Süchtige Gesellschaft

Über die verschiedenen Süchte in unserer Gesellschaft und warum sie Themen meiner Werke sind.

I – Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist eine Kneipe. Menschen gehen hinein, trinken, stellen sich für eine Zigarette vor die Tür und trinken weiter. Mindestens einmal monatlich gibt es Streit, Leute brüllen sich gegenseitig an oder der Wirt schmeißt jemanden raus. Ganz normal.

II – In der Eingangszone des Jobcenters sitzt ein Mitarbeiter am Schreibtisch, blickt hektisch und übermüdet auf dem Monitor hin und her, trinkt einen Schluck Red Bull und versucht seine Wut im Zaum zu halten. Es ist 8 Uhr morgens. Ganz normal.

III – Ein Teenager kommt nach einem stressigen Schultag nach Hause. In der Nacht hatte er zu wenig geschlafen, in der Schule wurde er gemobbt und von Lehrern angeschrien. Er hat 500 Follower auf Instagram, aber keine Freunde, die ihm zuhören. Mit drei Klicks landet er auf Pornhub, sein Belohnungszentrum feuert wie wild, er vergisst für eine Weile die quälende Einsamkeit und fragt sich hinterher, was zur Hölle er sich da angesehen hat. Ganz normal.

Beispiele kann man ohne enden finden und erfinden, um zu zeigen, wie viel ungesunde Verhaltensweisen und wie viel Suchtmittelkonsum in unserer Gesellschaft akzeptiert und häufig sogar gefördert wird. Mir selbst ist etliche Male passiert, dass ich gefragt wurde, warum ich nicht (mehr) trinke. Fragen wie: Bist du krank? Musst du noch fahren? Oder Aussagen wie: Ein Bier kann doch nicht schaden. Gehe ich am Wochenende abends durch Dortmund, begegnen mir irgendwann nur noch Betrunkene. Das ist deren Recht, aber vielleicht sollte man mal darüber nachdenken.

Ich habe Freunde zugrunde gehen sehen und war stand selbst am Abgrund. Ich bin kein Heiliger. Mein Blog trägt den Titel Autorsein als Kampfakt und ein Teil meines permanenten Kampfes ist der mit Fressattacken, Suchtdruck, Stress, Bingewatchen und anderen Verhaltensweisen, die ungesund sind und die mich auf Dauer unzufrieden stimmen, auch und besonders weil sie kurzfristig lohnenswert scheinen.

Daher ist das Thema der süchtigen Gesellschaft für mich interessant und wichtig. Im Roman Sorck taucht es auf in Form von Alkohol- und Drogenkonsum sowie übermäßiger Esserei. Im Gedichtband Alte Milch kommen ebenfalls Alkohol und Drogen vor (diesmal auch in Form von Zigaretten und Koffein). Außerdem wird noch Pornokonsum (oversexed and underfucked), das scheinbar Soziale und manchmal den Selbstwert angreifende von Social Media, Stress und Einsamkeit, die aus all dem erwachsen können, oder von denen man sich ablenkt, behandelt.

Adolf Muschg sagte einmal sinngemäß, man behandele gesellschaftliche Probleme, indem man persönliche Probleme verarbeite. Dem stimme ich zu. Die Probleme der Gesellschaft, in der ich lebe, werden zwangsläufig meine Probleme (ob nun direkt oder indirekt). Daher erscheint es passend, sie wenigstens in der Lyrik in Ich-Perspektive zu behandeln. Nicht jedes behandelte Thema ist eines, das mich direkt und persönlich betrifft, sondern eines, das mich beschäftigt und über das man nachdenken sollte. Über den Unterschied zwischen Erzähler/lyrischem Ich und mir als Person habe ich im Artikel Der Erzähler, das lyrische Ich und Ich mehr geschrieben. Entgegen mancher Meinung sind Suchtprobleme kein Zeichen persönlicher Schwäche, sondern Ausdruck größerer Problematiken, die man als Sozialgemeinschaft zu lösen hat. Sie auf die Betroffenen abzuwälzen, ist faul und unfair.

Ursprünglich war es nicht das Ziel gewesen, mit meiner Literatur Kritik zu üben oder Veränderungen herbeizuführen, aber es ergab sich zwangsläufig, weil es mich beschäftigte. Inzwischen sollen meine Texte zum Nachdenken anregen, Fragen aufwerfen und Probleme aufzeigen. Einer dieser Problemkomplexe ist die süchtige Gesellschaft. Weitere habe ich bereits besprochen oder werde es noch tun.

Sorck: Rauschmittel

In Sorck wird nicht wenig getrunken und auch andere Rauschmittel kommen vor. Hier möchte ich einige Gedanken zu Alkohol und Drogen in der Literatur loswerden. Zuallererst sollte jedoch angemerkt werden, dass Rauschmittel in der Literatur und auch sonst nicht unnötig verherrlicht werden sollten. Außerdem hilft es vielleicht meiner Glaubwürdigkeit, wenn ich vorab zugebe, dass ich in meinem Leben eine ganze Menge (um nicht zu sagen zu viele) Erfahrungen mit Rauschmitteln gemacht habe.

Eine positive Darstellung des Rausches an sich betrachte ich noch nicht als Verherrlichung. Es steht wohl außer Frage, dass sich ein gelungener Rausch gut anfühlt. Sonst gäbe es ein sehr viel kleineres Suchtproblem. Wichtig ist aber, dass auch die Kosten für einen solchen Rausch beschrieben werden. An einer Stelle ist das in Sorck umgesetzt: großer Rausch, hohe Kosten. Auf Details der Behandlung des Suchtmittel-Themas im Roman gehe ich an dieser Stelle nicht ein, werde es aber noch nachholen, wenn ausreichend Zeit seit der Veröffentlichung verstrichen sein wird.

In der Literatur werden Bestandteile der Handlung häufig mit Hintergedanken (z.B. als Symbole) eingesetzt oder als Interpretationsansatz angeboten. Die Verwendung von Rauschmitteln innerhalb einer Geschichte kann die Quelle einer Vielzahl von daraus resultierenden Lesarten sein. Natürlich kann schlicht das Thema Sucht besprochen werden, was ich persönlich als legitim und sogar wichtig empfinde. Der nächste Schritt wäre, von Sucht zu Abhängigkeit allgemein zu springen. Kann beispielsweise der Genuss (besser: Konsum) von Rauschmitteln in einem bestimmten Kontext ein Hinweis sein auf eine abhängige, ungesunde Beziehung (Figur A schreit, Figur B trinkt Wein)? Sind die Drogen in Brave New World auch als Symbol der Abhängigkeit der Bürger vom Staat und dadurch der beinahe uneingeschränkten Kontrolle des Staates über die Bürger zu interpretieren?

Es kommt natürlich auf die Ausmaße, Regelmäßigkeit und die Wirkung der Drogen an, wenn es um eine tiefere Analyse geht. Das tägliche triste Feierabendbier, das ohne Rausch und gewohnheitsmäßig konsumiert wird, eignet sich als unterschwelliger Hinweis auf Abhängigkeit, aber besser auf schlechte Gewohnheiten im Allgemeinen und noch besser als Symbol für Abgestumpftheit und Fatalismus. Die von der Werbung verkaufte Entspannung durch eine Flasche Bier sollte man in der Literatur enttarnen und nicht noch weiter untermauern. Wir verbreiten Wahrheit, nicht Werbung! Jeden Abend zu trinken (auch wenn es nur ein oder zwei Flaschen Bier sind), ist Selbstzerstörung. Tut man es vermeintlich zur Entspannung, ist es unbewusste Selbstzerstörung. Denn wer ernsthaft täglich Alkohol braucht, um runterzukommen, hat ein Problem. Als Hinweis auf selbstzerstörerische, möglicherweise (para)suizidale Tendenzen einer Figur kann Rauschmittelkonsum also ebenfalls verwendet werden.

Kommen wir zu einem ganz anderen Aspekt: Realitätsverschiebung. Daniel Kehlmann beherrscht sein Handwerk zweifelsohne. Was mich allerdings mehrfach besonders beeindruckte, waren Geschichten, in denen er schleichend die Realität verzerrt, anfangs höchstens durch ein unbewusstes Gefühl bemerkbar, und sie weiter und weiter verändert, bis es nicht mehr zu übersehen ist, dass etwas nicht stimmt. Dann wird manchmal der Leserin/dem Leser die Auflösung in Form eines Hinweises auf Drogen gegeben. In anderen Fällen hat man plötzlich die Aufgabe, selbständig zu interpretieren. Zweiteres ist mir am liebsten.

Eine verwandte Möglichkeit der Nutzung von Rauschmitteln in Geschichten ist, sie als Interpretationsansatz anzubieten, aber ohne sie als eindeutige Erklärung hinzustellen. Die Entscheidung bleibt beim Leser. Stellen wir uns eine Figur vor, die immer müde ist, möglicherweise psychische Probleme hat und gelegentlich Drogen nimmt. Sieht diese Figur nun ungewöhnliche Dinge, entstehen sofort mehrere gleich gültige (nicht gleichgültige) Lesarten:
1. Die Dinge geschehen wirklich;
2. Die Figur ist auf einem Trip (→ Halluzinationen);
3. Die Figur nimmt die Realität falsch wahr (→ unzuverlässig, schwammig, aufgrund von Müdigkeit);
4. Die Figur interpretiert die Realität falsch (→ z.B. paranoid: glaubt, alle Leute blicken sie an, während sie das eigentlich nicht tun);
5. Der Erzähler lügt (→ unzuverlässige Erzähler sind selten, aber es gibt sie); weitere Möglichkeiten lassen sich sicherlich finden und jede einzelne hat Auswirkungen für das Gesamtverständnis des Textes.

Drogen, Rausch, Kater, Abhängigkeit und alles, was noch daran hängt, war oder ist Teil meines Lebens und wird sich in meinen Geschichten wiederfinden. Entsprechend halte ich es, wie bereits anfangs erwähnt, für legitim und manchmal sogar notwendig, darüber zu schreiben. Sorck habe ich eine Triggerwarnung hinzugefügt, in der unter anderem Drogen und Alkohol erwähnt werden. Mir ist bewusst, dass Trigger sich eigentlich nicht auf Suchtproblematik beziehen, sondern auf Angststörungen. Dennoch können Personen, die abhängig sind oder waren, von Auslösern (wie der Beschreibung eines Rausches) in große Schwierigkeiten (Heulkrämpfe, Suchtdruck, Panikattacken etc.) gestürzt werden. Daher halte ich es für angebracht, auch auf solche Elemente hinzuweisen. Ich hoffe sehr, dass Leser*innen die Szenen, in denen Rauschmittelkonsum vorkommt, nicht als Verherrlichung missverstehen, sondern sie (ungefähr) so auffassen, wie ich sie meinte.

Eine Leseprobe des Romans gibt es hier: Sorck: Leseprobe

Einen ausführlicheren Artikel findet ihr hier: Sorck – Unsortierte Infos zum Debütroman

Unter der Kategorie “Sorck” (im Klappmenü rechts) finden sich weitere Beiträge zum Roman.

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Alternativ ist es möglich, das Taschenbuch direkt bei Twentysix oder im Autorenwelt-Shop zu erwerben.

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