Compendium Obscuritatis: Extras

Blogeintrag über die Hintergründe der Kurzgeschichte “Extras” in der Anthologie “Compendium Obscuritatis” (Nikas Erben).

Am 31.10.21 ist die neue Anthologie von Nikas Erben unter dem Titel Compendium Obscuritatis erschienen. Mit dabei sind 2 Geschichten von mir: Generationen und Extras. In diesem Blogartikel soll es um die kürzere der beiden Erzählungen gehen, nämlich um Extras. Spoilerfrei ist dies nicht zu bewerkstelligen. Lest also bitte zuerst die Kurzgeschichte und dann diesen Blogartikel!

Content Notes: Trauma, Angst, Kindheit, Ethik

Süß, aber irgendwie schrecklich

Der Ansatz für die Kurzgeschichte Extras wirkt hochgradig harmlos, geradezu niedlich und gar nicht mal albtraumhaft. Kleine Kinder wünschen sich Wesen, die sie begleiten, Freund*innen fürs Leben. Zauberwesen, die den Wünschen von Kindern entspringen. Das ist Schritt 1.

Schritt 2 ist der Realismushammer. Setzen wir voraus, dass die erfundene Welt (Naturgesetze etc.) genau so funktioniert wie unsere und der einzige Unterschied zwischen der Realität in Extras und unserer Realität jener ist, dass Kinderwünsche in Bezug auf die Zauberwesen erfüllt werden, kann man auf ein paar interessante Einfälle kommen. Kinder wissen noch nicht viel von der Welt. Das macht sie zu guten Menschen. Das macht sie aber auch zu schlechten Gottheiten. Ein riesiger lustiger Frosch, der alle paar Sekunden pupst, ist so lange akzeptabel, bis seine Gase die Menschen und die Umwelt gefährden. Ein Hündchen, das aus Seifenblasen besteht, wird ziemlich schnell kaputtgehen. Niemand hat gesagt, dass die Wunschwesen nach der Entstehung nicht gnadenlos den Gesetzen der Physik ausgeliefert wären. Ein 8 Meter großer Dinosaurier mit Gummizähnchen wird verhungern, wenn man ihn nicht mit Brei füttert oder intravenös ernährt. Bin ich ein Spielverderber? Vielleicht. Aber Kinder lernen irgendwann, dass die Welt nicht so spaßig, einfach und sicher ist, wie sie für Kinder anfangs wirkt (wirken sollte?), und warum sollte das nicht in die Geschichte einfließen? Es ist keine Kindergeschichte, nicht für Kinder.

Schritt 3 ist das, was nicht sein sollte. Der leider viel zu reale Horror misshandelter Kinder. Welche Monster erschafft ein Kind, das in der Hölle lebt? Was würde aus der Wut eines Kindes entstehen, das geschlagen, ignoriert, misshandelt wird? (Ich lasse die Natur der Tat absichtlich offen, um keinen Gewaltvoyeurismus zu fördern, und damit eine größere Gruppe einbezogen werden kann. Außerdem ist es nicht nötig Details zu nennen, oder?) Grundsätzlich würden die Wünsche wohl in eine der beiden Richtungen tendieren: Schutz oder Zerstörung, passiv oder aggressiv. So ist es zu Annas Wunsch gekommen.

Freiheit

Jetzt kommen die richtig dicken Spoiler! Obacht!

Pippo ist ein Mann, aber er ist auch ein Wunschwesen. Er ist Annas Extra. Das heißt, Pippo ist entstanden, weil Anna ihn brauchte, und er ist, wie er ist, weil Anna ihn so haben wollte, und er handelte, wie er handelte, weil er ist, wie er ist, weil er ist, wie er sein sollte. Ist Pippo frei?

Darum ging es mir in Extras. Wenn Pippo so ist, wie er ist, weil er eben so erschaffen worden ist, kann er dann für seine Taten verantwortlich sein? Seinen Taten liegen Entscheidungen zugrunde, die begründet liegen in seinem Wesen (Charakter, Geist, Seele, was auch immer) sowie seinen Erfahrungen. Die Erfahrungen wiederum verarbeitet er auf Grundlage weiterer Anlagen in ihm (wieder: Charakter, Geist, Instinkt …). Sämtliche Anlagen in Pippo haben sich nicht einfach entwickelt, sondern wurden erschaffen, wie sie sind. Er ist, wie er sein sollte. Sind Pippos Entscheidungen frei? Besitzt Pippo Handlungsfreiheit? Wichtiger: Kann man Pippo für seine Taten verurteilen, obwohl er nicht anders handeln konnte, als er tatsächlich gehandelt hat? Immerhin sitzt er im Gefängnis.

Bonusfrage: Inwiefern unterscheiden wir uns von Pippo?

Opfer weiblich, Täter männlich

Ich bediene ungern Klischees. Ein weibliches Opfer und ein männlicher Retter sind ein Klischee. Ein weibliches Opfer und ein männlicher Täter: ebenfalls Klischee. Leider ist das 2. Klischee gleichzeitig bittere Realität, täglich. Darum diese Konstellation. Aus der Logik der realitätsbezogenen Entscheidung erwächst eine psychologische Entscheidung: Anna braucht Schutz, aber sie braucht und will mehr als das, nämlich einen besseren Papa. Darum Pippo. Man bemerke aber auch, dass Pippo von Grund auf als lieber Kerl angelegt ist, äußerlich und innerlich harmlos, aber eben auch in der Lage und mehr als willens, Anna zu beschützen. Er ist kein Muskelheld, sondern eine Retterfigur für ein verstörtes Kind. Ich gebe gerne zu, dass es ebenfalls sehr wahrscheinlich gewesen wäre, dass das Mädchen bereits eine grundsätzliche (und verständliche) Angst vor Männern allgemein entwickelt hätte und sich entsprechend eher eine Frau (oder jedenfalls keinen Mann) gewünscht hätte. Das wiederum hätte aber dazu geführt, dass der Fokus der Geschichte noch stärker auf eine Gewalt-gegen-weibliche-Personen-Debatte gerückt wäre und die Tat der Hauptfigur als feministischer Befreiungsakt gelesen worden wäre, die Inhaftierung wiederum als Teil des misogynen Patriarchats, und dass dementsprechend alle Leser*innen so sehr auf Seiten der inhaftierten Figur gewesen wären, dass sich die Frage der Entscheidungsfreiheit gar nicht mehr stellt. Jetzt denke ich gerade, ich hätte beide Versionen ausformulieren sollen. Vielleicht wäre die feministisch statt ethisch gelesene Geschichte die bessere gewesen. Hm. Hätte man sie parallel stellen sollen für den direkten Vergleich? Links A, rechts B? Spannende Idee. Leider zu spät gekommen.

Bildung oder Ausbildung?

Extras kann man auch auf anderer Ebene kritisch lesen. In einer (von den Extra-Wünschen abgesehen) realistischen und unserer ähnlichen Welt würden Staat und Wirtschaft versuchen, die Wunschwesen als Ressource zu nutzen. Um das zu optimieren, würde man versuchen, die Kinderwünsche zu beeinflussen. Das ist in unserer Wirklichkeit nicht anders. Schulen dienen kaum noch dazu, echte Bildung zu vermitteln, sondern vielmehr dazu, Menschen für die Wirtschaft nützlich zu machen. Dieses veraltete System ist nicht nur angesichts des sich wandelnden Marktes und der benötigten Skills (Kreativität, Flexibilität etc.) kontraproduktiv, sondern auch einfach traurig. Mit Kants Kategorischem Imperativ braucht man nicht einmal kommen. Da reicht Menschlichkeit.

Illustration

Die Illustrationen in Compendium Obscuritatis, gemacht von Esther Wagner halte ich für gelungen. Ich habe bei Illustrationen allgemein nur die Befürchtung, dass sie Leser*innen beeinflussen könnten und dadurch die Erwartungshaltung und Interpretation ändern.

Fazit

Einige Themen und Gedanken, die in Extras verbaut sind, habe ich hier angerissen, aber nicht zuende diskutiert. Das ist auch nicht mein Job. Mein Job ist es, die Fragen aufzuwerfen.

Literaturzeitschrift: Queer*Welten

Blogartikel über die Literaturzeitschrift Queer*Welten (Ausgabe 5/2021).

Neulich habe ich mich entschieden, einige Literaturzeitschriften zu testen. Einerseits ging es mir darum, Neues in Sachen Literatur zu finden, andererseits aber auch um eine Recherche, wohin ich in Zukunft meine Texte schicken könnte, und zu guter Letzt darum, mitreden zu können. Warum, dachte ich mir dann, sollte ich meine Erkenntnisse nicht mit euch teilen? Es wird also eine kleine, unregelmäßig erscheinende Blogreihe mit Texten über Literaturzeitschriften geben. Der Einstieg bietet die Queer*Welten mit Ausgabe 5. Vorweg möchte ich betonen, dass ich üblicherweise keine Fantasy- oder Science-Fiction-Literatur lese und diese Genres (und damit die Geschichten der Zeitschrift) nicht im Detail bewerten kann.

Konzept der Queer*Welten

Wie der Name bereits sagt, dreht sich in Queer*Welten alles um queere Welten, und zwar hauptsächlich in den Genres Fantasy und Science Fiction. Sie erscheint alle 3 Monate im Ach Je Verlag und enthält Kurzgeschichten (die nicht immer ganz kurz geraten sind), Debattenbeiträge und Neuigkeiten über queere Fantasy- und Science-Fiction-Literatur. Der Preis liegt bei 7.99 € pro Printausgabe, 5.99 € fürs E-Book.

Design der Queer*Welten

Für euer Geld bekommt ihr ein etwa 50 Seiten starkes Heft im Format 21 cm x 15 cm. Das Coverdesign stammt jeweils von einer*m queeren Künstler*in. Ansonsten ist die Queer*Welten schlicht gehalten und ohne Bilder im Innenteil, sondern besteht aus meist doppelspaltigem Text. Auf den Inhalt selbst komme ich jetzt zu sprechen.

Inhalt der Queer*Welten 5

  • Vorwort
  • Romy Wolf: Stadt der Sündigen [Kurzgeschichte]
  • Rebecca Westkott: Das letzte Marzipanbrot [Kurzgeschichte]
  • Jol Rosenberg: Rechter Haken [Kurzgeschichte]
  • Alex Prum: Historisch korrekte Drachenreiter [Essay]
  • Der Queertalsbericht 02/2021

Romy Wolf: Stadt der Sündigen

In einem post-apokalyptischen Setting, wobei die Apokalypse frei nach dem Evangelium des Johannes stattfand, befinden sich die Menschen, die überlebt haben, in einer Stadt, die von Engeln errichtet worden ist und von diesen mit Gewalt regiert wird. Im Kern der Geschichte steht ein Gespräch zwischen Salome und Leah. Es geht um das Ausloten von moralischen und persönlichen Grenzen.

Rebecca Westkott: Das letzte Marzipanbrot

An Rebecca Westkotts Kurzgeschichte Das letzte Marzipanbrot oder vielmehr daran, dass die Geschichte in Queer*Welten abgedruckt worden ist, zeigt sich der intersektionale Ansatz der Zeitschrift. Im Zentrum der Kurzgeschichte steht ein*e Ich-Erzähler*in mit schweren psychischen Erkrankungen und die Diskriminierung psychisch und physisch behinderter Menschen durch Behörden. Mir gefällt besonders der verrückt-surreale Erzählstil, in dem sich jede Menge Fantasiewesen in einen Tag drängen, der ohne sie hauptsächlich grau und unangenehm gewesen wäre.

Anmerkung: Stil und Story haben mir so gut gefallen, dass ich nach Büchern von Rebecca Westkott gesucht habe, aber leider vergebens.

Jol Rosenberg: Rechter Haken

In der Science-Fiction-Geschichte Rechter Haken von Jol Rosenberg geht es um den Klon Nori, der eigentlich nur für die Arbeit in einem Schlachthaus erschaffen worden ist, aber entkommen konnte und nun versucht, sich unter Menschen zurechtzufinden. Grundthema der Geschichte ist Andersartigkeit. Andersartigkeit im Sinne von Außenseiterrollen, aber auch im Sinne körperlicher und geistiger Unterschiede.

Alex Prum: Historisch korrekte Drachenreiter

Der Essay Historisch korrekte Drachenreiter von Alex Prum greift das häufig auftauchende Argument gegen die Repräsentation queerer oder nicht-weißer Figuren in Fantasy-Settings auf, dass sie nicht historisch korrekt sei, da man sich am realen Mittelalter orientiert hätte, und demontiert dieses Argument schrittweise. Dabei entlarvt Alex Prum das Argument auch als getarntes Vorurteil (oder Ansammlung einer ganzen Reihe von Vorurteilen). Eine spannende Betrachtung herrschender und weit verbreiteter Bilder und undurchdachter Meinungen in den Köpfen der Autor*innen (und aller anderen Menschen).

Queertalsbericht

Der Queertalsbericht stellt in Ausgabe 5 der Queer*Welten Novellen vor, und zwar Fantasy- sowie Science-Fiction-Novellen, die zwischen 2018 und 2021 erschienen sind und queere (Haupt)Figuren aufzuweisen haben. Aus meiner Twitter-Bubble weiß ich, dass es nicht immer leicht ist, Bücher mit guten Repräsentationen queerer Figuren zu finden. Wer also entsprechende Literaturempfehlungen sucht, ist hier an der richtigen Stelle.

Queer*Welten 5: Fazit

Die Queer*Welten habe ich mir wegen des Konzepts gekauft und nicht wegen der vertretenen Genres. Trotzdem hatte ich Freude am Lesen, ganz besonders an Das letzte Marzipanbrot von Rebecca Westkott sowie am Essay von Alex Prum. Für 7.99 € kommt mir die Queer*Welten etwas schmal vor, aber für die Unterstützung des Konzepts zahle ich die Summe trotzdem gern.