Erschütterungen. Dann Stille.: Joboffensive

Über die Kurzgeschichte “Joboffensive” in der Anthologie “Erschütterungen. Dann Stille.”

Zusammenarbeit oder -stöße mit dem Jobcenter sind selten angenehm. Das liegt in der Natur der Zuständigkeit dieser Organisation. Das ist ein Grund, warum die Erzählung Joboffensive aus Erschütterungen. Dann Stille. dort angesiedelt ist. Im Folgenden kommen Spoiler zur Geschichte vor!

Content Notes: Arbeitslosigkeit, Massenmord

Keine Unterstellung

Auch wenn das Jobcenter keinen sonderlich guten Ruf hat, soll die Erzählung Joboffensive keinesfalls einen realen Vorwurf gegen diese Institution oder gar die Mitarbeiter*innen beinhalten, sondern allerhöchstens einen Seitenhieb aufgrund bisheriger Erfahrungen austeilen und hauptsächlich eine dystopisch-satirische Fantasie darstellen. Obwohl manche Methoden des Jobcenters fragwürdig erscheinen mögen, erwarte ich keine Tötungsanlagen im Keller. Lest die Geschichte nicht als Tobsuchtsanfall eines wütenden Arbeitslosen, sondern als Kritik an herrschenden Gesellschaftsverhältnissen, dem Blick auf Produktivität und Menschenwert sowie am Kurs, den unsere Gesellschaft eingeschlagen hat! All das von allein zu verstehen, unterstelle ich meiner Leserschaft.

Rechtsfolgebelehrung

Jede*r mit etwas Erfahrung im Umgang mit dem Jobcenter und den Schreiben, die von dort eintrudeln, kennt das: Eine Mischung aus freundlichem und sachlichem Ton, der mit einer Drohung endet, gefolgt von angehängten Seiten, auf denen die rechtlichen Grundlagen der Drohung aufgeführt sind. Fehlt der Anhang, die Rechtsfolgebelehrung, darf die Androhung der Sanktion nicht umgesetzt werden, beziehungsweise die Drohung fehlt dann im Brief. Erfahrene Arbeitslosengeld-2-Empfänger*innen schauen zuallererst nach, ob es eine Rechtsfolgebelehrung gibt. Manche, habe ich gehört, werfen alle Schreiben ohne Belehrung sofort weg.

Die Sprache des Feindes

Schreiben des Jobcenters sind faszinierend zu lesen. Oben steht „Einladung“ und unten steht sinngemäß „wenn Sie nicht Folge leisten, bekommen Sie noch weniger Geld“. Oben steht „Vorschlag“ und unten steht „gehen Sie nicht auf den Vorschlag ein, gibt es eine Strafe“. Oben steht „Bitte um Mitwirkung“ und unten „wirkst du nicht mit, gibt’s Ärger“.

Diese Vermischung von Begriffen und Sätzen, die im Alltag als widersprüchlich gelesen werden würden, erinnerte mich mehr als einmal (wenn auch entfernt) an die Euphemismen des Nationalsozialismus: Endlösung, Euthanasie usw. Der Sprung ist zum Glück nicht klein, aber er ist machbar.

Gruppenveranstaltungen

Ähnliche Veranstaltungen wie jene in Joboffensive beschriebene habe ich selbst besucht. Ein Haufen völlig uninteressierter Teilnehmer*innen sitzt aufgrund einer Strafandrohung zusammen. Man kann es sich wie ein Klassenzimmer voller unwilliger Schüler*innen vorstellen, die weder Interesse haben, noch der Lehrkraft irgendetwas durchgehen lassen. Es muss furchtbar anstrengend sein, derartige Veranstaltungen zu leiten. Ich beneide niemanden um den Job.

In der Erzählung kommt kein*e Redner*in. Alles schläft ein.

Hannah Arendt

Eine weitere Inspirationsquelle für Joboffensive ist eine Aussage Hannah Arendts aus ihrem Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Sie konnte sich vorstellen, dass, nachdem der Nationalsozialismus den Massenmord derart fabrikmäßig durchgeführt hat, einmal also bereits die Grenze überschritten worden und ein Präzedenzfall geschaffen worden ist, auch im Kapitalismus eine ähnliche Apparatur möglich sein könnte. In dem Falle, schreibt sie, seien allerdings nicht Ethnien oder politische Gegner*innen Ziele des Massenmords, sondern jene, die der Gesellschaft nichts nützten, beispielsweise die Arbeitslosen. All jene, die aus wirtschaftlicher Sicht überflüssig sind und nur Geld kosten. Auch das hat es im Dritten Reich bereits gegeben.

Es ist eine halbe Ewigkeit her, dass ich zuletzt etwas von Hannah Arendt gelesen habe, aber diese Aussage ist geblieben. Sie ist geblieben, weil sie mir nie unrealistisch vorgekommen ist, so gern ich es auch gehabt hätte.

Scheinbare Widersprüchlichkeit

In abscheulichen Systemen wie dem Nationalsozialismus hat es auch immer Elemente gegeben, die geradezu albern wirken. In LTI (Lingua Tertii Imperii) schreibt Victor Klemperer folgende Passage: […] ich durfte dem Tierschutzverein für Katzen keinen Beitrag mehr zahlen, weil im „Deutschen Katzenwesen“ – wahrhaftig, so hieß jetzt das zum Parteiorgan gewordene Mitteilungsblatt des Vereins – kein Platz mehr war für artvergessene Kreatueren, die sich bei Juden aufhielten. Grund für solche Seltsamkeiten ist die komplette Bürokratisierung und Organisation sämtlicher Aspekte des Lebens.

Wenn in Joboffensive also von der umweltfreundlichen Politik der Regierung gesprochen wird, während nebenan Leichen verbrannt werden, und in diesem Rahmen die Minimierung der Abgase sowie die Nutzung der bei der Verbrennung entstehenden Hitze erwähnt werden, so unterstreicht dies einerseits die Gräuel der Taten und die Gewohnheit an diese, und folgt andererseits der Logik durchorganisierter Gewaltsysteme. Die innere Paradoxie und offenliegende Lächerlichkeit derart monströser Systeme hinterlässt alle nicht Indoktrinierten staunend.

Erschütterungen. Dann Stille.: Bad Luck II

Über die Sci-Fi-Kurzgeschichte “Bad Luck II” im Sammelband “Erschütterungen. Dann Stille.”

Nein, das ist keine Fortsetzung von Bad Luck I – es gibt kein Bad Luck I –, sondern ein mittelschlechter Scherz. Bad Luck II ist die einzige Science-Fiction-Geschichte in Erschütterungen. Dann Stille. und generell die einzige, die ich bisher geschrieben habe. An dieser Stelle wieder die Spoiler-Warnung für alle, die die Geschichte noch nicht gelesen haben.

Der Name

Schiffe haben gerne seltsame Namen und vermutlich irgendwann auch Raumschiffe. Meines Wissens nach kann man ein privates Schiff nennen, wie man will. Ich denke gerne an die unbemannte schwimmende Landungsplattform (also quasi ein Schiff) von SpaceX namens Of Course I Still Love You, deren Name (wie auch der des Vorgängerschiffes) aus der Science-Fiction-Story The Player of Games von Iain M. Banks stammt. Eine Inspiration für den Namen meines Raumschiffs (Bad Luck II) war ein Schiff, das ich irgendwo (Film? Meme? Foto?) gesehen habe und das Unsinkable II hieß, was mich wiederum an lustige Filmtitel wie Titatic II erinnerte.

Bad Luck bedeutet übersetzt „Pech“, „schlechtes Glück“. Die zweite Version eines Schiffes mit diesem Namen deutet bereits auf das Schicksal des ersten hin, so wie viele zweite Versionen an das Scheitern der ersten gemahnen. Für mich handelt es sich hauptsächlich, wie oben erwähnt, um einen Scherz.

Der Weltraum, unendliche Weiten …

Im Weltraum gibt es nichts. Der Weltraum ist die Leere zwischen den kleinen Gefährten und etwas größeren Monden und Planeten, die uns Sicherheit und Leben schenken. Fast überall im Universum ist es zu kalt, zu heiß, zu sauerstoffarm (das wäre dann wohl ein Euphemismus) oder sonstwie zu tödlich für uns. Ich kann mir kein brutaleres Bild für Einsamkeit vorstellen als ein Raumschiff mit nur einer einzigen Person an Bord, weit entfernt von allem, was eine Heimat sein könnte.

Das liegt erstens an der Kälte, die innerhalb von Sekunden einen menschlichen Körper gefrieren lässt, zweitens an der Dunkelheit, die lediglich von winzigen, weit entfernten Punkten durchbrochen wird, und drittens an der absoluten Stille des jeden Ton verschluckenden Vakuums. Diese drei Punkte habe ich in Bad Luck II darzustellen versucht, insbesondere Punkt Nr. 3, die Stille. Einsamkeit ist jedoch nur ein Nebenthema der Geschichte.

Homo Homini Lupus Est

Homo Homini Lupus Est: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, das stellte der Philosoph Thomas Hobbes fest. Später korrigierte er den Satz zu Homo Homini Lepus Est: Der Mensch ist dem Menschen ein Hase. So oder so hat der Mensch den Menschen zu fürchten oder fürchtet ihn wenigstens zu Recht. Doch darum geht es nicht. Hobbes ist berühmt für sein Werk Leviathan aus dem Jahr 1651. Leviathan ist ein Werk des Staatstheorie, also der philosophischen Richtung, die der Frage nachging, wie es ursprünglich zur Gründung von Staaten (Reichen, Nationen, großen Gemeinschaften) gekommen ist. Hobbes stellte die Theorie auf, dass der Mensch im Naturzustand, also in uneingeschränkter Freiheit, seine niedersten Instinkte ausleben würde. Absolute Freiheit bedeutete also das Recht der/des Stärkeren und eine Unterwerfung unter eine gemeinsame Regierung wäre zum Vorteil aller (außer der Allerstärksten). Alle geben einen Teil ihrer Freiheit auf, um sicher leben zu können.

Brachiale Freiheit

Hobbes stellt innerhalb seiner Ausführungen außerdem das Offensichtliche fest: Im Naturzustand, also in scheinbar absoluter Freiheit, ist niemand frei. Die ständige Todesangst, der fehlende Schutz vor anderen und der fehlende Zusammenhalt stürzen einen Menschen in einen Zustand, in dem er zwar keinen offiziellen Regeln folgen muss, aber auch niemals sich selbst verwirklichen kann, niemals beruhigt oder für einen Moment unvorsichtig sein darf. Echte Freiheit ist etwas anderes.

Leider haben das viele Menschen noch nicht verstanden. Gerade Corona hat wieder einmal gezeigt, wie wenig überlegt das Wort Freiheit benutzt werden kann und wird. Man wird nicht weniger frei durch die Verwendung einer Maske oder die Vorschrift dieser Verwendung. Im Gegenteil. Die Regelung schützt alle vor einem chaotischen Zustand, vor unkontrollierter Ausbreitung einer (viel zu häufig tödlichen oder schwere Folgen habenden) Krankheit. Wie frei fühlt man sich noch, wenn jede Begegnung das Leben kosten könnte? Freiheit oder Tod kann man für sich selbst fordern (und es gibt Situationen, in denen das nachvollziehbar ist), aber man kann es nicht von anderen verlangen. Besonders dann nicht, wenn diese vermeintliche „Freiheit“ aalglatter Bullshit ist. Deine Freiheit, keine Maske tragen zu müssen, ist meine Unfreiheit in Angst zu leben. Deine „Freiheit“ oder dein Tod? Von mir aus. Mein Tod für deine „Freiheit“? Nein, danke.

Keine Heldengeschichte

Trip, der Protagonist von Bad Luck II, ist kein Held und die Erzählinstanz lügt und manipuliert. Mit der Aussage Wirkliche Freiheit ist nur möglich, wo Sicherheit gering ist beginnt die Geschichte. Diese Aussage ist extrem relativ. Sie ist keine glatte Unwahrheit, aber sie darf nicht unkritisch gelesen werden. Wann ist Freiheit wirklich? und wann ist Sicherheit gering? Natürlich darf man nicht alle Freiheit für Sicherheit opfern. Bekanntlich verliert man auf diese Weise beides. Aber eine derart willkürliche und lockere Behauptung darf man nicht akzeptieren!

Trip ist nicht frei oder sogar ein Freiheitskämpfer, er ist ein Krimineller. Er tötet ohne Reue, raubt, was er braucht. Er ist kein Held, aber die Prämisse, der erste Satz der Geschichte, will ihn zu einem machen. Freiheit benötigt keine Gefahr, um zu existieren, und Sicherheit fußt nicht zwangsläufig auf Unfreiheit.

Was soll das dann?

Bad Luck II ist für mich eine Übung in kritischem Lesen für alle Lesenden und eine Übung in einem fremden Genre für mich. Ich hoffe, dass die Geschichte gefällt, ohne dass ihre kalten Inhalte als wahr angenommen und vielleicht sogar ins eigene Denken übernommen werden.

Sicherlich, als es noch kein Google gab, keine guten Antivirus-Programme und so gut wie gar keine Regulierung des Internets, konnte man alles kostenlos finden, wenn man nur wusste, wo man zu suchen hatte – und bereit war, Gesetze zu übertreten. Es war ein riesiger digitaler Spielplatz. Aber man war auch Angriffen schutzlos ausgeliefert, und alles, was man kostenlos heruntergeladen hat, hat irgendwo Schaden verursacht. War das wirklich Freiheit? Ich glaube nicht. Aber fühlt sich die komplette Überwachung aller Verbindungen, Gespräche, der Tastenanschläge, Websitebesuche und Einkäufe etwa wie Freiheit an? Fühlt sie sich sicher an?

Hoffnung durch exponentielles Wachstum: Wo sind die Utopien geblieben?

Exponentielles Wachstum der technologischen Entwicklung und mögliche Auswirkungen auf das Genre der Utopien/Dystopien.

Provokation

Die Überschrift dieses Blogeintrags ist absichtlich provokant, wenn auch nicht falsch. Spätestens seit Die Grenzen des Wachstums vom Club of Rome 1972 assoziieren wir „Wachstum“ häufig mit Wirtschaft. Unser Wirtschaftssystem fußt auf ständigem Wachstum, aber nicht unbedingt auf exponentiellem. Es soll hier zwar auch um Wirtschaft gehen, aber nur als Rahmensystem für das, was eigentlich Thema ist: technologische Entwicklung und schließlich Literatur.

Was bedeutet „exponentielles Wachstum“?

Exponentielles Wachstum beschreibt in der Mathematik einen Prozess, in dem eine gegebene Größe in gleichbleibenden Zeitschritten jeweils um den selben Faktor wächst: 2, 4, 8, 16, 32 … Man kann sich diese Art des Wachstums beziehungsweise die Besonderheit dieses Wachstumsprozesses klar machen, indem man sich einen entsprechenden Graphen vorstellt. Während lineares Wachstum in einem Graphen durch eine gerade Linie von links unten nach rechts oben gezeigt wird, sieht exponentielles Wachstum zwar anfangs ähnlich aus, aber erreicht schließlich eine Kurve, nach der die Linie steil nach oben schießt. Diese Kurve und die Veränderung, die sie mit sich bringt, ist hier wichtig.

Ray Kurzweil: Menschheit 2.0

Ray Kurzweil, der sich seit Jahrzehnten auf Mustererkennung spezialisiert hat, Autor, Erfinder und einiges mehr ist, hat in seinem 2005 erschienenen Buch Menschheit 2.0 eine faszinierende Entdeckung beschrieben und diese weitergedacht.

Kurzweil stellte fest, dass sowohl die biologische als auch die technologische Evolution ein exponentielles Wachstum aufweisen, und darüber hinaus, dass beide Kurven zusammengefasst zeigen, dass die technologische Evolution die biologische direkt fortsetzt. Es dauerte Milliarden Jahre, bis Leben entstand, Millionen Jahre, bis sich das Gehirn entwickelt hat, Zigtausende Jahre bis zum Menschen, aber nur gut 100 Jahre vom Telefon zu Breitbandinternet, Smartphones, Hochleistungsrechnern usw.

In Menschheit 2.0 geht es aber nicht um den Blick zurück, sondern um den nach vorn. Kurzweil prophezeit aufgrund seiner Daten das Eintreten der „Singularität“, die ganz grob gesagt, der Übergang von der Kurve im Graphen des exponentiellen Wachstums unserer technologischen Entwicklung hin zum steilen Aufstieg ist. Wir befinden uns laut Kurzweil im letzten Bereich der Übergangsphase. Sobald diese kurze Phase vorbei ist, hätten wir die Fähigkeiten und Möglichkeiten, um unsere Intelligenz mithilfe von Technologie milliardenfach zu vergrößern und würden eine neue Mensch-Maschinen-Gesellschaft bilden.

Hoffnung auf Lösungen, die wir (noch) nicht sehen

Die exponentiell wachsende technologische Entwicklung bezieht sich keineswegs nur auf Computertechnik und Rechenleistung, sondern auch auf Bereiche wie Robotik, Genetik, Nanotechnologie (oder inzwischen noch kleinere Bereiche) und grundsätzlich alle anderen Technologiezweige. Mithilfe der riesigen Entwicklungssprünge könnte man in einem ersten Schritt die Rechenkapazitäten erlangen, um Lösungen für die großen Probleme der Menschheit zu finden, und in einem zweiten Schritt diese Lösungen implementieren. Theoretisch könnten damit Umweltschäden repariert, Krankheiten geheilt, Hunger gestillt und das Todesproblem an sich gelöst werden.

Die Macht zu Gutem und Schlechtem

Man darf natürlich nicht vergessen (und das erwähnt Kurzweil ebenfalls), dass nicht nur die Macht Gutes zu tun exponentiell steigt, sondern auch die Fähigkeiten, Schlechtes zu tun. Eine Technologiestufe, die die Klimakrise schlagartig abwenden oder umkehren könnte, brächte auch Waffentechnik mit sich, die Höllisches anrichten könnte. Wenn wir Krankheiten heilen können, können wir auch neue erschaffen. Entsprechend ist die Übergangsphase, also die Phase, in der wir noch nicht intelligent genug sind, um all unsere kleingeistigen Streitigkeiten, Begierden und unsere Gier zu begreifen und in Schach zu halten, auch eine Zeit großen Risikos. Doch trotz aller Rückschläge, Wirtschaftskrisen, Kriegen, Seuchen und Unmenschlichkeiten im Namen der Wertsteigerung könnte nur noch ein katastrophaler Kollaps die Entwicklung aufhalten. Die Frage ist nur, ob wir schnell genug intelligent und fähig genug werden, um wenigstens die wichtigsten Probleme zu lösen, bevor die Probleme, die wir auf dem Weg dorthin verursacht haben, uns einholen.

Dystopie und Utopie: (Alb)Traum von der Zukunft

1516 erschien der Roman Utopia von Thomas More (oder Thomas Morus). Dieser beschreibt eine ideale Gesellschaft auf einer Insel namens Utopia. Aus heutiger Sicht ist die utopische Gesellschaft nicht besonders ideal: demokratisch, bildungsstrebsam und mit Anspruch auf Gleichheit zwar, aber man verlässt sich auch auf ausländische Söldner für Kriege und errichtet Kolonien, wenn die eigene Bevölkerung zu groß wird. Dennoch war der Einfluss von Utopia groß und fortan wurden alle Werke, die (vermeintlich) ideale (nicht existierende) Gesellschaften beschrieben, als Utopien bezeichnet.

Die Gegenversion einer Utopie, also eine Antiutopie, nennt man Dystopie. Bekannte dystopische Werke sind beispielsweise 1984 von George Orwell oder Brave New World von Aldous Huxley. [Kurzer Ausflug: Aldous Huxley war eine Weile der Französischlehrer von Orwell. Beide wurden später Freunde, nachdem Huxley ihm geschrieben hatte und scherzhaft anmerkte, seine höllische Zukunftsvision sei besser als jene Orwells.]

Dystopische Trends

Obwohl Dystopien traditionell in der nahen Zukunft spielen und Gesellschaften beschreiben, die tatsächlich entstehen könnten, scheint es mir seit Jahren einen Trend hin zu Dystopien mit weniger realistischen Zukunftsvisionen und/oder in entfernterer Zeit liegender Handlung zu geben. Zwei Dinge beschäftigen mich in diesem Zusammenhang:

  1. Erfüllen Dystopien noch den ihnen zugrunde liegende Sinn einer Warnung vor aktuellen Entwicklungen, wenn sie wenig oder keinen Bezug mehr zur Jetztzeit herstellen? Eine Dystopie ist im Kern ein zutiefst politisches Werk. Es greift üblicherweise mindestens einen alarmierenden gesellschaftlichen Trend auf und spinnt ihn zum schlimmstmöglichen Endpunkt weiter. So entstand die sedierte und gedanklich unreife Zucht-Menschheit in Brave New World und der sich im Dauerkriegszustand befindliche Überwachungs- und Propagandastaat in 1984. Verkommen Dystopien heute zur Bühne von Freiheitsfantasie vor post-apokalyptischem Hintergrund? Damit würden sie noch immer wichtige Tendenzen in der Gesellschaft aufzeigen, aber nicht mehr ihre traditionelle Rolle erfüllen. Grundsätzlich ist daran nichts auszusetzen, nur frage ich mich, ob ein derart prägnant kritisches Genre wie die Dystopie verwaschen werden sollte und ersetzt werden kann. Kritik ist auch in anderen Genres vertreten, aber Dystopien dienten bisher dieser Kritik zuallererst und erst dann anderen Grundthemen/-tendenzen.

  2. Kann man aus der Popularität des Genres eine (wieder) stärker werdende Zukunftsangst schließen? Der Gedanke ist naheliegend. Die Natur ächzt und stirbt, die Klimaveränderungen sind derart drastisch, dass ich sie allein anhand meiner eigenen Erinnerungen problemlos nachvollziehen kann, politische und gesellschaftliche Entwicklungen (Rechtsruck, offener Antifeminismus usw.) bedrohen das bisschen Freiheit, das ohnehin durch ständige Überwachung immer weiter eingeschränkt zu werden scheint. Angst scheint angesichts des Zustands unserer Welt eine angebrachte Reaktion zu sein. Aber hat das etwas mit dem Erfolg von Dystopien zu tun?

Wo sind die Utopien geblieben?

Literatur ist für den Großteil aller Leser*innen ein Mittel zur Unterhaltung. Es hat immer Personen gegeben, die das kritisiert haben und von oben herab auf „Unterhaltungsliteratur“ geschaut haben, aber man kann nicht anders, als sich einzugestehen, dass nur Verkäufe die Literatur langfristig relevant bleiben lassen. Was ich sagen will, ist, dass Dystopien häufiger sind als Utopien, weil sie sich besser verkaufen lassen, und der Grund dafür wiederum ist, dass sie spannender sind. Immer häufiger lese ich zwar die Forderung nach Geschichten mit ruhigen Passagen, die bloß beschreiben (und wohltun), ohne auf Teufel komm raus Spannung zu erzeugen, aber der Schritt zu einem Buch, das zum größten Teil daraus besteht, ist doch noch recht groß, und am Ende ist eine Utopie genau das.

So wie Dystopien (eigentlich?) zutiefst politisch sind, sind es Utopien natürlich auch. Die Wunschgesellschaft der einen Person kann die Höllenvorstellung der anderen sein. Auf der anderen Seite muss man schon eine soziopathische Ader und Hoffnung auf eine Machtposition in der Zukunftshölle haben, wenn man eine richtige Dystopie als utopisch empfindet. Damit möchte ich sagen, dass vom wahrscheinlich geringeren Unterhaltungswert abgesehen, Utopien auch ein größeres Streitpotenzial haben. Man muss nur überlegen, auf welche Ziele manche Personen und Gruppen hinarbeiten, und man hat eine Vorstellung der Utopien, die sie produzieren würden.

Mischformen: Utopische Ideen, aber spannend

Man kann das Star Trek Universum, besonders die Grundlagen der United Federation of Planets, als utopisch lesen, obwohl die Geschichten (von Zeitreise-Plots abgesehen) in der fernen Zukunft spielen. Auch geht natürlich einiges schief, es gibt menschliche Schwäche und Grausamkeit und besonders gibt es die Konfrontation mit weniger utopischen, rückschrittigen oder geradezu dystopischen Gesellschaften: Die misogynen, einzig und allein profitorientierten Ferengi, die kriegerischen Klingonen und die paranoiden, alles überwachenden, von Geheimdiensten gesteuerten Romulaner.

Doch auch in den neuen Filmen und Serien von Star Trek erkennt man einen klaren Trend weg von den positiven, freiheitlichen, urmoralischen Grundzügen der Föderation und damit des Kerns des ganzen Franchises. Verrat, Verfall, korrumpierte Moral, Überwachung, Infiltration überall. Wieso ist das so? Mischformen wie in Star Trek (besonders TNG, Voyager, DS9) konnten und könnten weiterhin dem Marktdruck standhalten, unterhalten und dennoch grundmoralisch und -optimistisch sein.

Was ich an Star Trek immer geliebt habe, war die Gewissheit, dass es trotz des Chaos und der Ungesetzlichkeit des kalten Weltraums immer Ordnung herrschte und die Held*innen niemals ihre moralischen Grundprinzipien verrieten.

Ist Hoffnung unlogisch oder verkauft sie sich nur schlecht?

Schließen wir den Kreis nach dem langen Ausflug: Sollte Ray Kurzweil wenigstens tendenziell Recht behalten (wovon ich ausgehe) und die Menschheit die Schwelle zur Singularität (oder wie auch immer man es nennen möchte) erreichen und überwinden, bevor wir oder unsere Fehler uns selbst oder die Entwicklung stoppen und vernichten, gibt es begründete Hoffnung. Wir werden auf keinen Fall alles retten können, aber wir werden einerseits vieles wiederherstellen und andererseits neuen Schaden verhindern können. Man sollte diesen Funken Hoffnung keinesfalls als Aufruf missverstehen, alles beizubehalten, nicht auf die offensichtlichen Signale der Umwelt und die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeiten zu reagieren oder die Klimakrise und andere Probleme nicht ernstzunehmen! Wir müssen etwas tun und zwar schnellstmöglich, aber wir können eben auch hoffen.

Warum schlägt sich das nicht in der Literatur nieder? Liegt es außerhalb des gewohnten Denkens von Autor*innen, derart hoffnungsvolle Modelle zu akzeptieren? Sind die Ideen schlicht unbekannt? Sind wir noch immer gefangen in der linearen Betrachtung von Geschichte und technologischer Entwicklung? Oder gehen Versuche hoffnungsvoller, utopischer Literatur einfach unter, weil man sie schlecht verkaufen kann, beziehungsweise Personen mit Einfluss glauben, dass man sie schlecht verkaufen könnte?

Man sollte mich auch hier nicht missverstehen. Ich liebe düstere Werke in jeder Kunstrichtung, aber das heißt nicht, dass man keine Werke veröffentlichen sollte, die Hoffnung auf eine bessere Welt machen. Manchmal sage ich Dinge wie „Kunst sollte wehtun“, aber was tut mehr weh, als zu sehen, wie gut wir es haben könnten, wenn es doch offensichtlich gerade (noch) nicht so ist?