Erschütterungen. Dann Stille.: Double Cheese

Über die surreale Erzählung “Double Cheese” in “Erschütterungen. Dann Stille.”

Nicht immer steht am Anfang eines Schreibprojekts eine Idee für eine Geschichte. Manchmal ist da die Lust oder Notwendigkeit, irgendetwas zu schreiben, wie bei Am Fluss. Manchmal beginnt es mit einem neuen Konzept, wie im Fall von Caspars Schiffe. Die Arbeit an der Erzählung Double Cheese im Buch Erschütterungen. Dann Stille. begann mit der Suche nach Inspiration, nicht zielgeleiteter Recherche und zwei sehr verschiedenen Einflüssen, die zu kombinieren ich vorhatte. Wie immer ist die Geschichte der Geschichte nicht ohne Spoiler zu erzählen. Lest also bitte zuerst Double Cheese und dann diesen Blogeintrag!

Einflüsse

Wie erwähnt, ist die Erzählung Double Cheese von zwei grundverschiedenen Vorbildern beeinflusst, deren Wirken, sofern man sie kennt und erkennt, in der gesamten Geschichte herauszulesen ist. Ich wusste von vornherein, dass ich mindestens diese beiden Einflussfaktoren verbauen wollte und durchsuchte im einen Fall das Internet und im anderen die kleine Kunstabteilung meines Buchregals. Über Einflussfaktor Nr. 1 hatte ich hier sogar schon einmal geschrieben:

Winsor McKay

Ich kenne niemanden, der ihn kennt. Das habe ich immer schade gefunden und das war ein Grund für den Blogartikel über Winsor McKay vor einiger Zeit. McKay war einer der Pioniere des Zeichentrickfilms und veröffentlichte 1921 eine Reihe von kurzen Filmen unter dem Titel Dreams of a Rarebit Fiend. Die Filme kann man alle kostenlos online schauen. Eine kurze Suche sollte euch hinführen. Der Name sagt bereits, dass der Kern aller Filmchen der Traum einer Figur ist. Das Wort Rarebit bedeutet soviel wie „überbackenes Käsebrot“. Das Prinzip lautet: Figur isst etwas, das schwer im Magen liegt, legt sich ins Bett und träumt seltsam.

Der Rahmen meiner Geschichte Double Cheese stammt vom Grundkonzept der Filme Winsor McKays. Der Ich-Erzähler isst überbackene Käsesandwiches und legt sich hin. Wem der Einstieg seltsam vorgekommen ist, weiß jetzt, wieso ich ihn wählen musste. Alle weiteren Geschehnisse der Geschichte sind geträumt.

Doch die Verweise auf McKay hören dort keineswegs auf. Es gibt einige Wesen auf dem Jahrmarkt, die man so auch in seinen Filmen findet oder finden könnte. Die große Dampfmaschine ist vom Film The Flying House inspiriert, während das Hamsterrad beziehungsweise der Messermechanismus vom zweiten großen Einfluss stammt.

Hieronymus Bosch

Hieronymus Bosch ist der Maler einiger der wildesten Höllenfantasien der Renaissance. Viele haben mindestens einmal im Leben ein Bild oder einen Ausschnitt eines Bildes von Bosch gesehen. Ich erinnere mich sogar an mehrere Memes mit Bildausschnitten. Eines der bekanntesten Bilder von Hieronymus Bosch ist das Triptychon Der Garten der Lüste. Wer das Dreierbild kennt und die Geschichte Double Cheese gelesen hat, wird einige Zusammenhänge schnell entdecken. Die Figur, die den Erzähler im Traumland begrüßt, das lustig dämliche Wortspiel mit dem Garten der Liste und der zu spät entdeckten Option … der Lüste und mehrere weitere Figuren oder Bilder im Laufe der Geschichte sind direkt von den Bildern von Hieronymus Bosch und besonders vom Garten der Lüste beeinflusst.

Warum gerade Bosch? Einerseits mag ich seine irren Bilder. Wichtiger aber noch war die Bemerkung einer Leserin, dass meine Geschichten sie unter anderem an Bosch erinnerten – ich glaube, die Bemerkung fiel im Zusammenhang mit Das Maurerdekolleté des Lebens. Es war niemals Absicht gewesen und hat niemals an bewusster Recherche gelegen, wenn früher Werke an die Kunst von Hieronymus Bosch erinnert haben, bis ich darauf hingewiesen worden bin und ich Double Cheese geschrieben habe.

Hesse

Es lag nicht in meiner Macht, mir einen kurzen Hesse-Bezug zu verkneifen. Er entwickelte sich natürlich und wollte sich nicht verneinen lassen. Grund ist das Konzept des seltsamen Traums, der Wahrheiten verspricht, die im Wachzustand vielleicht nicht aufgedeckt werden können. Wurden sie im Traum aufgedeckt? Darüber lässt sich streiten.

Die wohl wichtigste Traum- oder Tripsequenz im Werk Hermann Hesses ist die Reihe von Szenen im „magischen Theater“ in Der Steppenwolf. Harry Haller durchlebt verschiedene Träume, die ihm etwas über sich selbst und über das Leben lehren und in denen er sich zwischendurch mal anklagt oder verurteilt. … ich urteile nicht, sagt die atemlos schnell sprechende Dame, die den Erzähler zur Begrüßung ohrfeigt, und ich urteile auch nicht. Die Traumstory dreht sich nicht wirklich um das Leben des Erzählers. Dafür weiß man viel zu wenig über ihn.

Das Bild / Mathematik

Im Laufe des Jahres 2020 habe ich Der Ozean der Wahrheit von Rudy Rucker gelesen. Das Buch ist bereits einige Jahrzehnte alt und enthält einige Passagen über Computer, die zum Schmunzeln anregen. Hauptsächlich geht es aber um Mathematik, Komplexität und Unendlichkeit. Das Thema Unendlichkeit ist mir zum ersten Mal massiv begegnet bei der Lektüre der Werke von Jorge Luis Borges, dort jedoch in philosophischen und theologischen Bezügen. Rucker schreibt über die Unendlichkeit hauptsächlich im mathematischen Sinne. Im Zuge seiner Ausführungen stellt er einmal das Bild einer Wüste vor, das immer detaillierter wird, je genauer man hinschaut. Ich glaube, das geschieht im Kapitel über Fraktale.

Mich hat das damals fasziniert, auch wenn ich den mathematischen Beweisen und Herleitungen nicht zu folgen imstande war. Da Double Cheese etliche Bezüge auf die Kunst enthält, ob nun kritischer Natur oder im Sinne einer Hommage, wollte ich dieses Bild gern einbauen, es aus dem mathematischen Raum herausheben und dafür in den Kunstraum setzen. Was würde ein solches Bild auslösen? Was würde es mit dem Menschen machen und was würde aus der restlichen Kunst werden, wenn ein einziges Werk unendlich komplex wäre? In gewisser Hinsicht kann man das unendliche Bild in Double Cheese als Aleph lesen, als einen Gegenstand, der das gesamte Universum enthält (also etwas, das Teil des Universums ist, es aber dennoch enthält). Den Begriff Aleph wiederum kenne ich von Jorge Luis Borges, womit sich ein Kreis quasi schließt.

Der Name

Manche Namen für Geschichten stehen sofort fest und andere durchlaufen mehrere Entwicklungsschritte. Double Cheese hat zuallererst Triptychon, doppelt Käse geheißen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich noch angedacht, die Erzählung dreizuteilen, um mich mehr Der Garten der Lüste anzunähern und eben eine Art Triptychon zu schreiben. Das widersprach aber der sich entwickelnden Geschichte. Sie wehrte sich. Entsprechend hat es kein literarisches Triptychon gegeben. Wäre ohnehin ohne massive Dehnung des Begriffs kaum möglich gewesen mit dem bestehenden Konzept.

Danach habe ich die Erzählung schlicht Doppelt Käse genannt. Plötzlich bestand das Problem in der möglichen Auffassung der Leser*innen, dass das Werk käse sei (im Sinne von schlecht). In diesem Fall wäre es sogar doppelt käse, doppelt schlecht, gewesen. Diese Assoziation sollte frühestens nach der Lektüre kommen und am besten gar nicht. Double Cheese ist eine der komplexesten und arbeitsintensivsten Erzählungen in Erschütterungen. Dann Stille. und gefällt hoffentlich den meisten.

Es hat noch mehrere weitere Ideen gegeben, aber am Ende habe ich einfach übersetzt. Da Winsor McKay den Rahmen der Geschichte und den Käsesandwich-Anfang diktierte, habe ich mir erlaubt, einen englischen Titel zu wählen. Einen von 5 englischen Titeln sogar. Wie konnte es soweit kommen? Egal.

Der behämmerte Erzähler und sein kluger Frosch

Seien wir ehrlich, Hoppi ist dem Erzähler um Längen voraus, was Intelligenz und Selbstkontrolle angeht. Ohne Hoppi ginge der Typ unter. Gleichzeitig hat der Ich-Erzähler die meiste Zeit die Gewalt über den Frosch, an manchen Stellen wortwörtlich. Das ist, wenn ich mich mal selbst interpretieren darf, von Hoppi zwar nicht gewollt, aber durchaus akzeptiert. Der Frosch schafft es zwischendurch mit einem einzigen Blick den dicken Kunsthändler in die Schranken zu weisen und benutzt das Wort Boss als Anrede für den Ich-Erzähler eigentlich nur ironisch.

Diesmal steckt kein großes Konzept dahinter. Recht schnell packte mich die Idee, einen möglichst unsympathischen Protagonisten zu schreiben, der Wunder und Wahrheiten ungekannter Dimension sieht und einfach nicht erkennt. Er ist arrogant, unaufmerksam und hat zwischendurch schlicht nicht die geistige Kapazität, um zu begreifen, was geschieht. Dennoch darf man nicht vergessen, dass es sein Traum ist, den wir lesen. Auch Hoppi ist ein Teil dieses Traums und damit ein Teil von ihm. Vielleicht schützt der Ich-Erzähler sich selbst, indem er sich ignorant träumt. Und kennt ihr das: Ihr wacht aus einem Traum auf und fragt euch, wie ihr nur so verdammt dämlich und fies sein konntet im Traum? Manchmal wache ich mit schlechtem Gewissen auf, weil mein Traum-Ich ein Arsch gewesen ist.

Recherchequatsch

Zum Abschluss möchte ich darauf hinweisen, dass ich sowohl in meine eigene Waschmaschine geschaut habe als auch das Innere anderer Waschmaschinen gegoogelt habe, um selbstbewusst vom dreiköpfigen Stern der Rückwand der Waschmaschine schreiben zu können. Nicht alle Waschmaschinenrückwände haben eine Art Sternform eingeprägt, aber sehr viele. Es reichte aus für dieses Sprachbild. Schaut mal nach!

Erschütterungen. Dann Stille.: Der Tod in Porto II

Über “Der Tod in Porto II: Abschied” aus “Erschütterungen. Dann Stille.”

Der Tod in Porto II: Abschied in Erschütterungen. Dann Stille. hat, wie bereits im entsprechenden Blogeintrag erwähnt, inhaltlich nicht viel mit Der Tod in Porto I: Die Springer zu tun. Es handelt sich nicht um einen zweiten Teil, sondern um eine separate Geschichte, die den ungefähren Schauplatz und das Thema Tod teilen. Im Folgenden werden Spoiler nicht zu vermeiden sein. Ye Be Warned!

Content Notes: Tod, Trauer, Drogen

Dank

Die Veröffentlichung der Erzählung Der Tod in Porto II: Abschied wäre nicht möglich gewesen, wenn ich nicht die Abdruckgenehmigung vom Suhrkamp Verlag erhalten hätte, die wiederum zum Teil durch die Sammlung auf meiner Ko-Fi-Seite bezahlt worden ist. Dem Verlag und noch mehr allen, die gespendet haben, um meine literarische Idee zu verwirklichen, sei an dieser Stelle mein herzlichster Dank ausgesprochen.

Hermann f**king Hesse

Auch wenn Hesse nicht am Anfang der Entstehung von Der Tod in Porto II: Abschied gestanden hat, waren seine Werke für meine literarische (und vielleicht auch persönliche) Entwicklung wichtig. Im Demian, im Steppenwolf und in Siddhartha konnte ich mich selbst wiederentdecken. Noch bevor ich Das Glasperlenspiel gelesen hatte, kannte ich einige der Gedichte im Anhang des Romans, die angeblich vom Protagonisten zurückgelassen worden sind. Eines der (zu Recht) bekanntesten (aus dem Werk und von Hesse allgemein) ist das Gedicht Stufen. Dieses Gedicht ist in Der Tod in Porto II: Abschied gelandet, weil es hineinpasst und weil ich einem Schriftsteller, der in einer wichtigen Phase meines Lebens als papiernen Freund für mich da war, eine Widmung schenken wollte (auch wenn ich ihn heute mit anderen Augen sehe).

Robinson Crusoe

Die wohl wichtigste Vertreterin (und Namensgeberin) der Gattung Robinsonade ist die Geschichte Robinson Crusoe von Daniel Defoe. Als mir noch in der Ideenphase von Der Tod in Porto II: Abschied klar wurde, dass die Erzählung neben einer Andeutung von Endzeit-Drama auch einen nicht geringen Drall in Richtung Robinsonade aufweisen würde, habe ich diesen Aspekt mit einem inneren Grinsen etwas in der Namensgebung hervorgehoben. Nicht umsonst heißt der Protagonist Robin und seine vermisste Geliebte Frida. Woher Robin seinen Namen hat, ist wohl offensichtlich. Frida wiederum habe ich nach Robinson Crusoes treuen Begleiter Friday benannt, auch wenn Frida eine ganz andere Rolle hat und Friday nicht unproblematisch ist als Figur (oder es ist der Autor, der nicht unproblematisch ist, weil er diese Figur geschaffen hat). Frida jedenfalls ist die Frau, die fehlt, die bitter vermisst wird.

Traumfiguren

Während meines Urlaubs in Porto, den ich im Blogeintrag zu Der Tod in Porto I: Die Springer etwas umrissen habe, besuchte ich einige Museen. Alle Figuren, die in Robins Traum und in seinem Drogentrip auftauchen, sind reale Skulpturen, die mich beim Museumsbesuch fasziniert hatten. Die Figuren stammen alle vom portugiesischen Bildhauer Soares Dos Reis, der kurz in der Geschichte erwähnt wird.

Am faszinierendsten fand ich die Skulpturen Das Exil (O Desterrado, 1872), jene der Tochter des Condes de Almedina (Filha dos Condes de Almedina, 1882) von Dos Reis sowie die kindliche Version des Kain von Teixeira Lopes, der wiederum eine passable Anknüpfung an Hesse und seinen Demian versprach.

Die ohnehin vorhandene Vermischung verschiedener Werke verschiedener Künstler in der Geschichte rundete sich für mich durch die Verwendung dieser Skulpturen ab, die zwar den wenigsten Leser*innen bekannt sein werden, aber problemlos ergoogelt werden können. Auf diese Weise kann ich Schönes verbreiten.

Von all dem abgesehen, passte es für mich zusammen, dass ein Typ wie Robin auch durch die Museen gezogen wäre und starke Eindrücke mitgenommen hätte, wie er ja auch das Gedicht, das Frida ihm vorlesen hat, im Drogenrausch unterbewusst aufgreift und es endlich versteht, endlich auf eine Weise versteht, die ihm wirklich hilft.

Echte Elemente

Neben den Skulpturen von Soares Dos Reis enthält Der Tod in Porto II: Abschied noch weitere reale Elemente. Den Schauplatz, das heißt die Ruine der Villa am Hang zum Douro, gibt es wirklich. Auch die stillgelegte Eisenbahnbrücke Maria Pia ist genau dort angesiedelt. Sie wurde von Gustave Eiffel, ja, dem Typen vom Eiffelturm, entworfen, weswegen ich in frühen Versionen etliche Anspielungen darauf verbaut hatte, die ich jedoch zu großen Teilen in der Überarbeitung gestrichen habe.

Ebenfalls real existent sind die blauen Blumen am Hang gegenüber der Villa, was nicht nur optisch schön ist, sondern wegen der Bedeutung der blauen Blume in der Romantik (~ Sehnsucht) auch noch literarisch extrem praktisch ist. Steht man an der Straße unter dem Hang mit den Blumen, kann man (oder konnte man damals, vielleicht jetzt nicht mehr) das Graffiti mit der roten Katze sehen. Es ist nicht besonders gelungen, aber erschien mir wie Robin in der Erzählung sinnlos und daher interessant. Das Bild ist einfach da und sagt den allermeisten (vielleicht sogar allen) absolut gar nichts und dennoch hat jemand Zeit und Geld dafür investiert und riskiert, bestraft zu werden. Spannend, oder?

Drugs Are Bad, But Are They Really?

Unkontrollierter Drogenkonsum ist gefährlich und meistens schädlich. Keine Diskussion hier. Aber hätten Drogen keine Vorteile, gäbe es keine Medizin. Psychedelische Drogen sind meist körperlich harmlos und selten tödlich (selbst bei massiver Überdosierung). Dafür hegen sie andere Gefahren, beispielsweise Psychosen oder vermeidbare Unfälle. Robin rudert völlig high auf dem Douro herum. Er hätte gut und gerne draufgehen können. Von mir und Freund*innen kenne ich ähnliche Geschichten.

Was psychedelische Drogen allerdings auch tun und was ihre Hauptwirkung ist, ist das Unterbewusstsein zu öffnen beziehungsweise die Trennung zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein zu lockern. Es ist ein bisschen so, als würde man träumen, während man wach ist. Neben vielen lustigen und schrecklichen Dingen, die passieren können, ist ein möglicher Effekt mancher dieser Drogen, dass man das eigene Dasein völlig neu betrachtet oder dass man Traumata neu durchlebt und plötzlich verarbeiten kann. Solche Effekte sind seltene Geschenke, und ein solches Geschenk erhält Robin.

Dass man sich Hilfe suchen sollte, bevor man alleine Pilze schmeißt, um psychische Probleme zu lösen, ist hoffentlich klar. Ich möchte keinesfalls zum Drogenkonsum aufrufen, auch wenn und weil ich selbst meine Erfahrungen gemacht habe und dem Thema eher liberal gegenüberstehe. Gesunde Entscheidungen sind hier ausschlaggebend. Da ich mein Zielpublikum nicht unbedingt bei Teenagern und schon gar nicht bei Kindern sehe, unterstelle ich genug geistige Reife, um diese Dinge zu verstehen.

So. Natürlich ist auch das Drogen-Element nicht fern von Hermann Hesse. Man denke nur an das magische Theater am Ende von Der Steppenwolf. Er durchzieht Der Tod in Porto II: Abschied geradezu.

Trauer

Bisher bin ich in meinem Leben weitestgehend von Todesfällen im näheren Umfeld verschont geblieben. Es hat einen Suizid gegeben vor etlichen Jahren, Verwandte sind gestorben, Bekannte auch. Aber nie hat das Schicksal nah genug eingeschlagen, um mich lange zu verletzen. Allerdings kenne ich Menschen, die mir nahestehen, die trauerten und in manchen Fällen nie aufgehört haben. Vielleicht drückt meine Geschichte im Kern aus, dass ich hoffe, dass es besser werden wird, oder dass ich von manchen weiß, dass es besser wird, irgendwann.

Gerade während der Pandemie habe ich viel über den Tod nachgedacht, häufig Angst gehabt und sehr sehr viel gehofft.

Ende

Fürs Buchensemble habe ich einen Artikel verfasst über die Beeinflussung vom Schreibprozess von Autor*innen durch die Werke anderer und bin unter anderem auf Hommagen in der Literatur eingegangen: Lesen und gelesen werden – Was macht das mit uns? Das Thema habe ich im Blogartikel Inspiration und Hommagen fortgeführt. Wie stehen meine Leser*innen zu dem Thema? Fällt euch so etwas auf? Verwendet Ihr es selbst, sofern Ihr schreibt? Mögt Ihr derartige Details oder stören sie euch eher?

Inspiration und Hommagen

Über einen Themenartikel beim Buchensemble, Inspirationsquellen und Hommagen in Büchern.

Gestern ist der erste von mir verfasste Themenartikel beim Buchensemble veröffentlicht worden. Den Link findet ihr hier:

Lesen und Gelesen werden: Was macht das mit uns?

Hier möchte ich sowohl auf das Verfassen des Artikels eingehen als auch auf die dort besprochenen Aspekte (Inspiration/Beeinflussung durch die Lektüre von Büchern anderer Autor*innen, Hommagen in Büchern, Schreibblockaden) im Bezug auf mein eigenes Werk.

Wie funktionieren Themenartikel beim Buchensemble?

Vielleicht habt ihr euch beim Lesen dieses oder anderer Themenartikel beim Buchensemble gefragt, wie wir dabei vorgehen. Im Grunde ist es sehr simpel. Alle Rezensent*innen beantworten eine Reihe von Fragen. Übernimmt jemand von uns dann die Arbeit, einen Artikel zu verfassen, bekommt er/sie die Antworten zugesandt. Der Themenartikel selbst ist frei und unsere eigene Arbeit, aber natürlich bauen wir möglichst viele Antworten ein, geben also noch andere Meinungen als nur unsere eigene wider. Dieses System gefällt mir. Zwar kann man theoretisch manipulieren und nur Antworten verwenden, die gut in den Text passen, aber so sind wir alle nicht drauf. Zwangsläufig stehen diese Artikel auf einem breiteren Fundament, da für das Thema bereits bis zu 8 (bzw. bis zu 7 andere) Meinungen gegeben sind.

Hommagen: Sorck

Im Roman Sorck habe ich etliche Verweise zu anderen Werken eingebaut. Neben Kunst und anderen kulturellen Aspekten ganz besonders zu literarischen Werken. Auch hier werde ich nicht alle Verweise offenbaren. Es sollte reichen, zu erwähnen, dass ich in der Grundidee von Albert Camus beeinflusst worden bin sowie von Hermann Burger und Franz Kafka. Hinweise auf Hermann Hesse findet man überall in Sorck und zu Hermann Burger an einer Stelle ebenfalls.

Worüber ich nie geschrieben habe, obwohl es doch so wichtig ist, ist Folgendes: Als ich Sorck zu schreiben begann, wollte ich unbedingt wie Hermann Burger schreiben (können). In diesen Monaten war er für mich die Krone anspruchsvoller Literatur. Obwohl ich das heute ganz anders sehe, mag ich seine Werke noch immer sehr. Ein Aspekt, der Sorck zu dem Roman macht, der er ist, ist seine Sprache. Ich schmeiße mit Fremdwörtern, seltenen Begriffen und Neologismen um mich, als gäbe es kein Morgen. Damit erreiche ich einen völlig anderen Effekt als Burger, der erheblich besser weiß, was er tut. Humor und Eigenartigkeit werden immerhin getragen von dieser wirren Erzählstimme, auf die ich noch immer stolz bin.

In der Vorbereitung habe ich mich einigen von Burger in seiner Poetik-Vorlesung Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben, die passenderweise in Anlehnung an Kleists Aufsatz Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden betitelt worden ist, Techniken bedient: seitenlange Wörterlisten beispielsweise. Ich habe (Fremd)Wörterbücher durchgearbeitet und eine Wörterbuch-App auf Zufall gestellt, um neue Wörter zu entdecken, die ich verwenden konnte. Die Arbeit war erschlagend (und ich würde sie wohl nie wieder auf mich nehmen), aber die Idee war inspiriert von Hermann Burger.

Hommagen: Alte Milch

Im Gedichtband Alte Milch habe ich ebenfalls eine kleine (kaum versteckte) Hommage eingebaut und zwar an Jorge Luis Borges. Im Gedicht J.L.B. (~ Jorge Luis Borges) geht es um Borges’ Liebe zu Büchern, die man in all seinen Werken sowie in seiner Arbeit als Leiter der argentinischen Nationalbibliothek (als er bereits erblindet war) gut erkennen kann, am besten aber an den autobiographischen Texten und Vorträgen. Die Liebe zur Literatur ist ein Hauptaspekt von Borges’ Gesamtwerk. Ihn in mein Werk zu integrieren, nachdem er mich so lange so sehr inspiriert hat, empfand ich als Notwendigkeit. Eine bitter nötige Verneigung vor diesem großartigen Autor. Vielleicht ist es Umberto Eco auch so ergangen, als er Der Name der Rose schrieb (wie im Artikel LINK erwähnt).

Hommagen: Das Maurerdekolleté des Lebens?

In Das Maurerdekolleté des Lebens sind, wenn mir gerade nicht die eigene Arbeit entfällt, keine bewussten Hommagen eingebaut. Dafür kann aber die Inspiration durch Kafka und andere surreale sowie magisch-realistische Werke unmöglich abgestritten werden. Seit Jahren lese ich gerne entsprechende Bücher. Für mich gehören immer auch Ebenen zur erlebten Welt als nur die beobachtbare (Der Traum ist Teil der Realität).

Die Stimme in meinem Kopf

Ein Unterthema im Artikel beim Buchensemble war die (ungewollte) Beeinflussung durch andere Werke, während man diese liest. Ändert sich der eigene Schreibstil, während man ein (gutes) Buch liest? Offenbar nicht bei allen Autor*innen. Bei mir allerdings umso mehr. Lese ich intensiv ein gutes oder bloß interessantes Buch, übernehme ich schnell Rhythmus, Wortwahl, Tempo und andere Aspekte des Buches, und dies gilt nicht nur für Geschriebenes, sondern auch für meine Gedankenstimme.

Ich habe gelesen, dass nicht jede*r tatsächlich eine Stimme im Kopf hat, die die Gedanken ausformuliert, aber ich habe definitiv eine. Diese Stimme spricht nicht bloß mit oder stottert, sondern erzählt in zusammenhängenden Sätzen, manchmal in abgestimmten Zeilen oder Wortfetzen, wenn eine entsprechende Lektüre kurz zuvor rezipiert worden ist. Gelesenes ändert mich im Tiefsten. Damit zeigt sich nicht nur, dass mein Schreibstil beeinflusst ist von fremden Werken (stark, wenn das Lesen noch nicht lange zurückliegt, weniger stark, ist es länger her), sondern auch dass wenigstens manche Menschen definitiv charakterlich durch Kunst beeinflusst werden können. Toleriert also nicht alles, nur weil es sich Kunst nennt!

Am Ende

… zählt, was man daraus macht. Ich weiß um meine Beeinflussbarkeit durch fremde Werke und bin entsprechend vorsichtig in Schreibphasen, ob und was ich lese. Die Begeisterung für die Bücher anderer zähle ich zu meinen Stärken und werde sie nicht unterdrücken. Warum auch? Möchte ich ein Denkmal in ein Werk einbauen, so werde ich das weiterhin tun.

Übrigens wird das in der nächsten Veröffentlichung wieder geschehen.

Darf man sich verstehen?

Über die Gründe zu schreiben und die Suche nach Selbsterkenntnis.

Die komplette Fragen müsste lauten: Darf man sich als Autor*in verstehen, um weiterhin schreiben zu können? Oder: Hemmt ein (weitestgehend) vollständiges Selbst-Verständnis den Schreibdrang und den kreativen Umgang mit dem eigenen Leben?

Wenn ich mich recht entsinne, hat Hermann Hesse die Psyche einmal mit einem Baum verglichen. Wenn man es schaffen sollte, jeden noch so kleinen Ast literarisch zu erfassen, könnte man sich selbst begreifen und würde zu einer Art Erleuchtung oder Erlösung gelangen. Das scheint mir ein interessanter Antrieb zu sein, aber utopisch, nicht erreichbar und falls doch erreichbar, dann zwingend jede Schreibtätigkeit beendend. Es wäre ein Endpunkt, die Vollendung eines Lebenswerks. Vermutlich war es Hesse bewusst, aber er träumte dennoch von einer Leichtigkeit, die er erlangen könnte, wenn er allen Ballast abgelegt haben könnte. Eine schöne Vorstellung: Endlich man selbst sein ohne Kompromisse, Erleuchtung in gewisser Weise.

Hermann Burger argumentierte, dass man beim Schreibprozess den inneren Germanisten (und Psychiater) stumm schalten müsse, weil man nicht verstehen dürfe, was man wirklich meint. Würde man vor Vollendung des Werkes verstünde, warum man es schreibt, verlöre man den Grund, es zu schreiben. Der Sinn des Schreibens wäre verloren. Damit ging es ihm also um die Verarbeitung bestehender persönlicher Probleme durch Literatur, ohne Rücksicht auf Entblößung oder tatsächliche Heilung.

Einen Schritt weiter ging Adolf Muschg in der Poetik-Vorlesung Literatur als Therapie?, in der er die These aufstellte, dass Autor*innen sich grundsätzlich einer vollständigen Therapie verweigerten, obwohl sie eigentlich nach einer Lösung ihrer eigenen Probleme suchten. Die Auflösung dieser Probleme würde dem Schreiben im Wege stehen, das einen eigenen Wert hätte, der noch über dem eigenen Glück stünde. Schreibende bekommen ihre Aufmerksamkeit und ihre Belohnungen, das heißt also ihren Liebes- oder Glücksersatz, durch die Literatur und durch Erfolge (Buchverkäufe, Rückmeldungen, Fertigstellen von Werken usw.), und verweigerten sich daher dem echten Glück. Da die Probleme eines Menschen Symptom der gesellschaftlichen Probleme seien, werden nach dieser These Autor*innen zu Anzeigern größerer Missstände.

Diese Denkansätze deuten bereits auf einen sehr reflektierten Umgang mit der eigenen Tätigkeit hin und werden vermutlich nicht von allen Schreibenden unterzeichnet werden, aber das bedeutet nicht, dass sie nicht der Wahrheit entsprechen könnten, und zwar einer Wahrheit, die den meisten nicht bewusst wäre. Dass die Aussagen wirklich auf alle Schreibenden zutreffen, möchte ich nicht behaupten, aber sie faszinieren mich.

Eine Autorin, die ihre Werke selten beendet und niemals veröffentlicht, erzählte mir einmal, dass ihre Geschichten keineswegs eine Verarbeitung ihrer eigenen Probleme seien, sondern das Gegenteil davon, nämlich eine Flucht vor der Realität in eine andere, bessere, strukturiertere und sinnvollere Welt. Den Vorwurf der Realitätsflucht kennt man auf Leser*innen bezogen, aber auf Schreibende weniger. Dieser Ansatz würde der Theorie der Therapie-Verweigerung nicht widersprechen, da Autor*innen wie die erwähnte ebenfalls keine Hilfe suchen oder direkte Reflexion anstreben, sondern im Umweg über die Literatur einen Ersatz anstreben.

Die vorangestellte Frage kann nur als Denkansatz verstanden werden, da ich es für unmöglich halte, sich selbst vollständig zu durchschauen. Dafür sind wir zu nah an uns dran. Ein Teil des Systems kann niemals das gesamte System überblicken. Der Abstand fehlt. Vielleicht geht es also mehr um einen Frieden, den man mit sich und den eigenen Schwierigkeiten schließt. Kann man Ausgeglichenheit und inneren Frieden mit der Erschaffung von Literatur (oder Kunst generell) zusammenbringen? Ich denke nicht. Mit innerem Frieden fehlt auch die Auflehnung gegen die Welt, wie sie ist. Viele werden argumentieren, dass es in ihren Werken nicht um sie selbst, sondern um Ungerechtigkeit geht, um eine Alternative zur bestehenden Welt oder einfach um Spaß am Schreiben. Doch ich würde sagen, dass ein Streben nach Gerechtigkeit auf die eigene Persönlichkeitsstruktur hinweist und auf Unzufriedenheit mit der Umwelt, dass Alternativen zum Bestehenden nur notwendig erscheinen, wenn man mit dem Bestehenden nicht einverstanden ist, und dass Freude am Schreiben nichts vom zuvor gesagten widerspricht, sondern höchstens Gefühle einem tieferen Bedürfnis vorschiebt. Auch in Romance, Fantasy und anderen Genres, die manchem weniger bedeutsam erscheinen mögen oder die nicht zum Gesagten zu passen scheinen, eine klare Struktur vorherrscht, ein idealisiertes Leben dargestellt wird oder ein Happy End vorkommt, das man im eigenen Leben oder in der Welt um sich herum nicht findet. Gut gegen Böse ist eine Simplifizierung, die mehr Sinn ergibt als das Leben, dem wir alltäglich ausgesetzt sind. Die Zerstörung des Bösen am Ende ist ein Traum, der in der Realität nicht umgesetzt werden kann, da es leider nicht so simpel ist. Damit wird jede Literatur zu einem Ausdruck von Unzufriedenheit und mag sie noch so unbewusst, erträglich oder gering sein oder erscheinen.

Man muss natürlich auch hier wieder darauf hinweisen, dass Literatur fiktiv ist und Autor*innen niemals direkt über sich selbst schreiben. Das sollte klar sein, ist es aber leider nicht für jede*n. Diese Verschiebung ins Fiktive macht Literatur einerseits ansprechend und wirksam und verhindert andererseits die reelle Auflösung der zugrunde liegenden Konflikte im Schreibenden. Indem wir die Erschaffung unserer Werke der Lösung unserer Probleme vorziehen, geben wir ein Stück weit unser Glück auf, während wir gleichzeitig anderen die Möglichkeit geben, sich wiederzuerkennen im Geschriebenen und damit Schwierigkeiten zu identifizieren und idealerweise anzugehen, oder sich für eine Weile aus der problembehafteten Realität zu flüchten, was ebenfalls eine Lebenshilfe darstellen kann, sofern es nicht ein dauerhafter Abwehrmechanismus wird.

Ich bin der Meinung, dass es für jede*n wichtig und richtig ist, sich selbst zu reflektieren, um ein möglichst (subjektiv) gutes Leben führen zu können, für Autor*innen aber auch entscheidend zur Erschaffung neuer Werke ist. Mit großem Abstand lassen wir dabei die Welt an unserer Entwicklung teilhaben, ohne uns vollends zu verraten. Wir bleiben privat in der Öffentlichkeit, damit andere durch Veröffentlichungen Privates verbessern können. Das ist der Wert, die Gefahr und die Bedeutung von Literatur in meinen Augen.