Compendium Obscuritatis: Generationen

Über die Kurzgeschichte “Generationen” aus der Anthologie “Compendium Obscuritatis” (Nikas Erben) von Autor Matthias Thurau.

Seit 31.10.21 ist die neue Anthologie der Autor*innengruppe Nikas Erben unter dem Titel Compendium Obscuritatis veröffentlicht. Darin sind auch zwei kurze Erzählungen von mir zu finden: Extras und Generationen. In diesem Blogeintrag soll es um die Horrorgeschichte Generationen gehen, die Hintergründe der Entstehung und einige versteckte Details. Ohne Spoiler ist dies nicht zu machen. Bitte lest zuerst die Erzählung und dann diesen Blogartikel!

Die Illustrationen im Buch, inklusive der für diese Geschichte, von der ein Ausschnitt hier als Header dient, sind von Esther Wagner gestaltet worden.

Content Notes: Rauchen, Husten/Erkältung, Trauma

Es fing mit einer Reise an

Das stimmt nicht ganz. Im September 2019 war ich noch Raucher, drehte mehr oder minder munter Zigaretten und litt zeitgleich an einer unangenehmen Erkältung. Erkältungen sind bereits unangenehm, ohne dass man raucht, aber mit ist es noch schlimmer. Zum Glück habe ich es geschafft, drei Monate später aufzuhören. (Erinnert ihr euch noch an die Zeit, als ein Husten einfach Husten war und keine Corona-Panikattacke ausgelöst hat?)

Als ich im September 2019 dann nach Glasgow, Schottland, reiste, rauchte ich allerdings noch und war auch noch immer erkältet. Es wird entsprechend kaum verwundern, woher die Inspiration für den rauchenden Protagonisten und seinen Hustenauswurf in Generationen gekommen ist. Suchtdruck, Raucherei und ein widerlicher Husten haben sich Luft gemacht. Deshalb kann ich noch heute kaum an die Erzählung denken, ohne Lust auf Zigaretten zu kriegen. (Ist es nicht spannend, dass auch und manchmal besonders unangenehme Erinnerungen an Suchtmittel das Verlangen nach ihnen hervorrufen?) Aber das sind weder die wichtigsten noch die ersten Elemente der Story gewesen, die schließlich Generationen heißen sollte.

Das verfluchte Haus

In Glasgow, genauer im BrewDog (Merchant City), haben wir gesessen, gegessen, getrunken (eine Cola für mich, denn in der Zeit rauchte ich zwar, trank aber nicht) und schließlich zwei sehr sympathische Glasgower*innen kennengelernt. Wir kamen ins Gespräch über den Preis von Tabak und Alkohol, dann über Musik, Literatur – Habt ihr mal versucht, spontan euren Roman in einer anderen Sprache zu pitchen? Nicht so einfach. – und schließlich über inspirierende („morbid“ war das Wort) Orte in Glasgow. Neben der Necropolis wurde mir ein altes Gebäude ans Herz gelegt, gegenüber einer Bar, das meine Gesprächspartnerin aufgrund seines Zustandes, der Anleuchtung im Dunkeln und der allgemeinen Horrorausstrahlung faszinierte. Selbstredend besuchte ich das Haus am nächsten Abend. Kamaria habe ich leider nie wiedergesehen.

Wasser

Wir hatten also ein Gebäude. Wo sollte das Gebäude stehen? In der japanischen Tradition, schön zu sehen an Horrorfilmen aus der Gegend, ist Wasser ein typisches Gruselelement. Auch ich kann diesem Element viel Düsteres abgewinnen. Die Bewegungen von Flüssigkeiten im Dunkel können Angst machen, ihre Geräusche klingen wie Flüstern oder wie die Paukenschläge der Götter und Göttinnen vergessener Tage. Wasser ist schwach und stark, leise und laut, lebensnotwendig und manchmal tödlich. (Wer hier an Bruce Lee denkt, gewinnt.) Außerdem darf man nicht vergessen, dass Generationen die erste Horrorgeschichte war, die ich jemals geschrieben habe, noch vor jenen in Erschütterungen. Dann Stille.. Mich auf ein klassisches Horrorszenario zu verlassen, erschien mir also logisch: Das gruselige Haus, abgelegen, kein Kontakt nach außen. Es gab im Prinzip nur noch die Wahl aus Wald, Gebirgsgegend oder Küste. Mir gefiel das krachende Geräusch des Meeres an Steinklippen. Die Wahl war einfach. Alles danach nicht mehr. Es geht ans Eingemachte.

Epigenetik und Trauma

In der Zeit, in der ich meine Ideen für die Kurzgeschichten für Compendium Obscuritatis entwickelt habe, ging ich gedanklich der Frage nach, wie lange sich Traumata “vererben” können (ob nun genetisch oder durch Erziehung). Können die Erlebnisse der Urgroßeltern sich auf die Enkel*innen auswirken? Und wenn ja, geht man möglicherweise ähnlich mit den entstehenden Problematiken um wie die Vorgängergenerationen? Und wenn dem so ist, kann man dann überhaupt noch aus der Spirale ausbrechen? Das sind interessante Fragen, ganz besonders wenn man bedenkt, dass die Erlebnisse des 1. und 2. Weltkrieges für meine Generation oft nur 2 oder 3 Generationen zurückliegen. Mit wie viel Vorschädigung starten wir bereits ins Leben und wie viel Schaden kommt erst von außen?

Vielleicht kommt es von der Beschäftigung mit diesen Themen, dass es in Extras so viel um Kinder geht. Definitiv liegen diese Themen aber der Erzählung Generationen zugrunde. Das hört man bereits am Namen.

[Ab hier folgen Spoiler.]

Deutlich spürt man es auch an der Familienerzählung des Protagonisten, der berichtet, dass alle Männer seiner Familie geraucht haben. Noch deutlicher wird die Thematik im Bezug auf den Großvater. Dieser machte im Grunde das Gleiche durch wie sein Enkel, hörte auf zu rauchen und fing wieder an – ob übrigens meine Vorfahren geraucht haben, weiß ich nicht. Wir haben den Plot der Geschichte in ihr nochmal erzählt und sogar einen Vorgriff darauf, wie es nach Ende der Erzählung für den Protagonisten weitergehen wird. Die Sucht wird zurückkehren, er wird die gleichen Fehler wiederholen, die sein Großvater gemacht hat, die Spirale geht weiter.

Subebene: Trauma; das Monster

Betrachtet man die Erinnerungen des Protagonisten an seinen Großvater genauer, so sind sie sehr lückenhaft und dennoch creepy, man könnte sie als traumabelastet lesen, und dann kommt das Monster. Aus der Sucht, dem Rauchen, heraus, die den Protagonisten mit seinen männlichen Vorgängern verbindet, sowie dem erinnerungsträchtigen Ort der Geschichte erwächst ein (Un)Wesen. Es erinnert ihn an etwas (oder jemanden?), kommt ihm bekannt vor. Finger wie hölzerne Gehstöcke, Utensilien alter Menschen, so viele Finger. Ist das Wesen die Manifestation unterdrückter Erinnerungen an einen übergriffigen Großvater? Man kann Generationen so lesen. Das nenne ich die Albtraumebene. Der offensichtliche Horror eines Monsters in einem verfallenen Haus ist eine Ebene der Angst, aber schlimmer finde ich, dass die Angst und ihre Ursache möglicherweise aus dem Protagonisten selbst erwachsen sind. Die alte Furcht, irgendwann durchzudrehen, dass euch alles einholt, dass ihr euch erinnert an Dinge, die ihr nicht von euch wissen wollt, nicht erlebt haben wollt. Hier liegt der eigentliche Horror der Geschichte für mich. Ich hasse den Realismus dieser Ebene. Der Protagonist wird möglicherweise diesen Horror oder einen anderen wiederholen, weil er selbst zerstört worden ist und damit gezwungen (oder gedrängt) zu zerstören. Lest es als Aufruf, gut zu durchdenken, woher bestimmte (zerstörerische, selbstzerstörerische) Verhaltensmuster kommen und ob sie wirklich zu euch gehören, wirklich fortgeführt werden sollten, wirklich existieren sollten. Die Spirale, aus der nicht ausgebrochen werden kann, ist eine literarische Konstruktion, keine reale Zwangsläufigkeit. (Ihr dürft diesen Part auch gern als Beispiel für toxische Männlichkeit lesen, weil sich offenbar keiner der Männer in der Familie Hilfe gesucht hat, sondern alle ihre Probleme mit sich selbst ausgemacht haben, mit entsprechenden Ergebnissen.)

Er sieht seinen Großvater durch ein Fenster, blickt in die Vergangenheit, versteht, was passieren wird, was passiert ist, versucht, die Vergangenheit zu ändern, vergebens. Er kann den vermeintlichen Beginn des Horros nicht mehr stoppen, sondern muss (im Haus) alles alleine durchstehen. (Aber danach auch noch?)

Neue Fantasiewesen: Und dann das?

Thema der Anthologie Compendium Obscuritatis lautete Neue Fantasiewesen. Es sollten also Wesen vorkommen, die 1. erfunden und 2. in dieser Form neu sind. Ein handelsüblicher Werwolf tut’s also nicht. Wie ich bereits im Blogartikel Wie ich Ausschreibungen angehe gezeigt habe, arbeite ich für Ausschreibungen (und Anthologien) exzessiv viele Ideen aus, um danach zu sortieren. Ich hatte 13 umsetzbare Ideen, die ich auch tatsächlich zumindest im Ansatz geschrieben habe, von denen ich 5 ausgearbeitet habe, von denen wiederum 2 (Generationen und Extras) für die Veröffentlichung ausgewählt worden sind. Die 3 weiteren fertiggestellten Erzählungen finden sich jetzt in Erschütterungen. Dann Stille. und heißen Caspars Schiffe, Der Mitatmer und Eine Ziege, Vater.

Wie man merkt, habe ich für die meisten Geschichten die Fantasie in Fantasiewesen wörtlich genommen. Die Wesen stecken in den Köpfen der Figuren oder entspringen diesen. Nur Caspars Schiffe ist eine Ausnahme. Da ich die Wesen direkt in den Figuren verorten wollte, liegt es zumindest für mich und meinen Schreibstil nahe, dass sie mit Ängsten assoziiert werden. Augenwinkelmonster nannte ich als Kind die Dinge in den Schatten, die mir im Vorbeigehen Furcht einflößten, die man niemals sieht, wenn man genau hinguckt, sondern nur aus dem Augenwinkel, nur in dem Moment, in dem man sie passiert, unumkehrbar, und im nächsten Augenblick befinden sie sich hinter dir. Drehst du dich um, sind sie verschwunden. Aber was, wenn nicht?

Ängste, Depressionen, Paranoia, Sucht waren Assoziationen für die Fantasiewesen-Ideen. Depressionen lassen sich in Prosa, besonders Kurzprosa, schwer umsetzen. Angst ist einfacher. Das kennen wir alle. Depressionen sind ein langsames Nagen, ein Drehen im Kreis, monochrome Dunkelheit. Angst ist ein Blitz, ein zitterndes Hin und Her, eine Vibration im Rückenmark. Einfacher umzusetzen. Für Generationen habe ich eine Mischung gefunden: Sucht und Angst. Keine seltene Mischung. Manchem Suchteinstieg liegt Angst zugrunde, z.B. wenn Menschen trinken, um lockerer zu werden, um ihre Sozialphobie zu dämpfen. Und dass Traumata Monster erschaffen oder sogar sind, braucht kaum eine Erklärung.

In gewisser Weise habe ich keine neuen Fantasiewesen erschaffen, sondern lediglich alten Monstern neue Gesichter gegeben.

Erschütterungen. Dann Stille.: Die Wand

Über die Kurzgeschichte “Die Wand” aus “Erschütterungen. Dann Stille.”

Content Notes: Grusel/Horror/Spuk, Angst, Trauma, Drogen

Manchmal glaubt man, man wüsste, wohin die Reise geht, und dann führt sie doch woanders hin. Man meint der Antwort sehr nah zu sein, aber zwischen dir und ihr liegt eine Wand. Im Folgenden wird es Spoiler geben zur Erzählung Die Wand aus Erschütterungen. Dann Stille.. Wer sie noch nicht gelesen hat, sollte diesen Text auf später verschieben.

1. Creepy 2. Sad

Handelt es sich bei Die Wand schon um Horror, Grusel oder Ähnliches? Der Gruselfaktor folgt meiner Meinung nach erst aus der Auflösung, die unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen kann. Spoiler! Die Person, die in der Wand eingemauert ist und jeden einzelnen Moment mitbekommt, obwohl sie längst verstorben ist. Ich schreibe, was mir Angst macht, und eine solche Vorstellung empfinde ich als ungemein unangenehm. Einerseits, weil ich nicht möchte, dass man mir immer zuhört, und andererseits, weil ich keine Gespenster oder Leichen in der Wand haben möchte.

Zunächst liest sich Die Wand allerdings anders, und zwar als wäre die Erzählinstanz ein*e vereinsamte*r Nachbar*in. Man bekommt vielleicht Mitleid. Es wird creepy, wenn die Person sich an die Wand lehnt, um den Nachbarskindern näher zu sein. Natürlich hat man nach der Auflösung nicht weniger Mitleid und es ist nicht weniger unangenehm, aber aus einem potenziellen Täter ist ein Opfer geworden.

Orte mit Erinnerung

In der Poetik-Vorlesung Kommt, Geister spricht Daniel Kehlmann davon, dass alte Orte deshalb gruselig auf uns wirken (können), weil sie die Erinnerungen und Erlebnisse aller Personen beinhalten, die zuvor darin verweilt oder dauerhaft gelebt haben, vielleicht sogar dort gestorben sind. Es seien nicht die Orte, die uns Angst machten, sondern die vermeintliche Gegenwart vergangener Menschen und ihrer Erinnerungen. Geister. An einen Ort gebundene Seelen.

Die Erzählinstanz in Die Wand ist ein solcher Geist. Sie ist nicht boshaft, sondern furchtbar einsam und traurig. Wäre Boshaftigkeit nicht einfacher zu ertragen?

Die Sache mit der Wand

Ein Bekannter erzählte mir einmal, dass er eine Weile zu kiffen aufgehört hatte, weil er sich selbst dabei erwischte, wie er mit dem Vorschlaghammer vor der Schlafzimmerwand stand, weil er Stimmen aus der Wand gehört hatte. Er stand zu dem Zeitpunkt nicht unter Drogen. Nüchtern ist mir so etwas noch nie passiert.

Hier hätten wir einen der negativen Aspekte von (psychedelischen) Drogen, wie ich sie ganz kurz im Blogeintrag über Der Tod in Porto II: Abschied angesprochen habe.

Ob diese Geschichte etwas mit der Entstehung von Die Wand zu tun hat, weiß ich beim besten Willen nicht mehr zu sagen. Aber ich forsche hier. Ich habe keine definitiven Antworten.

Was soll das denn?

Aus meiner Sicht geht es in Die Wand um die Folgen von Traumata. Eine Person hat Schreckliches erlebt und ist unfähig mit irgendjemandem darüber zu reden. Sie bleibt durch die Tat abgekapselt vom Rest der Welt, als gehörte sie nicht mehr dazu.

Geschichten sollten niemals frei von Bedeutung existieren. Dank der Leser*innen tun sie das auch üblicherweise nicht. Aber ich würde auch keine Erzählung veröffentlichen wollen, die nicht irgendeinen tieferen Kern besitzt. Mag er nun entdeckt werden oder nicht. Die Wand ist nicht besonders tiefgründig, aber sie verbildlicht einen schrecklichen Zustand und wenn eine Person, der es zuvor nicht bewusst gewesen ist, diesen Zustand nachfühlen kann, hatte ich Erfolg.