Alte Akten und wilde Spekulationen

Interpretation der Kurzgeschichte “Das Archiv” aus dem Buch “Derrière La Porte” von Michael Leuchtenberger.

Neulich habe ich die Sammlung von Kurzerzählungen Derrière La Porte von Michael Leuchtenberger rezensiert. Hier geht es zum Beitrag: Michael Leuchtenberger: Derrière La Porte. Heute möchte ich eine Interpretationsmöglichkeit von Das Archiv, das es übrigens auch einzeln zu kaufen gibt, auf euch loslassen. Ohne Spoiler ist das völlig unmöglich. Wer das Buch also noch nicht gelesen hat, es aber noch vorhat, sollte sich den Eintrag für später speichern und ab hier nicht weiterlesen.

Ein Angestellter allein in einem alten und vergessenen Keller voller Akten, die er zu sichten hat. Mich erinnerte das an eine Therapie. Aber bauen wir es anders auf. Es gibt eine neue Chefin, die aufräumen möchte. Im Laufe des Aufräumprozesses wird ein Schlüssel gefunden zu einer Tür, die ebenfalls erst gefunden werden muss. Hinter alten Rollschränken mit Akten wird diese Tür gefunden und dahinter befindet sich ein weiterer Raum mit Kisten, Zeitschriften und Akten, noch älter als jene im Vorraum. Die Chefin gibt die Anweisung, die alten Akten zu sichten für eine Historie des Amtes und gibt den zusätzlichen Auftrag, nach Arbeiten über Architektur zu fahnden. Nun könnte man die Chefin als Therapeutin verstehen und die Akten als Erinnerungen. Der Protagonist, die Person in Therapie, steigt in den dunklen Keller hinab seiner Erinnerungen hinab. Zunächst sind jedoch die Akten in den Rollschränken im Weg. Mühsam müssen sie beiseite geschafft werden. Nebenbei wird erwähnt, dass die Rollschränke dazu neigen, von allein in Bewegung zu geraten. Mindestens einmal wurde der Protagonist bereits von ihnen beinahe eingesperrt. Es ist fast so, als gäbe es eine Kraft, die sich dagegen wehrt, dass die alten Akten/Erinnerungen wieder zum Vorschein kommen. Ein Verdrängungsmechanismus lässt sich vermuten. Im versteckten Hinterzimmer, das man als Un(ter)bewusstsein verstehen kann oder als Ort verdrängter Geschehnisse, wird dem Protagonisten schwindlig. Die Luft ist abgestanden und in der Ecke wuchert etwas Dunkles. Mehrmals wird er ohnmächtig. Während er mehr und mehr Zeit dort unten verbringt und vergessenes Wissen durcharbeitet (im Zusammenhang mit alten Zeitschriften wird dies explizit so genannt), breitet sich die dunkle Masse aus. Schließlich bekommt sie Struktur. Pflanzenartig und doch beweglicher, mit Auswüchsen, die in den Raum ragen und zugreifen wollen. Der Protagonist will fliehen, als er es bemerkt, aber ist längst im Keller eingeschlossen worden. Er ist gefangen in alten Erinnerungen. Dann versucht er, die Tür zum dunklen Raum mit dem verdrängten Wissen wieder zu schließen, aber auch dafür ist es zu spät. Die Auswüchse haben den Raum eingenommen und die Tür bereits durchschritten. Nach kurzer Flucht findet sich die Figur schließlich auf dem Boden, auf Knie und Hände gestützt. Die dunklen Auswüchse haben Arme und Beine umschlossen, er sinkt mit den Händen im Boden ein, während er voller Furcht und Ekel bemerkt, dass etwas seinen Rücken berührt. Man kann sich kaum eine unangenehmere und wehrlosere Stellung vorstellen, als auf allen Vieren festgebunden zu sein. Die so lange weggesperrten und nun wieder befreiten Erinnerungen nehmen ihn völlig ein.

Der Protagonist verliert das Bewusstsein und erwacht erst wieder, als seine Kolleginnen und Kollegen ihn finden, aber ohne die dunklen Auswüchse. Fortan bleibt der Geruch des Raums und der Auswüchse ein Teil seines Lebens.

Diese Gruselgeschichte kann meines Erachtens nach als Retraumatisierung gelesen werden. Verdrängte Erinnerungen werden im Laufe einer Therapie heraufbefördert und müssen nun in mühevoller Arbeit verdaut werden. Man weiß jetzt, was sich Dunkles im Unterbewusstsein verborgen hielt und drohte, aber damit klarzukommen, ist eine Lebensaufgabe.

Verfasst ist Das Archiv in Briefform und zwar einem Brief an eine Therapeutin, die mit dem Protagonisten fortan arbeiten soll. Wenn man will, könnte man also noch einen Schritt weitergehen und die Retraumatisierung samt Folgeschäden nicht als gut durchdachten Schritt einer ausgebildeten Therapeutin verstehen, sondern als Resultat laienhaften Herumdokterns durch die Chefin, die in diesem Szenario bloß jemand wäre, der es gut meint und damit Schaden anrichtet.

Ich weiß nicht, ob Michael Leuchtenberger diese Lesart beabsichtigt oder auch nur selbst bemerkt hat, aber ich finde sie hochinteressant. Sollte es keine Absicht gewesen sein, macht es das nur noch spannender, denn was die Leserschaft in Geschichten finden kann, das man als Autor*in selbst nicht sieht, ist enorm. Genau um derartige Lesarten zuzulassen, plädiere ich immer für relativ offene Geschichten. Zu viele eindeutige Erklärungen können Interpretationsfreiräume einschränken und somit auch die Freude an der Geschichte.

Zum Abschluss möchte ich mal wieder ganz deutlich darauf hinweisen, dass Figuren und Erzähler nicht die Autor*innen sind. Ich habe hier eine Geschichte analysiert und nicht den Verfasser, würde mir also niemals anmaßen, durch diese wirre Interpretation auf mögliche Traumata des Autors zu schließen. Ob die Lesart ein Kunstgriff, ein Zufall, die unbewusste Verarbeitung eines Geschehnisses (eines selbst erlebten oder fremden) oder mehr über mich als über ihn aussagt (und in dem Fall: was es über mich aussagt), ist völlig offen.

Michael Leuchtenberger: Derrière La Porte

Rezension des Buches “Derrière La Porte: Elf sonderbare Kurzgeschichten” von Michael Leuchtenberger.

Bücher sind immer gute Geschenke und Weihnachten 2019 habe ich einige davon bekommen, unter anderem Derrière La Porte von Michael Leuchtenberger, einem Band mit elf sonderbaren Kurzgeschichten. Über dieses Buch möchte ich schreiben.

Arbeiten wir uns von außen nach innen vor. Das circa 150 Seiten leichte Buch kommt mit einem eleganten und schlichten Cover aus, besitzt ein kurzes Vorwort und noch davor einen Hinweis auf Triggerwarnungen, die sich am Ende des Werkes befinden, spezifisch für jede Geschichte. Diejenigen Geschichten, für die eine Warnung existiert, sind mit einem kleinen “TW” in der oberen Seitenecke gekennzeichnet. Eine saubere Lösung. Vor jede Story hat der Autor eine kurze Passage gesetzt, in der er erklärt, wie der Text ursprünglich entstanden ist.

Kommen wir zum Inhalt. Die Geschichten gehören zu völlig verschiedenen Genres (Öko-Dystopie, Horror, Fantasy, Sci-Fi …), obwohl eine klare Tendenz zu Gruselgeschichten vorliegt, und spielen in verschiedenen Zeiten. Eine Gemeinsamkeit (und die Erklärung des Titels) ist, dass in allen Türen vorkommen, die durchschritten werden, Türen in andere Welten, Türen, die düstere Geheimnisse verstecken, und Türen, die man besser wieder schließt.

Die große Stärke aller Geschichten ist die Atmosphäre. Mir ist von jeder einzelnen Geschichte ein klares Bild verbunden mit einem deutlichen Gefühl geblieben. Durch die verschiedenen Settings und Genres sind auch die gebliebenen Bilder und Gefühle sehr unterschiedlich. Diese Stärke sorgt dafür, dass auch inhaltlich weniger starke Geschichten oder welche, die eigentlich Anrisse oder Skizzen genannt werden könnten, vollständig wirken und mitreißen.

Stilistisch erinnerten mich einige Geschichten an die wenigen Werke englischsprachiger und französischer Literatur des 19. Jahrhunderts, die ich gelesen habe, an E.A.Poe oder Alain-Fournier. Das könnte daran liegen, dass manche Texte durch die französische Landschaft inspiriert wurden und Leuchtenberger nicht wenig von Poe gelesen hat. In diesen Stil und Rahmen passen dann auch die teils sehr klassischen Gruselfiguren. Aber nicht alle Wesen, die vorkommen, kamen bereits woanders vor. Mehr oder weniger körperlose Wesenheiten schleimiger Natur tauchen ebenso auf wie sehr reale Monster – dabei denke ich an den Chef aus Der Despot. Von dieser Geschichte werden sich alle angesprochen fühlen, die schon einmal unter einem Kleindespoten knechten mussten.

Die Frage nach den Schwächen ist schwierig. Als Autor habe ich mir ab und zu gedacht, man hätte mehr aus den Geschichten herausholen können (das allerdings könnte Geschmackssache sein oder eine persönliche Stilfrage), aber ich habe auch gestaunt über die Atmosphäre, die ich gern selbst so gestalten können würde. Einige der klassischen Gruselfiguren hätten mich beinahe zum Augenrollen gebracht, hätten sie sich nicht so schön in Stil und Umgebung eingepasst. Das Buch steht also ein bisschen wacklig da, wenn man streng und kalt mit ihm umgehen will und man eine*r wird das tun. Aber mir geht es um mehr. Auch wenn Leuchtenbergers Geschichten hier und da noch etwas roh wirken, bringen sie die Leser*innen ans Ziel und wecken etwas in den Köpfen, das vorher ruhig schlummerte, bis sie die Tür aufstießen.

Natürlich habe ich unter den elf Geschichten ein paar Favoriten. Das Archiv gefällt mir besonders, weil es interessante Interpretationen zulässt. Die Bilder, die Marie Marais hinterlassen hat, haben einen faszinierenden Farbton – ich weiß, das klingt seltsam, aber ich verbinde Geschichten automatisch mit Farbtönen: Das Archiv ist nassgrau, während Marie Marais ein schmutziges Ocker hat. Am liebsten (und trotz kleiner Unschönheiten) mag ich Dein Name an der Tür. Diese kurze Geschichte hat mich nostalgisch gestimmt, zum Lächeln gebracht und traurig gemacht. Es ist, wie einen Kindertraum zu erleben, um dann aufzuwachen und zu merken, dass man erwachsen geworden ist. Was zwischen dem Traum und dem Jetzt passiert ist, kann rationalisiert werden, aber Fakt ist, dass der Traum schön war und längst vergangen ist.

Da manche Geschichten zum Interpretieren einladen, werde ich eventuell ein paar wilde Spekulationen loslassen, aber nicht mehr hier und heute.

Wollt Ihr ein Fazit haben? Ich mag das Buch und habe es innerhalb für mich sehr kurzer Zeit gelesen. Sterne, Punkte und dergleichen mehr verteile ich nicht. Lest das Buch, lasst Euch fesseln und hofft, dass eure Kopfbilder ähnlich interessant sind wie meine!

Leo Perutz: Der schwedische Reiter

Über den Roman “Der schwedische Reiter” von Leo Perutz.

Ausnahmsweise schreibe ich eine Buchbesprechung. Mir ist danach. Also los:

Zwei Männer scheinen am Ende zu sein, noch bevor die Geschichte beginnt. Ihre Lebenswege und alle Ziele, Anstrengungen, Schicksalsschläge und Zufälle darin sind miteinander verknüpft. Wenn die Geschichte tatsächlich endet, steht da eine rührende Szene, die von Liebe und Schicksal durchströmt ist.

Wie soll man Der schwedische Reiter einordnen? Man kann sagen, es handele sich um einen historischen Roman, der am Anfang des 18. Jahrhunderts in Schlesien spielt. Allerdings ist es auch ein Abenteuer- und Liebesroman, ein Kunstmärchen, ein Werk des Magischen Realismus und modern durch die Thematisierung von Flucht, Verfolgung, Leid und Lebenswillen.

Dies ist meine erste Buchbesprechung und deshalb werde ich doch lieber persönlicher im Ton und in der Gestaltung. Es gibt zwei Dinge im Buch, die anstrengend sind. Leo Perutz schrieb einmal, dass er in historischen Romane zu schreiben versuche, wie seine Großmutter erzählte. Die Sprache passt, soweit ich das sagen kann, zur Zeit, in der die Geschichte spielt. Trotz schönem Satzrhythmus kann das stören oder braucht wenigstens Gewöhnung. Die andere Sache ist, dass die beiden weiblichen Figuren naiv, unselbständig und auch mal rachsüchtig sind. Sie sind da, um hübsch zu sein und zu dienen, die eine etwas wilder, die andere brav. Eine Ursache dafür liegt wohl in Perutz’ Entscheidung, sämtliche Figuren typisiert zu konzipieren, sodass sie erst durch die schicksalhafte Verquickung der Handlung und durch die Fantasie der Leser*innen mit Charakter erfüllt werden müssen. Dies funktioniert im Falle der männlichen Figuren besser, da sie mehr Handlung und mehr Sprechanteil haben. Aber mit einer modernen Sichtweise ein Werk zu attackieren, das 1936 erschien und im frühen 18. Jahrhundert spielt, ist müßig. Es fällt allerdings auf.

Also zur Schönheit des Werkes! Der Aufbau vom Ende der Geschichte zum Anfang und wieder zum Ende, die Verknüpfung der einzelnen wichtigen Wegpunkte, die schließlich eine großartige Auflösung erlauben, ist unschlagbar. Dieser Aspekt erinnert mich an die besten Filme von Guy Ritchie. Allerdings scheint Perutz’ Auflösung mehr von Leidenschaft getragen denn von Humor. Dies ist einer der Momente, in denen ich am liebsten spoilern würde. Ich liebe die Auflösung und den Aufbau dieses Romans.

In der Zwischenzeit, zwischen Aufwerfen des Rätsels und Erklärung, gibt es eine abenteuerliche Geschichte um Landstreicher, Räuber, Diebe, Soldaten und Liebe. Man fühlt sich hier und da an Till Eulenspiegel erinnert. Folgende mögliche Verbindung fiel mir beim Lesen auf: Das Buch erinnert mich an Till Eulenspiegel – Daniel Kehlmann hat mit Tyll einen Roman mit dieser Figur im Zentrum geschrieben – ich selbst kenne Leo Perutz aus Essays von Kehlmann – dachte Kehlmann dank Perutz an Eulenspiegel? Doch zurück zum Buch: Dieser Anteil des Buches ist spannend und unterhaltsam.

Hineingemixt wird nun auch noch eine Menge Aberglaube und Religion. Ein (möglicherweise?) toter Müller, Zaubersprüche, die eventuell wirken, ein göttliches Gericht, das aber keine der gängigen Sünden bestraft. Dies ist der magisch-realistische Anteil, die Verflechtung von Realität und Glauben, Aberglauben, Spiritualität zu einer neuen Wirklichkeit. Doch Perutz treibt Spielchen und weicht den Kern dieses Konstruktes auf. Christliche Moral ist nicht die Moral des Buches, sondern bloß eine Ansicht, die vertreten wird – und das nicht von den Mitgliedern der Kirche. Als Leser*innen sind wir in der moralischen Interpretation des Werkes auf uns gestellt. Uns bleibt nur die ästhetische Konstruktion, um uns entlangzuhangeln. Sie gilt es zu bewundern. Was das Leben wirklich bedeutet oder ob es etwas bedeutet, müssen wir nicht verstehen, können es vielleicht auch niemals.

Für Fans von Details sollte ich noch darauf hinweisen, dass Perutz, soweit ich das erkennen konnte, Kapiteleinteilung, Jahreszahlen etc. an in der christlichen Numerologie wichtigen Zahlen angepasst hat.

Am Ende einer Buchbesprechung sollten wohl eine Empfehlung oder Bewertung folgen. Ich gebe keine Punkte oder Sterne. Die Wahrheit ist, ich kann nicht einschätzen, ob heutigen Leser*innen Der schwedische Reiter zusagen wird. Aber im Grunde handelt es sich um einen Fantasyroman und sowas mögt ihr doch, oder?