Über die Erzählung “Der Sturm im Bierglas” aus “Erschütterungen. Dann Stille.”
Angeblich – laut einer Testleserin – eine meiner besten Erzählungen bisher: Der Sturm im Bierglas. Ich möchte da nicht widersprechen. Ob es die beste ist, weiß ich nicht. Das müssen andere entscheiden. Vor Spoilern im folgenden Text sei hiermit gewarnt!
Content Note: Suizid, Alkohol, Sucht
Der Wirrwarr des Todes
Mir wurde außerdem gesagt, dass man schwer nachvollziehen könne, wo und wann die Geschichte zu jedem Zeitpunkt angesiedelt ist. Sie springt vor und zurück. Das soll so sein. Sie stellt keine chronologische oder gar logische Abfolge dar. Aus meiner Sicht ist das Ende der Geschichte der Moment, in dem sie spielt, während alles Vorherige wie ein wilder Fluss im Kopf der Erzählinstanz durcheinander wirbelt. Sie ist der Fels im Fluss der Erinnerungen. Alles verwirbelt sich. Was vor 10 Jahren und was vor 30 Jahren gewesen ist, spielt keine Rolle mehr, wenn man vom Stuhl steigt.
Dass ich morbide veranlagt bin und Suizide in meinen Geschichten nun wirklich nicht selten sind, ist inzwischen bekannt, denke ich. In Erschütterungen. Dann Stille. allerdings kommt eine Variation des Selbstmords besonders häufig vor: Das Erhängen. Ich wünschte, ich könnte beantworten, woher gerade diese Idee stammt. Es folgen einige Gedanken, woher sie stammen könnte und was an ihr besonders ist.
Sich selbst zu erhängen ist eine blutlose Selbstmordvariante. Vielleicht kommt sie daher häufiger in Filmen vor. Man kann alles zeigen und sieht dennoch nichts Verbotenes. Perverser Mist.
Spontan fallen mir zwei großartige Filme mit entsprechenden Szenen ein, die mich beide mit Tränen in den Augen zurück gelassen hatten: The Shawshank Redemption und Filth. Musikalisch denke ich zuallererst an den Song The Chair von The 69 Eyes.
Ich denke, man kann sprachlich und insgesamt literarisch gut arbeiten mit der Konstruktion einer Person, die auf einem Stuhl steht, diesen wegtritt und sich erhängt. Beispielsweise kann sehr tragisch etwas schiefgehen. Man kann ohne Strick vom Stuhl fallen, wie ich es einer Figur in einem Wettbewerbsbeitrag einmal angetan habe. Man geht einen Schritt voran, was eigentlich als etwas Positives gilt, aber in diesem Fall in den Tod führt. Das erinnert mich an den alten Witz: Früher stand ich am Abgrund, aber heute bin ich einen Schritt weiter. Doch woher genau kommt es, dass ich direkt mehrfach genau diese Art des Suizids beschreibe oder andeute? Ich wünschte, ich wüsste es.
Alkoholismus
Das alte Lied von der süchtigen Gesellschaft, vom Suff in Sorck: Ein Reiseroman und in Alte Milch: Gedichte und immer wieder die Ausrede vom Thema Macht/Ohnmacht im Werk. Welcher Aspekt bedingt hier welchen? Man kommt nicht drumherum, oder? Nicht, wenn man meine Bücher lesen möchte. Auch in Der Sturm im Bierglas dreht sich alles um den Alkohol und darum, was er ersetzen soll. Denn Sucht hat immer Gründe und diese sehen für jede*n anders aus. Sehnsucht nach einer besseren Zeit ist wohl einer der schöneren.
Das Motto
He That’s Born To Be Hanged, Need Fear No Drowning.
Dieses Sprichwort aus Elisabethanischer Zeit ist Der Sturm im Bierglas vorangestellt. In abgewandelter Form hatte William Shakespeare es in das Stück Der Sturm (The Tempest) verbaut. Nach dem Lesen musste ich eine Weile darüber nachdenken.
Es ist offensichtlich, dass das Sprichwort nicht so gemeint war, doch habe ich es in meiner Erzählung auf das Hängen durch eigene Hand bezogen und auf das Ertrinken im Sinne des Trinkens, also auf den Alkoholismus. Wer sich am Ende ohnehin erhängen wird, braucht keine Angst vor der Sucht zu haben. Ist das bereits eine selbsterfüllende Prophezeiung? Ich glaube, ich habe mich gerade einen Schritt zu weit analysiert.
Dass Der Sturm im Bierglas mit Shakespeares Stück zu tun hat, merkt man ganz am Anfang: „Am Anfang war ein Sturm“, und der Naturgeist Caliban wird erwähnt. Der Anfang der Geschichte ist also ein Hinweis auf den Anfang ihrer Inspirationsgeschichte: Am Anfang war Der Sturm.
Die Erzählinstanz
So unschön ich es finde, immer wieder „die Erzählinstanz“ zu schreiben, statt „der Erzähler“, mag ich doch den Gedanken, dass ich ebendiese Instanz weder in dieser Erzählung selbst noch im dazugehörigen Blogeintrag gendere. Manche Erzählungen haben Protagonist*innen oder Erzählinstanzen mit klarem oder angedeuteten Geschlecht, aber Der Sturm im Bierglas und viele andere in Erschütterungen. Dann Stille. haben eine neutrale Instanz, die von jede*m gelesen werden kann, wie es gerade am angenehmsten ist.
Dass es nicht immer wichtig ist, was die Autor*innen sagen wollen, sondern was die Leser*innen aus der Geschichte ziehen können, habe ich mehrmals betont. Das darf keine Ausrede für völlig unangebrachte Sauereien seitens der Autor*innen sein, aber im Rahmen guter Erzählkunst halte ich es so. Teil davon kann sein, dass das Geschlecht der Erzählinstanz, besonders bei Ich-Erzähler*innen, offen bleibt. Ich habe mich sehr gefreut, als meine Testleser*innen bei manchen Geschichten die Erzählinstanz unterschiedlich gelesen haben, weil es jeweils am besten für ihre Lesesituation passte. Auf diese Weise schließt man niemanden aus. Mich selbst kostet es im Normalfall gar nichts. Schöne Sache, oder?