Mit dem berühmte Schrei von Edward Munch (1863-1944) geht es weiter in der Reihe von Kunstwerken, die im Roman Sorck vorkommen (wenn auch manchmal nur sehr kurz). Zuvor ging es bereits um The Great Implosion von Nick Alm und um Der alte Gitarrenspieler von Picasso.
Der Schrei ist eigentlich nicht ein Bild, sondern mehrere. Es gibt verschiedene und in den meisten Fällen recht ähnliche Versionen des Bildes, die zwischen 1893 und 1910 entstanden. In meiner Wohnung hängt ein Kunstdruck der Version von 1910, die mir persönlich am besten gefällt. Zu sehen ist im Zentrum eine Figur, die Augen und Mund aufgerissen hat und beide Hände an den Kopf hält. Ich denke, jeder kennt das Werk. Der heutzutage geläufige Titel hätte Munch vermutlich missfallen. Mehrfach bezeichnete er selbst es auf Deutsch als Das Geschrei. Die Interpretation, dass die zentrale Figur selber schreie, war vom Maler nicht beabsichtigt, wird aber vom heute geläufigen Titel unterstützt. Munch verarbeitete eine Angstattacke, die ihn eines Tages auf einem Spaziergang überkam, als er einen Schrei hörte, der durch die Natur ging.
Der Schrei zeigt wunderbar, wie Munch es verstand, die Außenwelt als gespiegelte Innenwelt darzustellen. Nichts anderes, wenn auch mit anderen Mitteln (und weniger meisterhaft), tue ich, wenn ich die Umgebung einer Figur innerhalb einer Szene nutze, um eine Stimmung zu unterstützen oder eine Aussage zu einzubauen. Im Grunde entsteht eine Interpretationsspirale, wenn Munch die Innenwelt seiner Figur mit der Außenwelt innerhalb des Gemäldes darstellt und ich das gesamte Bild (Figur und Natur) verwende, um die Welt meiner Figur besser darzustellen. Gerne darf jemand in einem anderen Buch meinen Roman vorkommen lassen (beispielsweise auf einem Nachttisch liegend), um die Kette weiterzuführen.
Generell gibt es zwei Ansätze, um sich mit einem Bild zu beschäftigen. Entweder man informiert sich und interpretiert mithilfe von Hintergrundinformationen oder man leistet sich einen persönlicheren, weniger voreingenommenen Ansatz und lässt die Kunst pur auf sich wirken. Manche Werke verschließen sich dem zweiten Ansatz fast vollständig. Ich denke da zuallererst an monochrome Leinwände. Bei denjenigen, die sich nicht verschließen, kommt es doch häufig zu Missverständnissen oder – positiver ausgedrückt – zu neuen, ursprünglich nicht intendierten Interpretationen. Ohne die Informationen über die Angstattacke Munchs, die er verarbeitete, bezog ich die Reaktion der zentralen Figur immer auf die beiden dunklen Figuren im Hintergrund. Eine Idee, die ich hatte, ging in Richtung einer Sozialphobie, also einer Angstreaktion der Figur aufgrund der anderen. Häufiger aber sah ich mehr Verzweiflung als Angst. Entsprechend stellte ich mir den Weg, auf dem die Figuren sich befinden, als Rand einer Promenade vor, die voller Menschen ist, während die Zentralfigur vollkommen allein ist. Für mich passte Der Schrei immer gut zu Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Kellerloch.
Nach dieser Sicht auf das Bild wird der Bezug zu Matin Sorck erheblich deutlicher. Er ist ein Außenseiter durch und durch, leidet unter seinen Mitmenschen und würde sicherlich manchmal einfach losschreien. Natürlich hat er auch Angst. Er hat alles verloren, wo soll er hin? Man kann das Vorkommen des Bildes also als Unterstützung des Figurenverständnisses des Protagonisten verstehen, wenn man denn so weit interpretieren möchte.
Wie schon bei Picasso und Nick Alm verbaue ich mit Der Schrei aber auch eine alltägliche Ansicht, einen Teil meines Arbeitszimmers und meines Lebens in der Geschichte. Es verbindet die Welt von Sorck mit meiner eigenen. Und natürlich: ich mag das Bild sehr; die Dymanik, das Grauen, die Farben und die intensive, verzweifelt wirkende Pinselführung. Große Kunst wie große Literatur verarbeitet persönliche, individuelle Erfahrungen und Gefühle und wird genau dadurch für alle anderen verständlich. Das versuche ich mit meiner Arbeit, die ich allerdings noch nicht als „große Literatur“ bezeichnen würde, auch zu tun.
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