Frau Major Alexa Enesseiova, eine Nebenfigur im Roman Sorck ist die Hauptfigur dieses Beitrags.
Steigen wir direkt ein: Warum Frau Major und nicht Frau Majorin? Tatsächlich habe ich darüber lange nachgedacht und mit Freund*innen diskutiert, was korrekt, was angemessen, was in Ordnung und was passend sei. Die Figur ist weiblich und Offizieren, also wäre Majorin passend, sollte man meinen. Bei meiner Recherche fand ich jedoch Majorin jedoch nur als Rang bei der Heilsarmee, und Enesseiova ist weit entfernt davon, eine Heilsarmee-Offizieren zu sein. Sie ist streng und hartherzig. Der Klang der Kombination Frau Major passt absolut. Daher bin ich bei dieser Form geblieben und hoffe, dass man den Grund für diese Entscheidung im Buch ebenfalls erkennen kann.
Gehen wir von ihrem Rang zu ihrem Namen: Alexa Enesseiova. Dafür muss ich etwas weiter ausholen, obwohl es eigentlich sehr simpel ist. Sorck ist dystopisch angehaucht, das Grundthema ist Kontrolle, und eine Form von Kontrolle ist Information. Beim ersten Kontakt mit dem Schiffspersonal wird Martin Sorck unmissverständlich klargemacht, dass man zu ihm ein Profil angelegt hat, das beispielsweise die von ihm besuchten Websites umfasst. Die Reisegesellschaft sowie ihre Partner haben Zugriff zu diesen Informationen. Später erfährt man, dass ebendiese Reisegesellschaft mit Russland zusammenarbeitet. Im Grundkonstrukt der Geschichte ist Russland der Höhepunkt der Fremdkontrolle beziehungsweise die Station des größten Kontrollverlusts für den Protagonisten. Daher wird auch die dystopische Informationsproblematik bei der Einreise nach Sankt Petersburg besonders deutlich. Auftritt Major Enesseiova. Alexa, dieser Vorname sollte inzwischen allen Menschen bekannt sein, weil er auch eine der verbreitetsten Abhörmaschinen und Datensammelanlagen der Welt bezeichnet. Kund*innen kaufen Geräte mit diesem System selbst und machen sich für ein bisschen Bequemlichkeit wiederum zur Ware, sie verschenken Privatsphäre. Ob man das tut, muss jede*r für sich selbst wissen, aber häufig hat man gar keine Wahl mehr. Smartphones haben und brauchen die meisten und wenn es nicht Alexa ist, ist es ein anderes Abhörprogramm, das man damit herumträgt. Hat man kein Smartphone, sind diese Programme im Betriebssystem integriert oder mit den Websites verbunden, die man besucht. Hat man auch kein Internet, wird man indirekt über die Geräte der anderen überwacht. Es klingt fast nach Verschwörungstheorie und ist doch einfach Fakt.
Nicht nur Firmen nutzen die gesammelten Informationen, sondern auch Nachrichtendienste, deren Job nunmal Informationsbeschaffung ist. Durch etliche Skandale am bekanntesten ist wohl die NSA. Enessei ist die ungefähre lautmalerische Variante von NSA – man muss natürlich die Buchstaben e und i einzeln aussprechen. Das Suffix -owa (oder -ova, was ich optisch schöner finde) deutet im Russischen schlicht auf einen Frauennamen hin.
Dass Bereiche des BDSM in mehreren Bildern im Roman auftaucht, besonders im Kontext der Kontrolle beziehungsweise der freiwilligen Aufgabe dieser, habe ich mehrfach erwähnt. Nachzulesen beispielsweise hier: Freiheit, Geborgenheit, BDSM. Die Figur der Frau Major passt ebenfalls in diesen Kontext. Inwiefern eine Figur, die Alexa heißt und ein Fetisch-Outfit trägt, das die meisten direkt mit BDSM assoziieren, einen Bezug zur freiwilligen Abgabe der Kontrolle (in Form von Informationen und Überwachung allgemein) hat, ist vermutlich offensichtlich, wenn man die Verbindung einmal hergestellt hat. Im BDSM-Zirkeln ist eine eigene Ästhetik vorherrschend, die einen klaren Zweck erfüllt: Die Rolle innerhalb der Machtspiels zu verdeutlichen. Es gibt selbstverständlich Überschneidungen mit dem Fetisch-Bereich, in dem bestimmte Materialien oder Outfits einem eigenen Zweck dienen, und man sollte sich der Trennungen bewusst sein. Die Assoziation, die die allermeisten Menschen jedoch mit dem Auftreten der Figur der Frau Major haben werden, ist die einer Domina: schwarzes Latex, Reitergerte, streng aus dem Gesicht gestrichene Haare. In Anbetracht der Verwendung von BDSM-Optik oder -Vergleichen im Roman ergab es Sinn, dass eine derart strenge und mächtige Figur wie diese ebenfalls in der passenden Optik auftreten würde und dass diese Optik auf gleiche Weise genutzt würde wie in BDSM-Zirkeln auch. Es dreht sich alles um Macht, um Kontrolle, um die Verstärkung der dazugehörigen Gefühle und Rollenbilder, um die perfekte Ausgestaltung des Spiels.
Ein winziges Detail, das in der Szene mit Enesseiova auftaucht, verdient auch noch eine Erwähnung. Bei ihrem Auftritt verhaftet sie einen der Kreuzfahrt-Passagiere namens Hermann. Dieser Hermann trägt nicht ganz zufällig die äußeren Eigenschaften Hermann Burgers, der in seinem Roman Die künstliche Mutter ebenfalls einige überdimensionale Frauenfiguren hatte, die durch ihre Macht und ihr Auftreten allerdings eher eine Aussage über Mutterkomplexe sein sollten. Die Vermischung verschiedenster, scheinbar nicht zusammengehöriger Elemente und eine Sprache, die man wohl als ungewöhnlich bezeichnen kann, hat Burger stets verwendet und mich damit inspiriert. Eine kleine Hommage schien mir also angebracht zu sein.
Grund für die Verhaftung Hermanns ist natürlich, dass die Reisegesellschaft Daten gesammelt und geteilt hatte, die der fiktiven russischen Regierung nicht gefallen.
Frau Major Alexa Enesseiova könnte also als die Personifizierung von Unterdrückung und Macht gelesen werden. Im Spiel der BDSM-Bilder und im Kontext freiwillig aufgegebener Freiheiten und freiwillig abgegebener Daten muss sie aber auch anziehend sein. „Heimlich gafften die Umstehenden sie an und erkannten ihre eigenen Wünsche nicht mehr. Sie war L‘appel du vide als Person“, heißt es im Roman. Es ist fraglos angenehm, Geräte und Programme zu haben, die jeden Lebensschritt bequemer gestalten, aber solche Dinge müssen wir bezahlen. Eine wunderbare Aussicht zahlt man mit der Nähe zum Tod durch einen Sturz in die Tiefe, und manchmal erwischen wir den aufblitzenden Gedanken, wirklich springen zu wollen: L‘appel du vide, der Drang zu springen, der Ruf der Tiefe. Eigentlich wollen wir nicht springen, aber der Sog ist da. Auch wenn man die eigenen Daten nicht weitergeben möchte, will man die damit verbundenen Services nutzen. Sie sind doch so praktisch. Für ein bisschen Bequemlichkeit haben wir uns alle selbst zur Ware gemacht, mit der andere handeln. Solche und ähnliche Gedanken sollte diese Offizierin auslösen.