Erschütterungen. Dann Stille.: Caspars Schiffe

Über die Erzählung “Caspars Schiffe” aus “Erschütterungen. Dann Stille.”

Ursprünglich ist Caspars Schiffe (genau wie Der Mitatmer) für die neue Anthologie von Nikas Erben entstanden. Es wurden allerdings zwei andere Geschichten ausgewählt für das Projekt, die etwas besser zum Thema passten. Hier soll es also um die Stierkatzen-Geschichte aus Erschütterungen. Dann Stille. gehen. Wie immer vorweg die Warnung an alle, die die Erzählung noch nicht gelesen haben: Es wird Spoiler geben!

Ein neuer Ansatz

Caspars Schiffe ist die erste Geschichte, die ich mit diesem speziellen Ansatz geschrieben habe, anfangs lediglich Oberflächenstrukturen und Farben auszuwählen. (Darauf bezog sich ein kurzes und etwas kryptisches Zitat im Zeitungsartikel über Erschütterungen. Dann Stille.) Zwar ist im Laufe mehrerer Überarbeitungsrunden noch einiges an Tiefe und Bedeutung hineingearbeitet worden, aber der Anfang war genau dieser: Auswahl von Oberflächenstrukturen und Farben.

Welche waren das? Ich dachte zuerst an schwarz-weiße Fliesen, glatt. Dieses unruhige Küchenaccessoire, das jede*n verrückt macht, der/die nur auf einfarbige Fliesen treten möchte/kann oder nur auf die Fugen dazwischen, weil die Fliesen zu klein sind dafür. Unruhiges Geflimmer unter den Füßen. Offensichtlich gilt das nicht für Katzen. Rauer Putz, Staub, glitschige Oberflächen, dicke Farbe auf grobem, splitterndem Holz. Dann Grüntöne, Grautöne. Ich hatte meine Augen geschlossen und in Gedanken Flächen berührt, die Caspar berühren sollte, und Farben gesehen, die Caspar sehen sollte. Das war der Ausgangspunkt.

Das Gemälde / Das Meer

Caspar hat seinen Namen vom Maler Caspar David Friedrich. Es wird erwähnt, dass er einem Bild entsprungen sei. Manche Farben, die ich beim Schreiben im Kopf hatte, passten zu Friedrichs Gemälden. Noch mehr aber passten die Einsamkeit, die Sehnsucht und die Freiheit des Katers dazu. Doch diese ganze Ebene, die sich schließlich auf die gesamte Geschichte ausgedehnt hat, war ursprünglich sekundär. Ein weiterer Farbauftrag. Die Erzählinstanz verwendet Anleihen an die Bilder von Caspar David Friedrich, um sowohl Caspars (der Katze) Vergangenheit bildhaft zu beschreiben als auch seine Gegenwart. Was die Stierkatze am Ende der Kanalisation in der Ferne sieht, wenn sie über ihre Herkunft sinniert, könnte direkt aus einem von Friedrichs Bildern stammen. Die Schiffe, deren Segel, der Nebel, die Wälder und die vereinzelten Figuren. Caspar David Friedrich spielte mit melancholischen Darstellungen und der Sehnsucht nach mehr, während die Stierkatze Caspar eben doch eine Katze ist und damit selbstzufrieden.

Die Katze und der Stier

Caspars Charakter und sein Verhalten sind angelehnt an Stiere und Katzen. So weit, so logisch. Er streicht entspannt umher, er rammt mit dem Kopf gegen die Wand wie ein Stier. Doch das ist zweitrangig. Die Stierkatze Caspar ist ganz besonders eines: unabhängig. Katzen kommen alleine zurecht, die meisten jedenfalls. Und auch jene, die es nicht tun, tun so als ob.

Dieser Charakterzug der Unabhängigkeit und auch der Selbstzufriedenheit bedingen das Verständnis der Freiheit dieser Figur. Anders als in Bad Luck II ist der Protagonist hier kein Mensch und muss sich nicht so verhalten. Er braucht niemanden und beinahe würde ich sagen wollen, dass er auch niemandem wehtut; das ist allerdings nur insofern wahr, als dass ihm die Mäuse entwischen und die Gefühle der Menschen, die ihn aufnehmen und die er wieder verlässt, nicht erwähnt werden.

Caspars Freiheit

Caspar ist frei, weil er ohne andere sein kann, aber sich dennoch entscheidet, mit ihnen zusammen zu sein. Er ist ein Einzelgänger, aber er schließt sich anderen an. Natürlich, er ist egoistisch und nimmt sich, was er braucht. Gleichzeitig gibt er aber auch. Der kleine Junge am Ende der Geschichte freut sich und ihm ist es egal, ob Caspar in einer der folgenden Nächte vielleicht die Wand in der Küche kaputt macht. Caspar ist sympathischer als Trip (in Bad Luck II), weil er eben wie eine Katze ist: unabhängig, untreu und doch zärtlich. Aber das ist nur unsere Perspektive.

Schmusetiger für die einen, Monster für die anderen

Harmlos ist Caspar nicht. Die Jagdlust, die Begierde nach Blut und Tod, die er spürt, kann man als Symbole der Freiheit lesen. Ein Mann allein im Wald mit einem Speer. Man möchte grunzen vor Euphorie. Aber für jeden stolzen Mörder gibt es eine Apokalypse am anderen Ende der Gleichung.

Wie oben gesagt, ist Caspar kein Mensch. Daher erlaubt man ihm mehr. Er ist aber dadurch auch näher an den Tieren, die er zu erlegen versucht.

Das hatte ich, ganz ehrlich gesagt, beim Schreiben nicht bedacht. Aus Sicht der Mäuse ist Caspar ein Monstrum. Er ist riesengroß und hat Spaß daran, sie zu töten und zu fressen. Zum Glück entkommen sie ihm. Ist seine Freiheit damit doch nicht besser als jene von Trip oder betrachten wir die Mäuse als Spielerei – vielleicht wie die unzähligen nebensächlichen „Lieb“schaften (d.h. Gelegenheitsficks) in der Männerliteratur? Treiben wir es nicht zu weit. Ich gerate schon ins Schwitzen dank meiner eigenen Kritik.

Die gefaltete Zeitung

Während Caspar durch die Kanalisation strotzt, fährt ein Schiffchen an ihm vorbei. Es ist aus Zeitungspapier gefaltet und zeigt einen Mann mit einem Buch in der Hand. Dann haut Caspar es um und es versinkt im Kot-Fluss. Es ist wohl naheliegend, an welches Bild ich gedacht habe, oder? An dieses hier: Zeitungsartikel

Leider war ich nicht ausgebufft genug, um das Foto des Zeitungsartikels zu Erschütterungen. Dann Stille. zu meinen und es entsprechend zu gestalten – obwohl es auch halbwegs passt. Auf dem vollständigen Bild stehe ich mit Buch in der Hand.

Jaja, die alte Autorenarroganz. Es reicht nicht, dass ich die Geschichte schreibe, ich muss mich auch noch selbst hineinschreiben. Wartet ab, bis ihr Der Spinner gelesen habt! Wenigstens ist es eine ironische Selbstdarstellung. Es passt außerdem hübsch zum Titel. Irgendjemand hat sich die Mühe gemacht und aus einem Zeitungsartikel über mich ein Schiffchen gebastelt und es dann – gab es da nicht so eine Szene in ES? – in den Gully segeln lassen. Immerhin eine Beschäftigung mit mir.