Erschütterungen. Dann Stille.: Not In Love

Über die Kurzgeschichte “Not In Love” in “Erschütterungen. Dann Stille.”

Viele Autor*innen schreiben gern mit Hintergrundmusik und haben dafür eigene Playlists oder Go-To-Songs. Eigentlich gehöre ich nicht zu diesen Autor*innen. Ich bevorzuge Stille oder White Noise. Doch manchmal kommen Musik und Schreibarbeit ungeplant zusammen. Dann entsteht etwas Neues. In diesem Blogeintrag geht es um die Geschichte Not In Love in Erschütterungen. Dann Stille.. Warnung: Spoiler sind unmöglich zu vermeiden.

Content Notes: Selbstverletzung, Alkohol, Liebeskummer, Verwirrung

Es ist Freitag, ich bin in Liebe

Der zitierte Tweet einer Twitter-Autorin ist aus einer Reihe ihrer Freitagstweets. It’s Friday, I’m in love hat Robert Smith 1992 zu singen begonnen und tut es in den Köpfen vieler noch immer. 2010 hat er etwas anderes zu singen begonnen: I’m not in love. Not In Love ist ein Cover von Crystal Castles (von 2010) mit Smith als Ausnahme-Sänger und im Original von Platinum Blonde aus dem Jahr 1983. Dies ist Song Nr. 1, der mich inspirierte.

Song Nr. 2 ist ebenfalls von Crystal Castles und heißt Sad Eyes. Er ist aus dem Jahr 2012, von einem anderen Album. Aus irgendwelchen Gründen wurden beide Titel in meiner Playlist direkt aufeinander folgend gespielt (so wie im Augenblick des Schreibens dieses Artikels auch). You can’t disguise sad eyes, heißt es dort. Und dann hat es mich gepackt. Ich habe beide Songs auf Dauer-Repeat gestellt und geschrieben.

Refrain: I’m not in love!

Vehement behauptet die Stimme: I’m not in love! I’m not in love! Sie behauptet es so häufig, dass es unglaubwürdig wird. Warum sollte irgendjemand wieder und wieder betonen, dass er nicht mehr liebt? Und wie eine Befreiung oder Aufklärung ändert sich der Text in We are not in love. Das Ich darf nicht mehr „in Liebe“ sein (ich mag und klaue diese Formulierung oder Direktübersetzung von Jess an dieser Stelle), weil das Paar nicht mehr existiert, weil das Wir nicht mehr „in Liebe“ ist – wie könnte es, wenn mindestens ein Part die Liebe aufgegeben hat?

Eine ähnliche Assoziationskette wollte ich auslösen mit der Wiederholung der Worte Not In Love in der Geschichte. Außerdem wollte ich mit der Wiederholung, die wie ein Mantra oder Refrain wirkt, auf den Song und die musikalische Herkunft der Erzählung hindeuten. Der Ich-Erzähler versucht, sich selbst zu überreden. Er singt sich seine Lügen vor, bis er sich endlich davon befreien kann.

Ja ja, die Liebe

Liebe in allen Variationen ist vermutlich das älteste und meist behandelte Thema der gesamten Literatur- und Kulturgeschichte der Welt. Als Thema wird es niemals ausgedient haben. Jedenfalls nicht, solange die Menschen noch lieben, noch in Liebe sind, noch die Liebe verlieren und vermissen und Sehnsucht haben und hoffen, immer wieder hoffen.

Ich habe vermutlich nicht mehr Ahnung von Vergnügen und Schmerz der Liebe als die meisten anderen, auch wenn es sich für jede*n so anfühlen mag, dass er gerade jetzt, gerade hier besonders heftig zugeschlagen hat.

Mir fällt gerade auf, dass ich einen Fehler begangen habe. Mal wieder habe ich Liebe mit romantischer Liebe gleichgesetzt. Nicht alle empfinden romantische Liebe und das ist okay. Ich würde tatsächlich gern mehr über andere Formen der Liebe (Freundschaft beispielsweise) lesen. Doch wer zu romantischer Liebe fähig ist (oder dazu verdammt, sie zu empfinden), wird mir vermutlich zustimmen, dass es wenig gibt, das sich intensiver anfühlt. Daher verzeihe man mir meine fehlerhafte Ausdrucksweise in Anbetracht der albernen Emotionsnostalgie, in die man verfallen kann, wenn man über romantische Liebe nachdenkt.

Tempo, und Stopp!

Not In Love ist verwischt, was das Tempo angeht. Die Erzählung ist nicht stabil, sondern rennt einmal voran und stoppt dann wieder, um einen kurzen Moment festzuhalten, der wichtiger zu sein scheint als die Jahre davor. Kennt ihr das aus der eigenen subjektiven Wahrnehmung der Zeit? Im Positiven kann es vorkommen, dass man tage- und wochenlang hetzt und nicht zur Ruhe kommt, und dann sitzt ihr da und haltet eine Hand in eurer Hand. Das Tempo ändert sich. Endlich. Im Negativen sieht es ähnlich aus, aber fühlt sich anders an. Alles rast in Gleichgültigkeit und in Stumpfsinn emotionslos vorbei, bis ihr die Hand, die euch gerettet hatte, in einer fremden Hand erblickt. Alles gefriert und splittert und brennt zugleich. Der Anblick eines vertrauten Menschen kann unfassbar schmerzhaft sein. Das ist es, was ich erreichen wollte, als ich die Szene hervorgehoben habe, in der der Ich-Erzähler seine ehemalige Partnerin entdeckt. Nicht mehr die Person zu sein, deren Hand gehalten wird, tut weh, nicht die Existenz der fremden Hand, sondern was sie bedeutet.

Kein toxischer Müll

Mir ging es um die Erfahrung des Verlassen-Werdens, des emotional Auf-Sich-Gestellt-Seins, der Einsamkeit und des Nicht-Loslassen-Könnens. Wichtig war mir dabei, dass die Darstellung nicht giftig wird. Kein Hass gegenüber der ehemals geliebten Person. Noch weniger wollte ich dieses ekelhafte Verhalten darstellen (oder gar romantisieren), das sich bei manchen zeigt: Verfolgung, übergriffige Rückeroberungsversuche, Gesten, die vielleicht schön sein sollen, aber auch Angst machen können.

Ein „ich bin immer in deiner Nähe“ kann unglaublich creepy sein und ist z.B. nicht zu vergleichen mit dem „ich lasse nachts die Tür auf, falls sie doch entscheidet, zurückzukommen“ wie in Neil Hilborns Auftritt , die ich im Artikel über die Erzählung Heimweg erwähnt hatte. Keine Liebe der Welt rechtfertigt es, die bewusst (und in geistig gesundem Zustand) getroffenen Entscheidungen anderer zu missachten.

Chaos der Wohnung als Chaos im Herzen

Zu Beginn von Not In Love zerschlägt der Ich-Erzähler einen Spiegel. Am Ende verletzt er sich selbst mit einer Scherbe des Spiegels. Wie viel Zeit dazwischen vergeht, lasse ich absichtlich offen, aber der Eindruck sollte entstehen, dass es sich um mehrere Monate handelt, wenigstens aber etliche Wochen. Was sagt es über den inneren Zustand des Ich-Erzählers aus, dass seine Wohnung nach Wochen und Monaten noch immer nicht aufgeräumt worden ist? Wer sich schon einmal aus Krisen gearbeitet hat, weiß, dass eine ordentliche Umgebung der inneren Genesung behilflich ist. Wir kümmern uns um das, was wir relativ einfach ändern können. Wir verändern die Welt, in der wir leben. Wir schaffen etwas. Wer stets im Chaos, in richtigem Chaos, lebt, hat vermutlich mehr Probleme als nur die Unordnung in der Wohnung. Auch das ist eine Assoziation, die ich auslösen wollte.

Klappe zu, Affe tot

Dieser Spruch bezieht sich übrigens auf Drehorgeln, soweit ich weiß. Im Fall des Erzählers sollte man eher sagen: „Finger ab, Problem gelöst“. Das ist natürlich Unfug. Niemand, der sich selbst verstümmelt, ist klar bei Verstand. So werden keine Probleme gelöst, wenn man nicht gerade in einem Saw-Szenario gefangen ist oder fernab der Zivilisation mit Wundbrand zu kämpfen hat.

Der abgetrennte Finger steht symbolisch für die Trennung vom bisherigen Lebensabschnitt. Der „Abschnitt“ wird wortwörtlich abgetrennt. Er liegt noch nicht hinter ihm. Der Stumpf wird bluten, der Finger herumliegen. Es wird weiterhin Schmerzen geben. Es ist sogar möglich, dass der Finger wieder angenäht wird.

Der Ich-Erzähler beginnt mit einer Rechtfertigung, in der er ganz klar sagt, dass seine Gedanken bei der Tat „ausgelöscht“ gewesen waren. Es war kein durchdachter Akt, aber auch keine blinde Zerstörungswut. Wenn wir ohne nachzudenken und drastisch handeln, führen wir oft symbolische Akte aus. Ich bin in einem ähnlichen Zustand einmal barfuß durchs Feuer gelaufen. Die Faust, die den Spiegel zerschlägt, ist ein weiterer Klassiker. Wir reden hier nicht von psychisch gesundem Umgang mit den eigenen Gefühlen, aber immerhin von etwas, das vielen vertraut sein könnte.

Der Finger und die Schwäche Wolverines

In der allerersten Version von Not In Love schneidet sich der Ich-Erzähler mit der Scherbe den Finger ab, aber das ist ziemlich schwierig und dauert eine Weile. Daher habe ich mich für die schnelle Abtrennung entschieden, wie sie in der Geschichte beschrieben steht. Der Knochen dürfte das größte Problem beim Vorgang darstellen, aber am Gelenk sollte es leichter gehen. So. Aufgepasst! Wolverine hat starke Selbstheilungskräfte und seine Knochen sind aus Adamantium, das weitestgehend unzerstörbar sein soll. Aber es gibt schließlich Gelenke und knochenlose Körperteile, Schwachstellen. Würde man beispielsweise Wolverines Arme an den Schultern abtrennen, verlöre er das Adamantium dort, auch wenn die Arme nachwachsen sollten. Man kann ihn auf diese Weise nicht umbringen, aber immens und dauerhaft schwächen. Nur so ein Gedanke.

Jahresrückblick I: Musik I

Über mein musikalisches Jahr 2019, entdeckte und wiederentdeckte Bands.

Willkommen zum ersten Teil unserer 4-teiligen Jahresrückblicksreihe 2019. Das ist der Plan:
20.12.: Musik – Neu- und Wiederentdeckungen
21.12.: Musik – Konzerte
22.12.: Literatur I – Gelesene Bücher
23.12.: Literatur II – Mein literarisches Jahr

Musik spielt eine wichtige Rolle in meinem Leben und zwar ununterbrochen, seit ich als Kind im Zimmer Lego gespielt und LPs von den Beatles, Elvis und anderen auf dem Plattenspieler meiner Mutter gehört habe. Das hier soll eine Art persönlicher musikalischer Jahresrückblick werden, weshalb ich mich auf Neuentdeckungen, Wiederentdeckungen und einige Lieblingssongs beschränken werde. In einem zweiten Artikel wird es dann um Live-Konzerte gehen. Einige Songs und Künstler, die zu meinem Standardrepertoire gehören, werden also gar nicht auftauchen.

Vor vielen Jahren hat mich ein Freund einmal als „toleranten Hörer“ bezeichnet, weil ich jeder Musik eine Chance gebe und nicht selten mehrere. Man wird erkennen können, wo mein Fokus liegt, aber auch, dass ich kein Problem habe, davon abzuweichen. Ich werde alphabetisch vorgehen.

Eine Band, die ich dieses Jahr zu schätzen gelernt habe, ist Amenra. Vom Namen her kannte ich sie schon länger, aber hatte mich nie dazu bequemt, reinzuhören. Dann traten sie in der Nähe auf und haben mich überzeugt. Amenra machen düstere, atmosphärische Musik, die irgendwo im Bereich Post Hardcore oder Post Metal angesiedelt ist. Der Song A Solitary Reign ist mein absoluter Favorit und zählt zu meinen Lieblingsliedern 2019. Für mich klingt die Musik von Amenra nach tiefer Verzweiflung und das finde ich gut. Wenn Musik die Repräsentation von Gefühlen ist, um diese zu unterstützen oder abzubauen, hat jedes Gefühl eine Rechtfertigung, musikalisch umgesetzt zu werden.

Erst kürzlich habe ich Årabrot für mich entdeckt. Sie spielen Noise Rock, wenn ich mich mit der Definition nicht irre, aber sie schöpfen auch aus anderen Bereichen wie Sludge oder Gothic. Ich weiß nicht recht zu sagen, was mir an der Musik gefällt, aber sie ist anders, besonders und unterhält mich. Årabrot fühlt sich an wie Kunst, finde ich.

Battle of Mice gehörte auch dieses Jahr wieder zu den viel gehörten Bands auf meiner Playlist. In einer Facebook-Gruppe fragte jemand nach Songs mit verstörenden und psychotischen Lyrics. Jemand schlug Battle of Mice vor, ich hörte sie mir an und war begeistert. Die Intensität der Schreie von Julie Christmas und das heftige Gitarrenspiel machten mir Gänsehaut. Ein Freund (Metalhead seit Jahrzehnten) sagte, das sei „wirklich harte Musik“ und meinte damit hauptsächlich den Effekt, den die Songs auf die Psyche haben. Bones In The Water wäre mein Favorit, aber unter den wenigen Songs, die es von der Band gibt, kenne ich keinen schlechten.

Okay, gehen wir einige Jahrzehnte zurück und stimmen die Instrumente heller: The Beatles. 2019 stieß ich wieder auf sie. Manchmal beruhigen mich die Songs, manchmal machen sie mir gute Laune und manchmal unterhalten sie mich einfach. Und es sind gute Songs. Ich mochte immer die abgedrehteren Sachen lieber, also Lieder wie Lucy In The Sky With Diamonds. Wenn es irgendeine Band gibt, die in jeder Lebensphase bei mir präsent war, dann die Beatles, wenn auch meist in einer Nebenrolle. Also weiter geht’s.

Boris. Ich liebe Boris. Die Vielseitigkeit, die Gewalt, die Zartheit, die Kreativität und die Produktivität dieser japanischen Band sind großartig. Man vergleiche Hana, Taiyou, Ame mit D.E.A.R. und 1970. Ich könnte problemlos einen Beitrag nur über Boris schreiben, aber in drei Sätzen lassen sich schlecht Jahrzehnte produktiver Musikarbeit zusammenfassen, deshalb belasse ich bei den wenigen Worten.

Colter Wall, ein sympathischer kanadischer Cowboy mit einer wunderbaren Stimme. Er zieht sich nicht einfach als Cowboy an, sondern treibt tatsächlich manchmal Rinderherden. Aber hier soll es um Musik gehen. Die meisten Songs sind langsam und sehr sehr traurig. Country/Western, wie man sich vielleicht denken konnte. Ich liebe die Kombination aus seiner Stimme und den teils großartigen Lyrics. Codeine Dream gehört zu meinen Lieblingsliedern. Every day it seems | My whole damn life’s just a codeine dream | I don’t dream of you | Anymore. Wie sehr er mich mit einigen Songs berührt, ist beängstigend. Es geht um Freiheit, Alkohol, Drogen, Einsamkeit und ein paar Cowboy-Sachen, die man aber ignorieren kann, denke ich.

Ganz anders klingen da Crystal Castles. Elektronisch, manchmal abgehackt, aber auch traurig. Dieses Jahr hatte ich zwei eindeutige Favoriten unter ihren Songs, die ich wieder und wieder gehört habe: Sad Eyes und Not In Love. Zweiterer hat mich zu einer Geschichte inspiriert. An dieser Stelle merkt man vielleicht, wieso ich ein „toleranter Musikhörer“ sein soll. Ich musste mich intensiv in die Songs der Band hineinarbeiten und habe sie wiederholt gehört, bevor ich einen Zugang gefunden habe. Irgendetwas sprach mich an und eine gute Freundin zählt zu ihren Fans, also musste es mehr geben, und irgendwann fand ich es.

Eels habe ich 2019 wiederentdeckt. Ebenfalls meist elektronisch und ebenfalls meist traurig, aber bei weitem nicht nur. Es gibt sogar witzige Songs von Eels, aber davon lassen wir uns nicht aufhalten, oder? Aber da wir zu einem Ende kommen wollen, halte ich mich kurz.

Igorrr machen wirre Sachen. Stellt euch vor, jemand mixt jede existierende Musikrichtung in funktionierende Songs: Polka, Klassik, Oper, Black Metal, Techno … So macht man neue, nie zuvor dagewesene Musik. Als Hörer braucht man allerdings wieder Toleranz oder einen Hang zum Extremen. Ich habe beides. Zum Glück.

Jesu, Joy Division, Lamb of God, Myrkur, Oceans of Slumber, Woods of Ypres und Young Fathers spielten auch noch ihre Rollen als (Wieder)Entdeckungen. Hört rein, wenn ihr sie nicht kennt!

Und dann waren da die kurzen Happy Hardcore-Phasen. Wie zur Hölle kam es dazu? Charly Lownoise & Mental Theo, Dune und sogar Das Modul. Es muss an der Nostalgie gelegen haben, die mich 2019 häufig bedrängte. Wer weiß, wo sie mich noch hinführen wird.

Musikalisch war 2019 für mich wieder interessant. Mir gefällt der Gedanke, dass sich durch diesen Artikel ein paar neue Hörer*innen für die weniger bekannten Bands in meiner Liste finden lassen. Das hätten sie verdient. Habt keine Angst, Neues zu testen und über den Tellerrand zu schauen! In Kürze wird ein Beitrag über Live-Konzerte 2019 folgen und ein paar Bands aus dieser Liste werden wieder auftauchen.