Die ständige Suche nach dem Warum

Über Selbstsuche und Literatur.

Auf diesem Blog geht es häufig um mögliche Begründungen: Warum ich gewisse Musik oder Literatur mag, warum ich überhaupt schreibe, warum irgendwer schreibt, warum ich dieses und jenes in Texten verwendet habe und nun, warum ich alles zu begründen versuche. Die Antwort könnte sein, dass ich mich selbst suche. Das klingt jetzt esoterisch und etwas kitschig, aber ist nichtsdestotrotz vermutlich korrekt.

Wer sein Leben verbessern will, muss zunächst verstehen, wie das eigene Leben aussieht und warum man die Entscheidungen trifft, die es leiten. Mit Verbesserung meine ich keine Optimierung im Sinne von Zeitoptimierung, Selbst- oder Arbeitsoptimierung, also mehr, besser, schneller Dinge zu erledigen, sondern hauptsächlich die Erreichung und Verstärkung von Zufriedenheit und Entscheidungsfreiheit. Verstehe ich nicht, warum ich mich für oder gegen Dinge entscheide, habe ich auch keine richtige Freiheit in den Entscheidungen, und verstehe ich nicht, was mich zufrieden oder unzufrieden macht, kann gefundene Zufriedenheit immer nur zufällig und für kurze Zeit gegeben sein. Indem ich also beispielsweise begründe, weshalb mir Slipknot und aggressive Musik dermaßen zusagt oder zu ergründen suche, warum Menschen schreiben, ist es meine Absicht, durch Erkenntnis größere Kontrolle über mein Leben ausüben zu können. Das ist jedenfalls meine aktuelle Vermutung. Das könnte außerdem der Grund dafür sein, dass Kontrolle und Kontrollverlust sich als Komplex zum Grundthema meiner Werke entwickelt hat. Mir reicht es nicht, zu wissen, dass ich etwas mag oder tue, sondern brauche einen Grund dafür, wie ich generell einen Sinn in allem bis hin zum Leben an sich brauche. Literatur wurde von mir für mich als Lebenssinnersatz auserkoren und auch dafür muss es Gründe geben.

Vielleicht umgehe ich den Kern des Problems, wenn ich dessen Symptome untersuche und begründe, anstatt tiefer zu gehen. Allerdings nähere ich mich der Grundproblematik und erhasche immer wieder Blicke darauf, wenn ich dieses und jenes aus der Peripherie untersuche. Dass ich beispielsweise überzeugt bin, dass Autor*innen grundsätzlich aus einer Unzufriedenheit heraus schreiben und abstrakt persönliche Probleme verarbeiten oder umgehen, zeigt mir mindestens, dass es in meinem Fall so ist. Wir schreiben nicht über uns, sondern überdecken uns wieder und wieder, bis etwas ganz anderes herauskommt. Das ist Teil des Problems und gleichzeitig die Schönheit der Tätigkeit.

Seit Jahrzehnten ist es im Literaturbetrieb üblich, dass Autor*innen gefragt werden, warum sie schreiben, und noch länger haben sie es sich selbst gefragt. Vermutlich ist die Antwort: Wir wissen es nicht, sonst würden wir nicht schreiben. Es ist denkbar, dass die Frage von Außenstehenden gestellt wird, weil sie sich selbst im Werk wiederfinden und nun selbst ein Warum dafür und für ihr Leben suchen. Meines Wissens nach wurde die Frage niemals vollständig oder wahrheitsgemäß beantwortet, hat aber viele interessante Wahrheiten zutage gefördert. Offenbar haben Autor*innen einen Hang zur Beichte. Sie wollen ihr Leben an die Öffentlichkeit tragen, aber verstecken sich entweder hinter ihrem Werk oder wissen schlichtweg nicht, welcher Teil ihres Lebens denn so sehr offenbart werden will oder warum er das will. Das soll keineswegs bedeuten, dass wir etwas zu verbergen hätten und Absolution suchten. Ich glaube eher, dass wir Entlastung suchen, indem wir unsere Seele in die Werke verlagern und diese dann an andere weitergeben. Dass wir gleichzeitig stolz auf die Leistung sind und von außen belohnt und gelobt werden, verstärkt die Tendenz nur noch. Auch diese Überlegungen helfen mir, mich selbst zu finden, und vielleicht liege ich für andere Autor*innen völlig falsch damit. Das muss jede*r für sich entscheiden.

Das Warum, das wir niemals vollends erfassen, ist entscheidend. Manchmal glaube ich, ganz nah dran zu sein, aber erreichen kann ich es nie. Klügere Menschen als ich haben sich daran versucht und sich spätestens an sich und dem eigenen Stolz gescheitert. Manche versuchten es mit brutalster Ehrlichkeit, indem sie die Grenze zwischen Erzähler und Autor*in aufzulösen, was natürlich niemals ganz gelang. Plötzlich stand die Kunst dazwischen oder die Sprache oder einfach die Unfähigkeit, mit Sprache das auszudrücken, was wirklich in uns vorgeht. Auch eine Autobiographie ist im besten Fall eine Mischung aus Handlungen und Erklärungsversuchen, wobei die Handlungen längst durch Sprache, verstellte Erinnerungen und Stolz gefiltert worden sind, und die Erklärungen stets im Nachhinein rationalisiert entstehen. Dadurch werden auch autobiographische Schriften zumindest zur Teilfiktion. Ich kann euch versprechen, dass meine Tagebücher stilisiert sind und ich damit (teils bewusst und teils unbewusst) Wirkungen bei imaginären Leser*innen erzielen will. Wir suchen also uns selbst, ohne uns selbst finden zu wollen. Ist das Selbstschutz oder die leise Erkenntnis, dass unser Vorhaben unmöglich ist?

Ich habe mir vorgenommen, mich in der Literatur nicht zu hemmen und damit die Gefahr in Kauf zu nehmen, dass ich zu viel über mich selbst verrate, und gleichzeitig breche ich Projekte ab, die mir zu nahe gehen, überarbeite und filtere. Ist das Betrug an mir selbst und meinem Versprechen oder ist das wiederum Selbstschutz? Fakt ist, dass ich der Welt mein gesamtes Leben offenbaren könnte, ohne dass man mich verstehen würde. Damit ist kein universelles und arrogantes Niemand versteht mich oder ein Ich bin ein unverstandenes Genie gemeint, sondern die simple Tatsache der Unmöglichkeit, das eigene Wesen oder ein anderes vollends zu begreifen. Die schiere Komplexität des Zusammenspiels aus genetischen, psychologischen, erzieherischen und zufälligen Faktoren verbietet ein solches Vorhaben. Versucht man auch nur eine einzige Entscheidung vollständig und mit allem, was dazu gehört, zu ergründen, verrennt man sich schnell im Infinitesimalen und müsste am Ende die gesamte eigene Existenz bis hin zu Wetterfaktoren bedenken, käme irgendwann bei der eigenen Geburt und den Eltern an und müsste, wenn man wirklich gründlich sein wollte, dort weitermachen. Nebenbei bemerkt: Über die eigenen Eltern und deren Psyche und Geschichte nachzudenken, kann einiges im eigenen Leben aufklären.

Warum ich schreibe, warum ich die Menschen als Begleitung für meine Zeit auf Erde gewählt habe, warum ich bestimmte Musik mag oder gewisse Entscheidungen treffe, wird im Hinblick auf das Ganze meiner Existenz winzig und doch verrät es mir viel. Ich untersuche die Dachpfannen, weil ich wissen will, was im Keller geschieht. Mit etwas Glück kann ich erahnen, wie es auf dem Dachboden aussieht und nach vielen Jahren des Stöberns und Schließens hoffentlich bis ins Wohnzimmer vordringen. Damit wäre viel erreicht. Zufriedenheit und Freiheit sind meiner Meinung nach die Kernfaktoren eines guten Lebens und sie sind wert erkämpft zu werden (in der Außen- wie der Innenwelt).

Ich weiß nicht, ob ich mit solchen Gedanken allein dastehe, aber ich glaube es kaum. Bewusst oder unbewusst versucht doch jede*r, zufrieden und frei zu sein. Zu verstehen, was uns daran hindert, mag schmerzhaft sein, aber das mögliche Ergebnis rechtfertigt jede Unannehmlichkeit.

Darf man sich verstehen?

Über die Gründe zu schreiben und die Suche nach Selbsterkenntnis.

Die komplette Fragen müsste lauten: Darf man sich als Autor*in verstehen, um weiterhin schreiben zu können? Oder: Hemmt ein (weitestgehend) vollständiges Selbst-Verständnis den Schreibdrang und den kreativen Umgang mit dem eigenen Leben?

Wenn ich mich recht entsinne, hat Hermann Hesse die Psyche einmal mit einem Baum verglichen. Wenn man es schaffen sollte, jeden noch so kleinen Ast literarisch zu erfassen, könnte man sich selbst begreifen und würde zu einer Art Erleuchtung oder Erlösung gelangen. Das scheint mir ein interessanter Antrieb zu sein, aber utopisch, nicht erreichbar und falls doch erreichbar, dann zwingend jede Schreibtätigkeit beendend. Es wäre ein Endpunkt, die Vollendung eines Lebenswerks. Vermutlich war es Hesse bewusst, aber er träumte dennoch von einer Leichtigkeit, die er erlangen könnte, wenn er allen Ballast abgelegt haben könnte. Eine schöne Vorstellung: Endlich man selbst sein ohne Kompromisse, Erleuchtung in gewisser Weise.

Hermann Burger argumentierte, dass man beim Schreibprozess den inneren Germanisten (und Psychiater) stumm schalten müsse, weil man nicht verstehen dürfe, was man wirklich meint. Würde man vor Vollendung des Werkes verstünde, warum man es schreibt, verlöre man den Grund, es zu schreiben. Der Sinn des Schreibens wäre verloren. Damit ging es ihm also um die Verarbeitung bestehender persönlicher Probleme durch Literatur, ohne Rücksicht auf Entblößung oder tatsächliche Heilung.

Einen Schritt weiter ging Adolf Muschg in der Poetik-Vorlesung Literatur als Therapie?, in der er die These aufstellte, dass Autor*innen sich grundsätzlich einer vollständigen Therapie verweigerten, obwohl sie eigentlich nach einer Lösung ihrer eigenen Probleme suchten. Die Auflösung dieser Probleme würde dem Schreiben im Wege stehen, das einen eigenen Wert hätte, der noch über dem eigenen Glück stünde. Schreibende bekommen ihre Aufmerksamkeit und ihre Belohnungen, das heißt also ihren Liebes- oder Glücksersatz, durch die Literatur und durch Erfolge (Buchverkäufe, Rückmeldungen, Fertigstellen von Werken usw.), und verweigerten sich daher dem echten Glück. Da die Probleme eines Menschen Symptom der gesellschaftlichen Probleme seien, werden nach dieser These Autor*innen zu Anzeigern größerer Missstände.

Diese Denkansätze deuten bereits auf einen sehr reflektierten Umgang mit der eigenen Tätigkeit hin und werden vermutlich nicht von allen Schreibenden unterzeichnet werden, aber das bedeutet nicht, dass sie nicht der Wahrheit entsprechen könnten, und zwar einer Wahrheit, die den meisten nicht bewusst wäre. Dass die Aussagen wirklich auf alle Schreibenden zutreffen, möchte ich nicht behaupten, aber sie faszinieren mich.

Eine Autorin, die ihre Werke selten beendet und niemals veröffentlicht, erzählte mir einmal, dass ihre Geschichten keineswegs eine Verarbeitung ihrer eigenen Probleme seien, sondern das Gegenteil davon, nämlich eine Flucht vor der Realität in eine andere, bessere, strukturiertere und sinnvollere Welt. Den Vorwurf der Realitätsflucht kennt man auf Leser*innen bezogen, aber auf Schreibende weniger. Dieser Ansatz würde der Theorie der Therapie-Verweigerung nicht widersprechen, da Autor*innen wie die erwähnte ebenfalls keine Hilfe suchen oder direkte Reflexion anstreben, sondern im Umweg über die Literatur einen Ersatz anstreben.

Die vorangestellte Frage kann nur als Denkansatz verstanden werden, da ich es für unmöglich halte, sich selbst vollständig zu durchschauen. Dafür sind wir zu nah an uns dran. Ein Teil des Systems kann niemals das gesamte System überblicken. Der Abstand fehlt. Vielleicht geht es also mehr um einen Frieden, den man mit sich und den eigenen Schwierigkeiten schließt. Kann man Ausgeglichenheit und inneren Frieden mit der Erschaffung von Literatur (oder Kunst generell) zusammenbringen? Ich denke nicht. Mit innerem Frieden fehlt auch die Auflehnung gegen die Welt, wie sie ist. Viele werden argumentieren, dass es in ihren Werken nicht um sie selbst, sondern um Ungerechtigkeit geht, um eine Alternative zur bestehenden Welt oder einfach um Spaß am Schreiben. Doch ich würde sagen, dass ein Streben nach Gerechtigkeit auf die eigene Persönlichkeitsstruktur hinweist und auf Unzufriedenheit mit der Umwelt, dass Alternativen zum Bestehenden nur notwendig erscheinen, wenn man mit dem Bestehenden nicht einverstanden ist, und dass Freude am Schreiben nichts vom zuvor gesagten widerspricht, sondern höchstens Gefühle einem tieferen Bedürfnis vorschiebt. Auch in Romance, Fantasy und anderen Genres, die manchem weniger bedeutsam erscheinen mögen oder die nicht zum Gesagten zu passen scheinen, eine klare Struktur vorherrscht, ein idealisiertes Leben dargestellt wird oder ein Happy End vorkommt, das man im eigenen Leben oder in der Welt um sich herum nicht findet. Gut gegen Böse ist eine Simplifizierung, die mehr Sinn ergibt als das Leben, dem wir alltäglich ausgesetzt sind. Die Zerstörung des Bösen am Ende ist ein Traum, der in der Realität nicht umgesetzt werden kann, da es leider nicht so simpel ist. Damit wird jede Literatur zu einem Ausdruck von Unzufriedenheit und mag sie noch so unbewusst, erträglich oder gering sein oder erscheinen.

Man muss natürlich auch hier wieder darauf hinweisen, dass Literatur fiktiv ist und Autor*innen niemals direkt über sich selbst schreiben. Das sollte klar sein, ist es aber leider nicht für jede*n. Diese Verschiebung ins Fiktive macht Literatur einerseits ansprechend und wirksam und verhindert andererseits die reelle Auflösung der zugrunde liegenden Konflikte im Schreibenden. Indem wir die Erschaffung unserer Werke der Lösung unserer Probleme vorziehen, geben wir ein Stück weit unser Glück auf, während wir gleichzeitig anderen die Möglichkeit geben, sich wiederzuerkennen im Geschriebenen und damit Schwierigkeiten zu identifizieren und idealerweise anzugehen, oder sich für eine Weile aus der problembehafteten Realität zu flüchten, was ebenfalls eine Lebenshilfe darstellen kann, sofern es nicht ein dauerhafter Abwehrmechanismus wird.

Ich bin der Meinung, dass es für jede*n wichtig und richtig ist, sich selbst zu reflektieren, um ein möglichst (subjektiv) gutes Leben führen zu können, für Autor*innen aber auch entscheidend zur Erschaffung neuer Werke ist. Mit großem Abstand lassen wir dabei die Welt an unserer Entwicklung teilhaben, ohne uns vollends zu verraten. Wir bleiben privat in der Öffentlichkeit, damit andere durch Veröffentlichungen Privates verbessern können. Das ist der Wert, die Gefahr und die Bedeutung von Literatur in meinen Augen.