte, als ich die Szene hervorgehoben habe, in der der Ich-Erzähler seine ehemalige Partnerin entdeckt. Nicht mehr die Person zu sein, deren Hand gehalten wird, tut weh, nicht die Existenz der fremden Hand, sondern was sie bedeutet.
Kein toxischer Müll
Mir ging es um die Erfahrung des Verlassen-Werdens, des emotional Auf-Sich-Gestellt-Seins, der Einsamkeit und des Nicht-Loslassen-Könnens. Wichtig war mir dabei, dass die Darstellung nicht giftig wird. Kein Hass gegenüber der ehemals geliebten Person. Noch weniger wollte ich dieses ekelhafte Verhalten darstellen (oder gar romantisieren), das sich bei manchen zeigt: Verfolgung, übergriffige Rückeroberungsversuche, Gesten, die vielleicht schön sein sollen, aber auch Angst machen können.
Ein „ich bin immer in deiner Nähe“ kann unglaublich creepy sein und ist z.B. nicht zu vergleichen mit dem „ich lasse nachts die Tür auf, falls sie doch entscheidet, zurückzukommen“ wie in Neil Hilborns Auftritt , die ich im Artikel über die Erzählung Heimweg erwähnt hatte. Keine Liebe der Welt rechtfertigt es, die bewusst (und in geistig gesundem Zustand) getroffenen Entscheidungen anderer zu missachten.
Chaos der Wohnung als Chaos im Herzen
Zu Beginn von Not In Love zerschlägt der Ich-Erzähler einen Spiegel. Am Ende verletzt er sich selbst mit einer Scherbe des Spiegels. Wie viel Zeit dazwischen vergeht, lasse ich absichtlich offen, aber der Eindruck sollte entstehen, dass es sich um mehrere Monate handelt, wenigstens aber etliche Wochen. Was sagt es über den inneren Zustand des Ich-Erzählers aus, dass seine Wohnung nach Wochen und Monaten noch immer nicht aufgeräumt worden ist? Wer sich schon einmal aus Krisen gearbeitet hat, weiß, dass eine ordentliche Umgebung der inneren Genesung behilflich ist. Wir kümmern uns um das, was wir relativ einfach ändern können. Wir verändern die Welt, in der wir leben. Wir schaffen etwas. Wer stets im Chaos, in richtigem Chaos, lebt, hat vermutlich mehr Probleme als nur die Unordnung in der Wohnung. Auch das ist eine Assoziation, die ich auslösen wollte.
Klappe zu, Affe tot
Dieser Spruch bezieht sich übrigens auf Drehorgeln, soweit ich weiß. Im Fall des Erzählers sollte man eher sagen: „Finger ab, Problem gelöst“. Das ist natürlich Unfug. Niemand, der sich selbst verstümmelt, ist klar bei Verstand. So werden keine Probleme gelöst, wenn man nicht gerade in einem Saw-Szenario gefangen ist oder fernab der Zivilisation mit Wundbrand zu kämpfen hat.
Der abgetrennte Finger steht symbolisch für die Trennung vom bisherigen Lebensabschnitt. Der „Abschnitt“ wird wortwörtlich abgetrennt. Er liegt noch nicht hinter ihm. Der Stumpf wird bluten, der Finger herumliegen. Es wird weiterhin Schmerzen geben. Es ist sogar möglich, dass der Finger wieder angenäht wird.
Der Ich-Erzähler beginnt mit einer Rechtfertigung, in der er ganz klar sagt, dass seine Gedanken bei der Tat „ausgelöscht“ gewesen waren. Es war kein durchdachter Akt, aber auch keine blinde Zerstörungswut. Wenn wir ohne nachzudenken und drastisch handeln, führen wir oft symbolische Akte aus. Ich bin in einem ähnlichen Zustand einmal barfuß durchs Feuer gelaufen. Die Faust, die den Spiegel zerschlägt, ist ein weiterer Klassiker. Wir reden hier nicht von psychisch gesundem Umgang mit den eigenen Gefühlen, aber immerhin von etwas, das vielen vertraut sein könnte.
Der Finger und die Schwäche Wolverines
In der allerersten Version von Not In Love schneidet sich der Ich-Erzähler mit der Scherbe den Finger ab, aber das ist ziemlich schwierig und dauert eine Weile. Daher habe ich mich für die schnelle Abtrennung entschieden, wie sie in der Geschichte beschrieben steht. Der Knochen dürfte das größte Problem beim Vorgang darstellen, aber am Gelenk sollte es leichter gehen. So. Aufgepasst! Wolverine hat starke Selbstheilungskräfte und seine Knochen sind aus Adamantium, das weitestgehend unzerstörbar sein soll. Aber es gibt schließlich Gelenke und knochenlose Körperteile, Schwachstellen. Würde man beispielsweise Wolverines Arme an den Schultern abtrennen, verlöre er das Adamantium dort, auch wenn die Arme nachwachsen sollten. Man kann ihn auf diese Weise nicht umbringen, aber immens und dauerhaft schwächen. Nur so ein Gedanke.