Jahresrückblick II: Musik II (live)

Über besuchte Konzerte 2019.

Es ist eine Sache, Musik in der Bequemlichkeit der eigenen Wohnung zu hören, und eine andere, sich einem Live-Konzert auszusetzen. Im Bestfall wird dort alles intensiver und neue Aspekte des Musikgenusses kommen hinzu. Man hört Bands nach einem Konzert anders als noch zuvor. Diese Erfahrung habe ich häufig gemacht. Auch 2019 habe ich wieder mehrere Konzerte besucht und möchte von einigen berichten. Der Einfachheit halber habe ich meinen Terminkalender zur Hilfe genommen und gehe chronologisch vor.

Wir starten im Februar. Am 17. spielte John Garcia mit seiner Band of Gold im Helios 37 und am 18. waren Amenra im Junkyard. Unterschiedlicher können Konzerte kaum sein. John Garcia macht Party und sieht dabei nicht selten aus, als stünde er kurz vor einem Herzinfarkt. Es wurden einige Songs vom damals neuen Album gespielt, aber hauptsächlich welche von seinem erheblich bekannteren Projekt Kyuss. Ich hatte leider nie die Gelegenheit, Kyuss live zu sehen, aber ab und zu touren die ehemaligen Bandmitglieder mit neuen Bands und spielen die alten Songs. Dann geht es richtig ab. Es wird getanzt und gemosht und mitgesungen. Absolut geil.

Am nächsten Tag stand dann Amenra auf dem Programm. Konzerte von Amenra sind wie Messen. Die Musik trägt einen in andere Sphären, in denen sich die meisten Menschen furchtbar unwohl fühlen würden, die aber interessant sind und schön auf ihre Weise. Solche Konzerte hinterlassen bei mir keine bildlichen Erinnerungen, sondern nur Gefühle und Farben, losgelöst von Dinglichkeit. Man schwankt vor und zurück mit geschlossenen Augen und lässt sich von den Instrumenten aus der Welt prügeln, bevor man zurückkehren und applaudieren darf. Ich hoffe sehr, Amenra bald wieder live sehen zu dürfen.

Drei Tage danach besuchte ich einen interessanten Auftritt von Alexej Gerassimez im Dortmunder Konzerthaus und war Anfang März noch einmal dort für ein Orchesterkonzert. Beides war gut, aber hinterließ keine Eindrücke, die nach 9 Monaten noch intensiv wären.

Aber dann kam Colter Wall in den Bahnhof Ehrenfeld. Das war wirklich witzig. Ich kenne die verschiedenen Trends und Aufzüge und Trachten der Metal-Szene mit ihren Kutten, Army-Shorts und Patches, aber einen Raum unter den Gleisen, der gefüllt ist mit Menschen, die Lederhüte, Jeansjacken und Cowboy-Westen tragen, war ein Erlebnis. Die Band bestand ebenfalls zu 80% aus Jeans (Jacken, Hosen, Hemden), mit Cowboyhüten und -stiefeln. Die eigentlich recht tristen Songs von Colter Wall waren allesamt beschleunigt und aufgebauscht worden, um von einer Westernband gespielt werden zu können. Was sie daraus machten, war glorreich: ein waschechter Honky Tonk mitten in Köln Ehrenfeld. Es war nicht das, was ich erwartet hatte, aber es war etwas und es hat Spaß gemacht.

Der April war wieder düsterer. Am 12. spielten Mantar im Junkyard und am 14. Saint Vitus mit Dopelord als Vorband. Mantar waren cool, aber nicht spektakulär. Dopelord hat mich überrascht und Saint Vitus haben wie immer die Hütte abgerissen. Wenn Menschen ihr ganzes Leben damit verbringen, einfach ihr Ding durchzuziehen, auch wenn es sich nicht finanziell auszahlt, finde ich das großartig. Die Tour 2019 geschah anlässlich des 40. Bandjubiläums. 40 Jahre Underground, herrlich. Mein liebster Saint Vitus-Moment ist schon Jahre her. Dave, der Gitarrist von Saint Vitus, tourte mit seiner Band Debris Inc. Er ließ es sich nicht nehmen, wenigstens zwei Klassiker von Vitus zu spielen und zwar Born Too Late und Dying Inside. Das Gitarrensolo in Born Too Late spielt Dave traditionell mit der Zunge. Also hob er die Gitarre vor sein Gesicht, sodass nur noch seine Augen zu sehen waren und er starrte mich direkt an mit einem mörderischen Blick – kein Blinzeln, keine Pupillenbewegung, nur Starren –, während er ein Solo hinlegte, das klang, als würde er sich die Schneidezähne mit der E-Saite absägen. Später traf ein Kumpel ihn an der Bar und fand heraus, dass er während des Konzerts wohl auf Acid gewesen wäre.

Es wurde Mai und Stoned Jesus kamen in Begleitung von The Great Machine nach Dortmund. Es war ein lustiger Abend. Der Sänger von Stoned Jesus erinnerte mich an Jack Black – ähnliche Optik und Bewegung. Ein gutes Konzert, aber keines, das ich ewig in Erinnerung halten werde.

Üblicherweise gehe ich nicht allein auf Konzerte. Ich habe zwei gute Freunde, die mich häufig begleiten. Aber ausgerechnet für Lamb of God habe ich niemanden gefunden. Draußen waren es um die 35°, weshalb ich extrem froh war, dass die Veranstaltung im Keller der Matrix in Bochum stattfand. Dort war es angenehm kühl. Mein Kreislauf konnte sich vor Start des Auftritts erholen. Doch mit der Vorband Bleeding From Within wurde es bereits wärmer. Ab dem zweiten Song startete der Moshpit und wurde bis zum Ende des Abends nicht mehr aufgelöst. Lamb of God selbst waren mal wieder großartig. Sie haben, wie es so schön heißt, die Hütte abgerissen und ganz nebenbei den Keller in einen Backofen verwandelt. Let’s trash this fucking place war eine Ansage, die befolgt wurde. Es war voll, es war laut, es war anstrengend und brutal. Ich liebe es. Am Ende wankte ich in die lauwarme Abendluft und konnte meinen Kopf kaum noch aufrecht halten. Ein schöner Abend. Etwas besser gefiel es mir allerdings noch, als sie 2018 mit Slayer tourten. Moshpit und Circle Pit waren nur noch Schlachtfelder, Menschen flogen durch die Gegend und am Ende des Abends durchdrang mich ein Frieden, den ich selten habe. Ausgepowert und glücklich.

Bei Corrosion of Conformity im Juli im Turock wiederum wurde mehr mitgesungen und getanzt. 25 Jahre Deliverance wurden gefeiert und beinahe das gesamte Album wurde gespielt. C.o.C. gehören zu den Bands, mit denen für mich die Liebe zu Stoner, Doom und Sludge begannen. Früher besuchte mich häufig ein Freund, der eine einzige gebrannte CD mitbrachte: C.o.C., Black Sabbath, Crowbar, Saint Vitus, Led Zeppelin und andere Bands waren darauf. Leider hat er sich vor einigen Jahren umgebracht und konnte dieses Konzert nicht mehr miterleben. Ich vermisse ihn.

Es wurde August und das Junkyard Open Air stand auf dem Programm. The Picturebooks gingen mir auf die Nerven, obwohl ich gute Erinnerungen an sie hatte als Vorband von Kadavar einige Jahre zuvor. Dafür waren Orange Goblin wieder super. Diese Band versprüht so viel gute Laune und Lust zu spielen, dass das Publikum jedes Mal angesteckt wird. Es gab einen schönen Moshpit im Staub inklusive Wall of Death. Später am Abend wurde die Veranstaltung ins Gebäude verlegt und Dopethrone traten auf. Da hier nicht genug Platz ist, um zu beschreiben, was dabei abging, weise ich auf einen Blogeintrag hin, den ich dazu geschrieben hatte: Eine Erfahrung aus Schmerz und Glück.

Die Tatsache, dass sich Exhorder wieder zusammengeschlossen haben und die alten Songs live noch immer spielen können – wer sie kennt, wird wissen, warum das schwierig ist –, freut mich extrem. Anfang Oktober traten sie im Turock auf und brachten ihr neues Album mit. Ich besuche nur selten Thrash Metal-Konzerte, aber dieses hat sich definitiv gelohnt.

Und dann war auch schon Dezember. Am 3. spielten Clutch in der Turbinenhalle in Oberhausen und brachten Graveyard und Kamchatka mit – ein bluesiger Abend. Kamchatka stelle ich mir besser in einer kleineren Halle vor, aber sie waren dennoch sehr cool. Graveyard wiederum konnte mich live noch nie wirklich überzeugen. Ihre Musik ist super, aber sie schaffen es nicht, einen Draht zum Publikum herzustellen. So jedenfalls kam es mir immer vor und dieses Mal auch wieder. Aber Clutch wissen, wie es geht. Live enttäuschen sie nie. Das könnte der Grund sein, warum ich sie schon fünf- oder sechsmal gesehen habe. Diesmal brachten sie viele alte Songs mit, die ich noch nie live gehört hatte. Besonders über Space Grass habe ich mich sehr gefreut, aber auch Electric Worry war großartig.

Bloß vier Tage später bin ich mit einem guten Freund wieder nach Oberhausen gefahren, diesmal ins Druckluft, einer kleinen, dreckigen, freien Location, genau wie ich es mag. Die Wände waren bemalt, die Security nicht vorhanden und die Getränke billig. Ein guter Start. Als Vorband spielten Årabrot. Zuvor hatte ich nie von ihnen gehört, aber sie überzeugten mich sofort. Am Merch-Stand wunderte sich der Sänger sichtlich, dass wir Shirts von seiner Band kaufen wollten und nicht von Boris. Kurze Anmerkung am Rande: ich besitze bereits mehrere Shirts von Boris.

Als Boris auf die Bühne kam, wurde der Nebel dichter. Dass drei Menschen so viel geilen Lärm machen können, muss zu den größten Vorteilen der technischen Entwicklung zählen. Die Optik allein ist schon einen Besuch wert: hinter einem düster geschminkten Drummer prangt ein riesiger Gong, Nebel steigt auf, die Gitarristin blickt in die Runde, der Sänger hält eine Gitarre mit Doppelsteg, halb E-Gitarre, halb E-Bass. Aber was wirklich beeindruckend ist, ist der Sound. Ich bin davon überzeugt, dass es Tonfrequenzen gibt, die in uns irgendwelche Dinge auslöst, die im Laufe der Evolution übriggeblieben sind. Als der Bass richtig dröhnte, meine Hose und die Jacke vibrierten, der Boden zitterte und das Dröhnen bis in die Wangen stieg, gelangte ich in einen Mischzustand aus Furcht und Euphorie. Die Euphorie siegte. Ein geiler Abend.

2019 war ein gutes Konzertjahr, ein gutes Jahr allgemein. In den nächsten Artikeln wird es ruhiger werden und sich alles um Literatur drehen.

Jahresrückblick I: Musik I

Über mein musikalisches Jahr 2019, entdeckte und wiederentdeckte Bands.

Willkommen zum ersten Teil unserer 4-teiligen Jahresrückblicksreihe 2019. Das ist der Plan:
20.12.: Musik – Neu- und Wiederentdeckungen
21.12.: Musik – Konzerte
22.12.: Literatur I – Gelesene Bücher
23.12.: Literatur II – Mein literarisches Jahr

Musik spielt eine wichtige Rolle in meinem Leben und zwar ununterbrochen, seit ich als Kind im Zimmer Lego gespielt und LPs von den Beatles, Elvis und anderen auf dem Plattenspieler meiner Mutter gehört habe. Das hier soll eine Art persönlicher musikalischer Jahresrückblick werden, weshalb ich mich auf Neuentdeckungen, Wiederentdeckungen und einige Lieblingssongs beschränken werde. In einem zweiten Artikel wird es dann um Live-Konzerte gehen. Einige Songs und Künstler, die zu meinem Standardrepertoire gehören, werden also gar nicht auftauchen.

Vor vielen Jahren hat mich ein Freund einmal als „toleranten Hörer“ bezeichnet, weil ich jeder Musik eine Chance gebe und nicht selten mehrere. Man wird erkennen können, wo mein Fokus liegt, aber auch, dass ich kein Problem habe, davon abzuweichen. Ich werde alphabetisch vorgehen.

Eine Band, die ich dieses Jahr zu schätzen gelernt habe, ist Amenra. Vom Namen her kannte ich sie schon länger, aber hatte mich nie dazu bequemt, reinzuhören. Dann traten sie in der Nähe auf und haben mich überzeugt. Amenra machen düstere, atmosphärische Musik, die irgendwo im Bereich Post Hardcore oder Post Metal angesiedelt ist. Der Song A Solitary Reign ist mein absoluter Favorit und zählt zu meinen Lieblingsliedern 2019. Für mich klingt die Musik von Amenra nach tiefer Verzweiflung und das finde ich gut. Wenn Musik die Repräsentation von Gefühlen ist, um diese zu unterstützen oder abzubauen, hat jedes Gefühl eine Rechtfertigung, musikalisch umgesetzt zu werden.

Erst kürzlich habe ich Årabrot für mich entdeckt. Sie spielen Noise Rock, wenn ich mich mit der Definition nicht irre, aber sie schöpfen auch aus anderen Bereichen wie Sludge oder Gothic. Ich weiß nicht recht zu sagen, was mir an der Musik gefällt, aber sie ist anders, besonders und unterhält mich. Årabrot fühlt sich an wie Kunst, finde ich.

Battle of Mice gehörte auch dieses Jahr wieder zu den viel gehörten Bands auf meiner Playlist. In einer Facebook-Gruppe fragte jemand nach Songs mit verstörenden und psychotischen Lyrics. Jemand schlug Battle of Mice vor, ich hörte sie mir an und war begeistert. Die Intensität der Schreie von Julie Christmas und das heftige Gitarrenspiel machten mir Gänsehaut. Ein Freund (Metalhead seit Jahrzehnten) sagte, das sei „wirklich harte Musik“ und meinte damit hauptsächlich den Effekt, den die Songs auf die Psyche haben. Bones In The Water wäre mein Favorit, aber unter den wenigen Songs, die es von der Band gibt, kenne ich keinen schlechten.

Okay, gehen wir einige Jahrzehnte zurück und stimmen die Instrumente heller: The Beatles. 2019 stieß ich wieder auf sie. Manchmal beruhigen mich die Songs, manchmal machen sie mir gute Laune und manchmal unterhalten sie mich einfach. Und es sind gute Songs. Ich mochte immer die abgedrehteren Sachen lieber, also Lieder wie Lucy In The Sky With Diamonds. Wenn es irgendeine Band gibt, die in jeder Lebensphase bei mir präsent war, dann die Beatles, wenn auch meist in einer Nebenrolle. Also weiter geht’s.

Boris. Ich liebe Boris. Die Vielseitigkeit, die Gewalt, die Zartheit, die Kreativität und die Produktivität dieser japanischen Band sind großartig. Man vergleiche Hana, Taiyou, Ame mit D.E.A.R. und 1970. Ich könnte problemlos einen Beitrag nur über Boris schreiben, aber in drei Sätzen lassen sich schlecht Jahrzehnte produktiver Musikarbeit zusammenfassen, deshalb belasse ich bei den wenigen Worten.

Colter Wall, ein sympathischer kanadischer Cowboy mit einer wunderbaren Stimme. Er zieht sich nicht einfach als Cowboy an, sondern treibt tatsächlich manchmal Rinderherden. Aber hier soll es um Musik gehen. Die meisten Songs sind langsam und sehr sehr traurig. Country/Western, wie man sich vielleicht denken konnte. Ich liebe die Kombination aus seiner Stimme und den teils großartigen Lyrics. Codeine Dream gehört zu meinen Lieblingsliedern. Every day it seems | My whole damn life’s just a codeine dream | I don’t dream of you | Anymore. Wie sehr er mich mit einigen Songs berührt, ist beängstigend. Es geht um Freiheit, Alkohol, Drogen, Einsamkeit und ein paar Cowboy-Sachen, die man aber ignorieren kann, denke ich.

Ganz anders klingen da Crystal Castles. Elektronisch, manchmal abgehackt, aber auch traurig. Dieses Jahr hatte ich zwei eindeutige Favoriten unter ihren Songs, die ich wieder und wieder gehört habe: Sad Eyes und Not In Love. Zweiterer hat mich zu einer Geschichte inspiriert. An dieser Stelle merkt man vielleicht, wieso ich ein „toleranter Musikhörer“ sein soll. Ich musste mich intensiv in die Songs der Band hineinarbeiten und habe sie wiederholt gehört, bevor ich einen Zugang gefunden habe. Irgendetwas sprach mich an und eine gute Freundin zählt zu ihren Fans, also musste es mehr geben, und irgendwann fand ich es.

Eels habe ich 2019 wiederentdeckt. Ebenfalls meist elektronisch und ebenfalls meist traurig, aber bei weitem nicht nur. Es gibt sogar witzige Songs von Eels, aber davon lassen wir uns nicht aufhalten, oder? Aber da wir zu einem Ende kommen wollen, halte ich mich kurz.

Igorrr machen wirre Sachen. Stellt euch vor, jemand mixt jede existierende Musikrichtung in funktionierende Songs: Polka, Klassik, Oper, Black Metal, Techno … So macht man neue, nie zuvor dagewesene Musik. Als Hörer braucht man allerdings wieder Toleranz oder einen Hang zum Extremen. Ich habe beides. Zum Glück.

Jesu, Joy Division, Lamb of God, Myrkur, Oceans of Slumber, Woods of Ypres und Young Fathers spielten auch noch ihre Rollen als (Wieder)Entdeckungen. Hört rein, wenn ihr sie nicht kennt!

Und dann waren da die kurzen Happy Hardcore-Phasen. Wie zur Hölle kam es dazu? Charly Lownoise & Mental Theo, Dune und sogar Das Modul. Es muss an der Nostalgie gelegen haben, die mich 2019 häufig bedrängte. Wer weiß, wo sie mich noch hinführen wird.

Musikalisch war 2019 für mich wieder interessant. Mir gefällt der Gedanke, dass sich durch diesen Artikel ein paar neue Hörer*innen für die weniger bekannten Bands in meiner Liste finden lassen. Das hätten sie verdient. Habt keine Angst, Neues zu testen und über den Tellerrand zu schauen! In Kürze wird ein Beitrag über Live-Konzerte 2019 folgen und ein paar Bands aus dieser Liste werden wieder auftauchen.