Erschütterungen. Dann Stille.: Double Cheese

Über die surreale Erzählung “Double Cheese” in “Erschütterungen. Dann Stille.”

Nicht immer steht am Anfang eines Schreibprojekts eine Idee für eine Geschichte. Manchmal ist da die Lust oder Notwendigkeit, irgendetwas zu schreiben, wie bei Am Fluss. Manchmal beginnt es mit einem neuen Konzept, wie im Fall von Caspars Schiffe. Die Arbeit an der Erzählung Double Cheese im Buch Erschütterungen. Dann Stille. begann mit der Suche nach Inspiration, nicht zielgeleiteter Recherche und zwei sehr verschiedenen Einflüssen, die zu kombinieren ich vorhatte. Wie immer ist die Geschichte der Geschichte nicht ohne Spoiler zu erzählen. Lest also bitte zuerst Double Cheese und dann diesen Blogeintrag!

Einflüsse

Wie erwähnt, ist die Erzählung Double Cheese von zwei grundverschiedenen Vorbildern beeinflusst, deren Wirken, sofern man sie kennt und erkennt, in der gesamten Geschichte herauszulesen ist. Ich wusste von vornherein, dass ich mindestens diese beiden Einflussfaktoren verbauen wollte und durchsuchte im einen Fall das Internet und im anderen die kleine Kunstabteilung meines Buchregals. Über Einflussfaktor Nr. 1 hatte ich hier sogar schon einmal geschrieben:

Winsor McKay

Ich kenne niemanden, der ihn kennt. Das habe ich immer schade gefunden und das war ein Grund für den Blogartikel über Winsor McKay vor einiger Zeit. McKay war einer der Pioniere des Zeichentrickfilms und veröffentlichte 1921 eine Reihe von kurzen Filmen unter dem Titel Dreams of a Rarebit Fiend. Die Filme kann man alle kostenlos online schauen. Eine kurze Suche sollte euch hinführen. Der Name sagt bereits, dass der Kern aller Filmchen der Traum einer Figur ist. Das Wort Rarebit bedeutet soviel wie „überbackenes Käsebrot“. Das Prinzip lautet: Figur isst etwas, das schwer im Magen liegt, legt sich ins Bett und träumt seltsam.

Der Rahmen meiner Geschichte Double Cheese stammt vom Grundkonzept der Filme Winsor McKays. Der Ich-Erzähler isst überbackene Käsesandwiches und legt sich hin. Wem der Einstieg seltsam vorgekommen ist, weiß jetzt, wieso ich ihn wählen musste. Alle weiteren Geschehnisse der Geschichte sind geträumt.

Doch die Verweise auf McKay hören dort keineswegs auf. Es gibt einige Wesen auf dem Jahrmarkt, die man so auch in seinen Filmen findet oder finden könnte. Die große Dampfmaschine ist vom Film The Flying House inspiriert, während das Hamsterrad beziehungsweise der Messermechanismus vom zweiten großen Einfluss stammt.

Hieronymus Bosch

Hieronymus Bosch ist der Maler einiger der wildesten Höllenfantasien der Renaissance. Viele haben mindestens einmal im Leben ein Bild oder einen Ausschnitt eines Bildes von Bosch gesehen. Ich erinnere mich sogar an mehrere Memes mit Bildausschnitten. Eines der bekanntesten Bilder von Hieronymus Bosch ist das Triptychon Der Garten der Lüste. Wer das Dreierbild kennt und die Geschichte Double Cheese gelesen hat, wird einige Zusammenhänge schnell entdecken. Die Figur, die den Erzähler im Traumland begrüßt, das lustig dämliche Wortspiel mit dem Garten der Liste und der zu spät entdeckten Option … der Lüste und mehrere weitere Figuren oder Bilder im Laufe der Geschichte sind direkt von den Bildern von Hieronymus Bosch und besonders vom Garten der Lüste beeinflusst.

Warum gerade Bosch? Einerseits mag ich seine irren Bilder. Wichtiger aber noch war die Bemerkung einer Leserin, dass meine Geschichten sie unter anderem an Bosch erinnerten – ich glaube, die Bemerkung fiel im Zusammenhang mit Das Maurerdekolleté des Lebens. Es war niemals Absicht gewesen und hat niemals an bewusster Recherche gelegen, wenn früher Werke an die Kunst von Hieronymus Bosch erinnert haben, bis ich darauf hingewiesen worden bin und ich Double Cheese geschrieben habe.

Hesse

Es lag nicht in meiner Macht, mir einen kurzen Hesse-Bezug zu verkneifen. Er entwickelte sich natürlich und wollte sich nicht verneinen lassen. Grund ist das Konzept des seltsamen Traums, der Wahrheiten verspricht, die im Wachzustand vielleicht nicht aufgedeckt werden können. Wurden sie im Traum aufgedeckt? Darüber lässt sich streiten.

Die wohl wichtigste Traum- oder Tripsequenz im Werk Hermann Hesses ist die Reihe von Szenen im „magischen Theater“ in Der Steppenwolf. Harry Haller durchlebt verschiedene Träume, die ihm etwas über sich selbst und über das Leben lehren und in denen er sich zwischendurch mal anklagt oder verurteilt. … ich urteile nicht, sagt die atemlos schnell sprechende Dame, die den Erzähler zur Begrüßung ohrfeigt, und ich urteile auch nicht. Die Traumstory dreht sich nicht wirklich um das Leben des Erzählers. Dafür weiß man viel zu wenig über ihn.

Das Bild / Mathematik

Im Laufe des Jahres 2020 habe ich Der Ozean der Wahrheit von Rudy Rucker gelesen. Das Buch ist bereits einige Jahrzehnte alt und enthält einige Passagen über Computer, die zum Schmunzeln anregen. Hauptsächlich geht es aber um Mathematik, Komplexität und Unendlichkeit. Das Thema Unendlichkeit ist mir zum ersten Mal massiv begegnet bei der Lektüre der Werke von Jorge Luis Borges, dort jedoch in philosophischen und theologischen Bezügen. Rucker schreibt über die Unendlichkeit hauptsächlich im mathematischen Sinne. Im Zuge seiner Ausführungen stellt er einmal das Bild einer Wüste vor, das immer detaillierter wird, je genauer man hinschaut. Ich glaube, das geschieht im Kapitel über Fraktale.

Mich hat das damals fasziniert, auch wenn ich den mathematischen Beweisen und Herleitungen nicht zu folgen imstande war. Da Double Cheese etliche Bezüge auf die Kunst enthält, ob nun kritischer Natur oder im Sinne einer Hommage, wollte ich dieses Bild gern einbauen, es aus dem mathematischen Raum herausheben und dafür in den Kunstraum setzen. Was würde ein solches Bild auslösen? Was würde es mit dem Menschen machen und was würde aus der restlichen Kunst werden, wenn ein einziges Werk unendlich komplex wäre? In gewisser Hinsicht kann man das unendliche Bild in Double Cheese als Aleph lesen, als einen Gegenstand, der das gesamte Universum enthält (also etwas, das Teil des Universums ist, es aber dennoch enthält). Den Begriff Aleph wiederum kenne ich von Jorge Luis Borges, womit sich ein Kreis quasi schließt.

Der Name

Manche Namen für Geschichten stehen sofort fest und andere durchlaufen mehrere Entwicklungsschritte. Double Cheese hat zuallererst Triptychon, doppelt Käse geheißen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich noch angedacht, die Erzählung dreizuteilen, um mich mehr Der Garten der Lüste anzunähern und eben eine Art Triptychon zu schreiben. Das widersprach aber der sich entwickelnden Geschichte. Sie wehrte sich. Entsprechend hat es kein literarisches Triptychon gegeben. Wäre ohnehin ohne massive Dehnung des Begriffs kaum möglich gewesen mit dem bestehenden Konzept.

Danach habe ich die Erzählung schlicht Doppelt Käse genannt. Plötzlich bestand das Problem in der möglichen Auffassung der Leser*innen, dass das Werk käse sei (im Sinne von schlecht). In diesem Fall wäre es sogar doppelt käse, doppelt schlecht, gewesen. Diese Assoziation sollte frühestens nach der Lektüre kommen und am besten gar nicht. Double Cheese ist eine der komplexesten und arbeitsintensivsten Erzählungen in Erschütterungen. Dann Stille. und gefällt hoffentlich den meisten.

Es hat noch mehrere weitere Ideen gegeben, aber am Ende habe ich einfach übersetzt. Da Winsor McKay den Rahmen der Geschichte und den Käsesandwich-Anfang diktierte, habe ich mir erlaubt, einen englischen Titel zu wählen. Einen von 5 englischen Titeln sogar. Wie konnte es soweit kommen? Egal.

Der behämmerte Erzähler und sein kluger Frosch

Seien wir ehrlich, Hoppi ist dem Erzähler um Längen voraus, was Intelligenz und Selbstkontrolle angeht. Ohne Hoppi ginge der Typ unter. Gleichzeitig hat der Ich-Erzähler die meiste Zeit die Gewalt über den Frosch, an manchen Stellen wortwörtlich. Das ist, wenn ich mich mal selbst interpretieren darf, von Hoppi zwar nicht gewollt, aber durchaus akzeptiert. Der Frosch schafft es zwischendurch mit einem einzigen Blick den dicken Kunsthändler in die Schranken zu weisen und benutzt das Wort Boss als Anrede für den Ich-Erzähler eigentlich nur ironisch.

Diesmal steckt kein großes Konzept dahinter. Recht schnell packte mich die Idee, einen möglichst unsympathischen Protagonisten zu schreiben, der Wunder und Wahrheiten ungekannter Dimension sieht und einfach nicht erkennt. Er ist arrogant, unaufmerksam und hat zwischendurch schlicht nicht die geistige Kapazität, um zu begreifen, was geschieht. Dennoch darf man nicht vergessen, dass es sein Traum ist, den wir lesen. Auch Hoppi ist ein Teil dieses Traums und damit ein Teil von ihm. Vielleicht schützt der Ich-Erzähler sich selbst, indem er sich ignorant träumt. Und kennt ihr das: Ihr wacht aus einem Traum auf und fragt euch, wie ihr nur so verdammt dämlich und fies sein konntet im Traum? Manchmal wache ich mit schlechtem Gewissen auf, weil mein Traum-Ich ein Arsch gewesen ist.

Recherchequatsch

Zum Abschluss möchte ich darauf hinweisen, dass ich sowohl in meine eigene Waschmaschine geschaut habe als auch das Innere anderer Waschmaschinen gegoogelt habe, um selbstbewusst vom dreiköpfigen Stern der Rückwand der Waschmaschine schreiben zu können. Nicht alle Waschmaschinenrückwände haben eine Art Sternform eingeprägt, aber sehr viele. Es reichte aus für dieses Sprachbild. Schaut mal nach!

Das Maurerdekolleté des Lebens: Rezension

Hinweis auf eine Rezension des Werkes “Das Maurerdekolleté des Lebens” von Matthias Thurau.

Hinweis!

Der Betreiber des Reisswolfblogs hat sich die Zeit genommen, Das Maurerdekolleté des Lebens: Drei surreale Geschichten intensiv zu lesen, darüber nachzudenken und eine Rezension zu verfassen:

“Das Maurerdekolleté des Lebens” von Matthias Thurau

Für alle, die interessiert sind und es verpasst haben, hier erneut der Link zur Rezension von KeJas Wortrausch:

“Das Maurerdekolleté des Lebens” | Matthias Thurau

Das Maurerdekolleté des Lebens: Leseprobe

Leseprobe des E-Books “Das Maurerdekolleté des Lebens”.

Der Beginn von Das Maurerdekolleté des Lebens als kurze Leseprobe:

»Einen Apfel, Papiere und das Einladungsschreiben verstaute Theo sorgfältig in der Tasche. Er fühlte sich gut. Seine Kleidung war neu und sauber, die Haare gekämmt, die Fingernägel gereinigt und sein erster Job wartete auf ihn. Was genau er dort zu tun hätte, wusste er nicht. Er hatte am Telefon vor lauter Aufregung vergessen zu fragen. Immerhin hatte er eine Wegbeschreibung in der Tasche. Ordentlich zusammengefaltet. Theo hatte sie selbst angefertigt. Eine kleine Zeichnung und einige Pfeile: links, rechts, geradeaus. Sein Ziel war nicht weit entfernt, nicht schwer zu finden.

Ein kleines Problem trat jedoch auf. Er hätte an der Ampel vorm Haus die Straße überqueren müssen, doch war diese ausgeschaltet und ein unsympathischer Mann schraubte daran herum. Theo überlegte, ob er nicht einfach herübergehen sollte, ließ es aber bleiben, da ihm der Verkehr zu heftig schien. Brummend schossen kleine und große Autos vorbei. Von außen konnte man kaum erkennen, was in ihnen vorging. Er versuchte hineinzusehen, während er die nächsten Schritte plante. Sie rasten vorbei mit getönten Scheiben. Manche Fahrer trugen Sonnenbrillen. Wie ein reißender Fluss strömte der Verkehr vorbei
Unsicher fragte Theo den Bauarbeiter, wo er denn über die Straße käme. Dieser blickte ihn gar nicht erst an, zuckte mit den Schultern und deutete unbestimmt in Richtung der nächsten Kreuzung. Dennoch bedankte sich Theo brav und lief los.
Um den ursprünglichen Richtungsanweisungen noch folgen zu können, achtete er von Anfang an auf sämtliche Abweichungen und prägte sie sich ein. Ein paarmal zusätzlich abbiegen zu müssen, sollte kein großes Problem darstellen.«

Das Maurerdekolleté des Lebens ist als E-Book über Amazon und alle an das Tolino-Netzwerk angeschlossenen Plattformen (z.B. Thalia) zu haben. ISBN: 9783739490823

Blogeinträge zum Cover sowie zur Geschichte allgemein findet Ihr hier:

Das Maurerdekolleté des Lebens: Cover-Safari

Das Maurerdekolleté des Lebens: Drei surreale Geschichten

Das Maurerdekolleté des Lebens: Drei surreale Geschichten

Über “Das Maurerdekolleté des Lebens”, eine Sammlung von 3 surrealen Geschichten.

Ab sofort ist meine neueste Veröffentlichung, eine Sammlung von drei zusammenhängenden Erzählungen, unter dem Titel Das Maurerdekolleté des Lebens über Amazon (Kindle) und Tolino (ISBN: 9783739490823) zu haben. In diesem Blogeintrag möchte ich ein bisschen über die Grundidee der Geschichten herumspinnen.

Wie soll ich beginnen? Am Anfang stand eine Baustelle … oder: Alles Leben ist eine Baustelle …? Eines Tages kam ich nach Hause und fand die Straße vor meiner Wohnung aufgerissen, links und rechts waren Absperrungen, der Boden klaffte offen, aber ich konnte keine Bauarbeiter entdecken. Es war, als hätte man einen Teil der Welt für Unbefugte wie mich gesperrt und nebenbei ein wenig konstruktive Zerstörung angerichtet, deren Zweck ich nicht kannte, sofern es einen gab. Passiert das im Laufe eines Lebens nicht immer wieder? Irgendwo wird eine Entscheidung getroffen und im eigenen Leben entstehen Beschränkungen. Irgendjemand zerstört etwas (in dir), du weißt nicht warum und ab dem Zeitpunkt musst du um die Zerstörung herumexistieren.

Im Labyrinth einer Existenz, in der man selbst entscheiden darf, wohin man abbiegen möchte, aber nicht, ob man vom ursprünglichen Weg abbiegen, abweichen möchte, verlaufen sich die allermeisten, bis sie nur noch den Umleitungsschildern folgen. Viele vermeintliche Chancen sind bei genauerer Betrachtung die Wahl zwischen vorgefertigten Wegen.

Theo, der Protagonist der drei Geschichten, zieht los, um seinen neuen Job anzutreten. Die Ampel an der ersten Straße, die er zu überqueren hat, ist außer Betrieb. Er muss sich entscheiden: Rechts ausweichen? Links? Durch den rasenden Verkehr? Was kommt danach? Hier ist das nächste Problem: Wir können die Konsequenzen unserer Entscheidungen, besonders in langfristiger Hinsicht, kaum überblicken. Das Labyrinth ist immer größer als der kleine Ausschnitt, den man überblicken kann. Sofern man die Konsequenzen und Folgehandlungen nüchtern betrachten und berechnen kann, so ist dies mit den Handlungen aller anderen nicht mehr möglich. Es werden immer andere Menschen in die eigenen Pläne pfuschen. Ein Zurück gibt es nicht.

Dieses Gewirr aus Entscheidungen, Überschneidungen, Beeinflussungen, Vorgaben, Konsequenzen und Folgeentscheidungen liegt den Geschichten zugrunde. Der Titel Das Maurerdekolleté des Lebens entstammt aus der Welt der Baustellen, weist auf die Abwege hin, auf die man geraten kann, wenn man sich richtig verlaufen hat, bis man am Arsch der eigenen Welt angekommen ist, und auf die wenig schönen Aussichten, die man zwischendurch immer wieder haben kann. Gleichzeitig soll es ein Hinweis darauf sein, das Leben und die angesprochenen Probleme mit einem Zwinkern zu betrachten, und nicht alles zu ernst zu nehmen, auch sich selbst nicht. Das Leben besteht nicht aus dem Ziel des Weges, sondern aus dem Weg selbst.

Mit derart großen Themen könnte man ganze Bücherregale füllen. Jede Entscheidung für zu Entscheidungen, die zu Entscheidungen führen. Ich habe mich für drei recht kurze Erzählungen entschieden, um einen Ausschnitt zu zeigen, da das Gesamtbild unmöglich vollständig zu zeigen ist. Drei surreale Geschichten: Das Maurerdekolleté des Lebens, Das Maurerdekolleté des Todes und Das Maurerdekolleté der Gefräßigkeit, die ein Leben der Desorientierung, eines mit Ausstiegsversuch und eines ohne Rücksicht zeigen.

Aufgrund des geringen Umfangs (ca. 50 Seiten) habe ich mich für eine Veröffentlichung in Form von E-Books entschieden. Eine sehr kleine, nummerierte und signierte Auflage von Taschenbüchern wird ebenfalls hergestellt werden. Die Exemplare sind allerdings größtenteils bereits vor dem Druck vergriffen. Bei Interesse könnt ihr euch bei mir melden.

Es werden wie bei den anderen Büchern auch für Das Maurerdekolleté des Lebens weitere Beiträge im Blog folgen. Ich wünsche viel Spaß bei der Lektüre!