Erschütterungen. Dann Stille.: Quarantäne

Über die Kurzgeschichte “Quarantäne” im Erzählband “Erschütterungen. Dann Stille.” von Autor Matthias Thurau.

Content Notes: Krankheit, Psychose, Angst

Die Welt ist eine Peststadt. Okay, das ist etwas hart. Während ich das hier schreibe und vermutlich noch lange Zeit, nachdem es veröffentlicht sein wird, existiert das Covid19-Virus. Daher wird jede*r davon ausgehen, dass die Geschichte Quarantäne in Erschütterungen. Dann Stille. etwas mit Corona zu tun hat, allein weil der Text 2020 veröffentlicht worden ist. Dem ist aber nicht so. Im Folgenden werde ich auf die Entstehung eingehen. Ohne Spoiler wird das nicht möglich sein. Ihr wurdet gewarnt.

Entstehungszeit

Für die Interpretation mancher Texte sollte man wissen, wann sie veröffentlicht und wann sie verfasst worden sind. Stichwort: Historischer Kontext. Beispielsweise würde man die Wortwahl einiger älterer Werke heutzutage mindestens diskutieren, wenn man sie nicht strikt ablehnen würde. Eine literarische Verherrlichung des Krieges oder der Nation wäre nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland unangebracht gewesen. Günter Grass und andere stellten sogar die viel diskutierte Frage, ob man nach Auschwitz überhaupt noch (Gedichte) schreiben dürfe.

Es gibt historische Einschnitte, die im Nachhinein den Blick auf Ideen verändern. Schaut man sich nach 9/11 den Film Rambo III an, so wird man stutzen, sollte man ihn noch nicht gekannt haben. Rambo, der amerikanische Soldatenheld (und leider ohne den kritischen Blick des 1. Teils), kämpft gemeinsam mit den Mudschahedin gegen die Sowjets. Wenn der Feind auch langsam wieder in Mode kommen mag, wirken die Verbündeten, die ebenfalls als Helden porträtiert werden und aus deren Reihen al-Qaida erwachsen ist, doch reichlich seltsam.

Große Ereignisse mit globaler Implikation verändern unseren Blick auf die Welt, auch nachträglich. Die Corona-Pandemie ist eindeutig ein solches Ereignis. Dass meine Geschichte mit der Pandemie im Hinterkopf gelesen werden wird, ist mir bewusst.

Bessere Zeiten

Die Erzählung Quarantäne ist vor der Pandemie entstanden, genauer am 28. Dezember 2019. Am 31. Dezember 2019 wurde der erste Fall (noch ohne den heute gängigen Namen) offiziell bestätigt. Ihr erinnert euch? Das war die Zeit, in der das Virus noch weit weg war. Danach folgte die Zeit, in der es sich ausbreitete (Frankreich, Italien usw.). Auch danach hieß es noch überall, dass es wie eine Grippe sei. Heute wissen wir es besser, und wer es nicht besser weiß, will es nur nicht besser wissen.

Hätte ich geahnt, was nur wenige Monate später passieren würde, hätte ich die Idee des Verrückten, der sich vor einer eingebildeten Seuche versteckt, wieder verworfen. Aber ich bin schlecht im Wegwerfen und gehe davon aus, dass man der Geschichte anmerkt, dass sie nicht als Kommentar zu Corona verstanden werden will.

Einbildung

Der Ich-Erzähler in Quarantäne ist geisteskrank. Das ist unschwer zu erkennen an den Stimmen, die er hört, und den vermeintlichen Zeichen, die er sieht. Als Laie würde ich eine paranoide Schizophrenie diagnostizieren. Aber (und das will ich betonen): Ich habe wenig Ahnung davon. Mir geht es um andere Dinge.

Wo die einen „Wacht auf!“ rufen, während sie im indoktrinierten Verschwörungsschlummer dösen, und die anderen kopfschüttelnd auf die Ignoranten blicken, fallen Wahn-Diagnosen gerne mal als Vorwurf oder Beleidigung. Das ist einfach falsch. Auch werfen sich alle Seiten gegenseitig Indoktrination vor, wo es doch wenigstens auf einer Seite schlichte Sozialisation ist. Das kratzt schon mehr an meinem Thema. Was die einen Fakt nennen, ist für andere Unfug, und – und das macht wohl so wütend – auch umgekehrt. Es geht hier um …

Perspektiven.

Wie sehen andere die Welt? Das frage ich mich manchmal. Wie kann man sich in der eigenen Freiheit eingeschränkt fühlen, nur weil man ein Stück Stoff tragen soll, das das eigene Leben und das anderer schützen soll? Solche Dinge frage ich mich.

Quarantäne sollte als Geschichte eine besondere Perspektive auf die Welt zeigen, die die meisten von uns niemals einnehmen werden. Dachte ich. Seit Entstehung der Erzählung haben viele eine noch aggressivere und fremdgefährdendere Sicht auf die Welt angenommen als der Protagonist. Ich wünschte, ich könnte so viel Ignoranz irgendwie verständlicher machen. Aber das übersteigt meine Fähigkeiten.

Der Ich-Erzähler glaubt nicht mehr an Fakten, sondern an Verschwörungen, nicht mehr Ärzt*innen, sondern ominösen Zeichen. Als Konsequenz zieht er sich zurück. Wie angenehm für alle anderen, oder? Das muss doch die Reaktion heutzutage sein. Er rennt nicht zu einer Grundschule, um unter den Masken von Schulkindern CO2-Werte zu messen. Er isoliert sich und tut sich damit etwas an, obwohl er nicht müsste. Das ist die Macht von Ideen, ob sie nun in einem kranken Gehirn entstehen oder in das von Indoktrinierten gesetzt werden. (Kurzer Zwischengedanke: Sind Gruppenillusionen grundsätzlich aggressiverer Natur als Einzelillusionen?)

Angst

Angst ist der treibende Faktor der Geschichte. Der Ich-Erzähler mag Stimmen hören und Zeichen sehen, aber was dahintersteckt, ist immer Angst. Er fürchtet sich vor Ansteckungen. Und selbst das mag nur eine vorgeschobene Angst sein, hinter der sich noch mehr versteckt. Denn hinter den meisten Ängsten steckt noch etwas anderes. Während der Pandemie fürchtet man sich absolut zu recht vor Ansteckung, aber der Protagonist meiner Geschichte fürchtet sich vielleicht mehr vor Menschen als vor Keimen, mehr vor Intimität und Berührung als vor Krankheit, mehr vor eigener Schwäche als vor fremden Viren. Vielleicht hält er sich selbst und sein Leben unter Kontrolle durch die Angst, um sich nicht den eigenen Dämonen stellen zu müssen.

Dass man sich nach der Lektüre von Quarantäne nicht nur über Perspektiven Gedanken macht, die man nicht kennt oder nicht versteht, aber die dennoch respektiert werden sollten, sondern auch darüber, wie Angst die eigene Perspektive auf die Welt verändern, verzerren kann. Daraus könnte vielleicht die Erkenntnis entwickelt werden, dass wir vorsichtiger sein sollten mit dem Verteilen von Urteilen und der Erschaffung von Ängsten. Ist der folgende Sprung zu weit? Drohungen und Angst mögen die Erziehung kurzfristig einfacher machen, aber sind niemals ein guter Start ins Leben.

Der Diskussion wegen

Warum zum faulen Apfel veröffentliche ich eine Geschichte, die man wahrscheinlich anders liest als sie ursprünglich gemeint war? Das schreit ja geradezu nach Missverständnissen. Eben deswegen. Denkansätze, Denkanregungen, Assoziationen. Das ist mein Ding. Quarantäne ist als Denkansatz konzipiert und als Perspektivwechsel. Tut mir einen Gefallen und nutzt beides! Denken und Perspektivwechsel helfen gegen Ignoranz.

Die Grenzen der Rezension

Was können Rezensionen auf Buchblogs leisten und wo liegen die Grenzen? Bieten sie eine Alternative zur klassischen Literaturkritik?

Wo liegen die Grenzen einer Rezension?

Immer mal wieder wird über die Zukunft (oder fehlende Zukunft) der deutschen Literaturkritik diskutiert. In diesem Rahmen taucht auch stets ein Seitenhieb gegen Buchblogs und Rezensionsportale auf. Das Argument dabei: Rezensionen sind nicht mit dem Feuilleton gleichzusetzen, weil sie subjektiv-unprofessionell statt objektiv-professionell sind. Stimmt das? Zerstören Buchblogs den Feuilleton, ohne eine bessere Alternative zu bieten/sein? Was können, was wollen Rezensionen online leisten und wo liegen ihre Grenzen?

Veraltetes Denken

Die Verlagerung irgendwelcher Themengebiete aus gedruckten Zeitungen ins Internet heutzutage noch anzuprangern oder das gesamte online verfügbare Material sowie die online geführten Diskussionen als minderwertig zu betrachten, ist im höchsten Grade unzeitgemäß. Schließt man das Internet kategorisch aus der Literaturlandschaft aus, steht sie tatsächlich kurz vor dem Ende.

Das Internet bietet unzählige Wege, um Meinungen und Gedanken ungefiltert zu verbreiten. Je mehr Menschen (auch Leser*innen) dies nutzen, desto mehr Müll wird verbreitet. Das ist logisch. Gleichzeitig wird mit steigender Nutzung allerdings auch mehr Qualität geliefert. Wir sind inzwischen an einem Punkt, an dem wenigstens hierzulande praktisch jede*r das Internet nutzt und ein Großteil aller Diskussionen rund um Themen wie Literatur online stattfinden. Welche Qualität das erreichen kann, sieht man beispielsweise an Blogs wie 54books.de. Abtun kann man diese Entwicklung nicht mehr.

Was leisten Rezensionen?

1. Meinungsfindung

Person A liest ein Buch und schreibt ihre Meinung auf. Person B liest die Meinung und entscheidet, ob sie das Buch ebenfalls lesen möchte. So simpel ist das. Rezensionen dienen also der Entscheidungsfindung potenzieller Leser*innen. Das ist besonders nützlich, wenn man an die fast unendliche Auswahl auf Suche nach einem neuen Buch denkt. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels verzeichnete für 2018 insgesamt 71548 Erstauflagen, 70395 für 2019. Dabei sind die meisten der vielen Selfpublishing-Werke nicht mitgerechnet. Außerdem kamen in beiden Jahren noch ziemlich genau 9800 Übersetzungen ins Deutsche dazu. Zusätzlich darf man nicht vergessen, dass auch in anderen Sprachen gelesen wird und dass die Titelproduktion seit Jahrhunderten läuft.

Findet man einen Buchblog, dessen Rezensent*innen einen ähnlichen Geschmack wie den eigenen bewiesen haben, hilft dies ungemein, denn jede Entscheidung im Leben kostet Zeit und Kraft.

2. Meinungsabgleich

Ab und an liest man ein Buch und möchte eine zweite Meinung hören oder eben lesen. Nicht immer finden sich Freund*innen, mit denen man sich darüber unterhalten kann. Eine Tour durch einige Buchblogs kann da helfen. Manchmal wird die eigene Meinung bestätigt (was immer gut tut), manchmal wird sie verändert (weil andere Aspekte, die man nicht bedacht hatte, erwähnt werden) und manchmal wird der eigenen Meinung vollständig widersprochen. Das kann interessant oder frustrierend sein. Wenn wir mal davon ausgehen, dass man nicht mit beleidigenden Kommentaren reagiert, könnte alles, was sich nicht komplett mit der eigenen Meinung deckt, zu Punkt 3 führen:

3. Diskussion

Dank Kommentar-Funktion, Social-Media-Verknüpfungen und anderen Kontaktmöglichkeiten können Leser*innen direkt und schnell mit Rezensent*innen ins Gespräch kommen. Das ist (meistens) eine gute Sache. Es kommt zum Austausch, Perspektiven werden erweitert. Dieser Part war immer ein grundlegender Teil des Kulturbetriebs.

3.a Keine Diskussion

Da leider viel zu viele Menschen die scheinbare Anonymität des Internets nutzen, um beleidigend und verbal-aggressiv die eigene Meinung zu verfechten, anstatt argumentativ zu diskutieren, kommt es zu einem traurigen Phänomen. Es gibt wenige negative Rezensionen, um 1. den Autor*innen nichts vermeintlich Böses zu tun und 2. keinen Streit mit Fans dieser Autor*innen zu provozieren. Obwohl das sehr gut nachvollziehbar ist, hat das unschöne Konsequenzen: Diejenigen, die laut und beleidigend sind, gewinnen, und die positiven Bewertungen verlieren an Wert, weil es keine negativen mehr gibt. Wenn alles gut ist, ist nichts besonders.

Aber wer will von Menschen, die aus Leidenschaft und unbezahlt arbeiten, verlangen, dass sie sich ständig Streitereien aussetzen? Damit kommen wir zum nächsten Punkt.

Was können Rezensionen nicht leisten?

Buchblogs werden, wie gesagt, in den allermeisten Fällen betrieben von Privatpersonen, Leser*innen, Fans. Das bedeutet, dass sie nicht nur nicht davon leben können, sondern häufig sogar nichts verdienen und noch draufzahlen. Sie lesen gerne und teilen ihre Meinung. Mehr wollen sie nicht und mehr sollte man auch nicht verlangen. Da Buchblogs allerdings (angeblich?) den Feuilleton verdrängen und ihr Einfluss in der Literaturszene wächst, sollte man sich bewusst machen, was sie nicht können.

1. Objektive Kritik üben

Man könnte jetzt fragen, ob man Literatur überhaupt objektiv bewerten kann. Ich sage: zum Teil ja. Es gehört Handwerk zum Schreiben. Außerdem gibt es eine lange Literaturgeschichte. Wer die Feinheiten des Handwerks erkennen und bewerten möchte, braucht eine entsprechende Ausbildung sowie Zeit und Muße, um sich weiterzubilden. Ohne Bezahlung ist das kaum möglich. Wer erkennen möchte, ob Stilmittel, Story, Aufbau und andere Elemente eines Buchs neu oder selten sind, braucht die gleichen Voraussetzungen, welche Buchbloggern üblicherweise fehlen.

2. Feindseligem Ansturm standhalten

Mit Sicherheit gibt es Buchblogger, die ihre Meinung deutlich formulieren, nichts schönen und jeder Attacke standhalten können. Aber diesen Stress, gerade in der Öffentlichkeit des Internets, wollen sich viele nicht antun. Warum auch? Es handelt sich um ein Spaßprojekt. Bezahlte Kritiker*innen allerdings können, sollen, müssen dies leisten. Sie stellen sich hin und kritisieren. Aus meiner Sicht werden sie zum Teil für ihre Zeit und Arbeit, zum Teil für die Angriffe von außen, die Diskussionen und die Wut von Autor*innen bezahlt.

Wollen Rezensionen das leisten?

Nein, jedenfalls meistens nicht. Mit dem Wissen, das ich mir angeeignet habe, versuche ich, den Rezensionen beim Buchensemble einen hohen Standard zu geben und mehr zu verbreiten als bloß meine Meinung. Diskussionen sind mir willkommen, Streit brauche ich nicht. So wird es vielen Buchbloggern gehen.

Abschlussworte

Der Feuilleton hat seine Berechtigung. Geistige Arbeit sollte gewürdigt und bezahlt werden! Nur weil etwas online abläuft, sollte es nicht kostenlos sein. Entsprechend sollte auch der Online-Feuilleton besser vergütet werden. Buchblogs bedienen, denke ich, in den allermeisten Fällen ein anderes Publikum, lesen andere Titel und sind daher kein Ersatz. Sie können und wollen keine Alternative sein, sondern ein gänzlich anderes Medium. Vielleicht sollte die kränkelnde Literaturkritik die Schuld an ihrer Misere nicht bei anderen Elementen der Literaturszene suchen, sondern beim schwindenden Interesse der Leserschaft sowie jenen, die die Praxis unbezahlter und schlecht bezahlter geistiger Arbeit aufrecht erhalten.

1. Buchensemble-Artikel

Hinweis auf meinen 1. Artikel beim Buchensemble, eine Diskussion mit Magret Kindermann über den Roman Pixeltänzer von Berit Glanz.

Ab heute ist es offiziell: Ich bin aktives Mitglied des Buchensembles. Mit einem gemeinsamen Artikel von Magret Kindermann über den Roman Pixeltänzer von Berit Glanz geht es los:

Wie wichtig ist Figurentiefe? – Pixeltänzer

Auslöser für diesen Artikel war eine Diskussion, die Magret und ich über das Buch geführt haben. Sie wusste aus dem Blogeintrag Berit Glanz: Pixeltänzer, dass mir der Roman sehr gefallen hatte. Magret hat Pixeltänzer dann ebenfalls gelesen und war anderer Meinung. Welche Gründe aus ihrer Sicht gegen den Roman sprechen und was ich darauf erwidere, könnt ihr im Artikel fürs Buchensemble lesen.