Appetit auf andere Welten

Über die Beziehung von Literatur und Wirklichkeit sowie über manche, die die Grenzen verwischt haben.

Wenn du keinen Bock hast, kannst du auch nach Hause gehen sagte mir einmal ein Vorgesetzter und der Unsinn dieser Aussage (natürlich hatte ich keine Lust, aber gehen konnte ich dennoch nicht) ärgert mich noch heute. Jetzt gerade führt mich die Erinnerung an diesen Satz aber zu einer höheren Ebene: Wenn du unzufrieden bist, ändere etwas. Auch so ein kluger Spruch. Was, wenn man mit sich selbst oder der Realität an sich unzufrieden ist?

Zu Zeiten Edgar Allan Poes war es üblich, dass kurze Erzählungen in der Zeitung abgedruckt wurden und nicht immer wurde darauf hingewiesen, dass es sich um eine Geschichte handelte. Das nutzten einige Schriftsteller. Poe verfasste Geschichten, die wie Berichte von Gelehrten aussahen, die Namen und Rang vorgaben, um dann eine fantastische Gruselerzählung auszubreiten. Er hat damit so manche Person verunsichert. Man könnte aber auch sagen, er habe die Welt der Lesenden bereichert. Plötzlich war wieder mehr möglich und es gab scheinbar Dinge, die sich der normalen Erfahrungswelt entzogen.

Jorge Luis Borges verfasste Besprechungen von Romanen, die nicht existierten und weckte so das Interesse der Lesenden an ebendiesen Werken. Unter den Lesenden befanden sich auch Schriftsteller*innen, die versuchten, Borges’ Visionen umzusetzen, oder sich anderweitig davon inspirieren ließen. Ironisch kommentierte Borges diese Texte mit der Aussage, er habe nicht die Geduld, um Romane zu verfassen, also warum sollte er nicht deren Essenz nehmen und direkt eine Rezension schreiben? Damit drehte er den Weg um und ließ andere das eigentliche Werk erfinden oder ausfüllen.

In beiden Fällen wurde das Reale um das Mögliche erweitert, weil die Ebenen unklar waren. Erinnert das nicht an die Magie alter Zeiten, in der Aberglaube und Mythologie die Wälder, Felder, den Himmel und das Haus in der Nacht lebendig machten?

Jedes Werk der fiktionalen Literatur ist eine Entführung in eine Welt des Möglichen. Darin liegt ihre Macht. Wir werden weggeleitet von dem, was ist, und hin zu dem, was sein könnte. Sei es furchtbar oder schön, es wird bei uns bleiben und unser Denken verändern. Durch das Anfüttern verbesserter Beobachtungsfähigkeit, dem Hinlenken unseres Blickes auf Probleme und Hindernisse und dem Aufzeigen möglicher Konsequenzen unserer Handlungen trainiert Literatur unsere Unzufriedenheit. Das ist nur für jene schlecht, die uns faul und unwissend halten wollen. Das Buch 1984 war in der Sowjet Union verboten, weil es antikommunistisch war, und in den USA, weil es prokommunistisch war. Keine der beiden Regierungen wollte zu viele Fragen gestellt bekommen.

Auf privater Ebene gilt natürlich das Gleiche. Zeigt uns die Literatur nicht, was wir im Leben vermissen? Interpretiert (oder verteufelt) man Literatur als Mittel zur Realitätsflucht, so schreibt man ihr auch eine Deutungshoheit zu. Flucht scheint angemessen oder wenigstens gewünscht. Warum? Was suchen wir in Büchern, das wir sonst nicht haben? Eine Flucht zeigt immer eine Richtung an: auch im Zickzack führt der Fluchtweg immer von dem weg, das uns Angst macht oder stört. Das gewünschte Mögliche wird zum Gegenteil dessen, was man hat, und damit zum Kompass, der den Lesenden den eigenen emotionalen Süden zeigt.

Damit liegt die Rechtfertigung eines jeden Werkes im Menschlichen begründet – auch Werke, die wir verabscheuen, lehren uns etwas. Hier wäre Romantisierung allerdings fehl am Platz. Hetzwerke und Propaganda bedienen sich der gleichen Technik, die Poe verwendet hatte: die Vermischung von Irrealem (Lügen, Übertreibung, Fokusverschiebung) und Realem (Nachrichten) oder dem Anschein des Realen durch Plattformen und Textarten, die wir für glaubhaft halten. Doch das hier führt von fiktiver Literatur weg und wo keine Literatur mehr ist, wollen wir nicht hin.

Was für Lesende gilt, gilt auch für Schreibende, aber auf andere Weise. Während die Leser*innen im Inhalt eines Werkes den (verkehrten) Kompass ihres Innenlebens finden können, ist die Literaturarbeit an sich für Schriftsteller*innen geboren aus Unzufriedenheit, welche sich nicht zwangsläufig im Inhalt widerspiegelt. Das sollte ich erläutern. Mit „Unzufriedenheit“ meine ich nicht unbedingt Leid oder bewusste Verstimmung, sondern vielmehr ein Erkranktsein an der Armut der Realität. Wir wissen, es sollte mehr geben, als es gibt. Es kann konkreter ausfallen, indem man wünscht, dass die Realität anders sei (freier, gerechter, bunter, glücklicher), aber die Grundunzufriedenheit, die die Menschheit immer vorangetrieben hat, ist uns eigen. Davon bin ich überzeugt, selbst wenn man um dieses Wissen oder Gefühl eben nicht bewusst weiß. Vielleicht erwächst gerade aus dieser Paradoxie die schönste Ideenwelt. Zufriedenheit korrumpiert, auch wenn wir sie alle anstreben. Wer ernsthaft meint, alles sei in bester Ordnung, wird still sein und sich nicht in die Fiktion wagen.

Wir arbeiten hart, um Alternativen zu bieten. Das berühmte „Was wäre, wenn …“ ist der Anfang jeder literarischen Arbeit, jeder wissenschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Neuerung. Wir müssen uns dessen nicht bewusst sein. Unser Pflicht besteht einzig darin, unseren Weg zu gehen. Er ist es wert, gegangen zu werden.

Der Traum ist Teil der Realität

Über die Verbindung von Fantasie und Realität in unserer Wahrnehmung sowie der literarischen Umsetzung dieser Verbindung.

Im Laufe eines Tages sammeln sich fast unendlich viele kleine und große Erlebnisse, Gedanken und Bilder im Kopf an, die nachts verwertet werden. Die Träume bilden neue Erlebnisse und Bilder, die wiederum den nächsten Tag beeinflussen. Dadurch formt sich die Realität für jede*n anders.

Menschen haben Glaubenssysteme und Überzeugungen, durch die sie ihre Realität sortieren und bewerten, was diese Realität wiederum verändert. Es wird gefiltert und gefühlt und abgespeichert. Während die eine Person durch einen Supermarkt geht und in Gedanken schwelgt, konzentriert sich die nächste auf die großartige Auswahl, eine weitere auf die Gerüche und noch eine sieht überall eine Weltverschwörung, die durch Chemie in Lebensmitteln versucht, die Menschheit zu vergiften. Der gleiche Supermarktbesuch führt zu völlig unterschiedlichen Erlebnissen. Die Psyche eines Menschen und sein körperlicher Zustand beeinflussen maßgeblich, wie er die Welt wahrnimmt.

Es gab und gibt viele Versuche, diese Gegebenheit in der Literatur darzustellen. Im als „Bewusstseinsfluss“ bezeichneten Ansatz stellen Autor*innen parallel die Geschehnisse, die Gedanken der Figur und ihre Gefühle dar. Ohne klare Abtrennung werden diese Ebenen vermischt. Ein gutes Beispiel dafür wäre Tauben im Gras von Wolfgang Koeppen. Allerdings ist diese Technik nicht bloß schwer anzuwenden, sondern auch anstrengend für die Lesenden.

Der Magische Realismus wiederum verbindet Elemente aus Religion, Mythologie und Fantasie mit jenen der allgemein anerkannten Realität. Gleichberechtigt stehen sie nebeneinander. Diese Tradition hat meiner Meinung nach einen natürlichen und ungezwungenen Kern und Ursprung. Liest man beispielsweise Celtic Twilight von William Butler Yeats, eine Zusammenstellung von Mythen seiner Heimat Irland, die durch Gespräche mit Einheimischen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden ist, findet man in den Erklärungen und Erzählungen der Menschen bereits die Vermischung aus Glauben und Realität. Sie glauben noch fest an Teufel, Hexen, Kobolde, Feen und andere mythologische Figuren. Der Glaube führt so weit, dass sie im Nebel, im dunklen Wald oder in der Ferne diese Wesen sehen. Besondere Geschehnisse oder auch alltägliche werden durch das Vorhandensein einer kaum oder gar nicht sichtbaren zweiten Welt erklärt. Die Realität der Iren zu jener Zeit war magisch. Die Aussage, dass Magischer Realismus im Grunde Fantasy mit höflicherem Namen sei, wurde mehrfach getroffen. Was wir heutzutage allerdings zuallererst mit dem Fantasy-Genre verbinden, ist wohl etwas anderes. Die Parallelen sind jedoch gegeben.

Surrealismus ist im Kern gezwungener und bewusster. Die Grenzen zwischen „objektiver“ und subjektiver Realität werden verwischt, Träume dringen ins Leben ein, Drogentrips sind Teil der Geschehnisse. Es gibt einen relativ großen philosophischen Unterbau für den Surrealismus, der im Grunde besagt, was ich in der Einleitung geschrieben habe: die Gesamtheit unserer inneren und äußeren Eindrücke bildet die Realität. Ändert man diese Gesamtheit beziehungsweise Parts davon, verändert man die Realität. Das war der Auftrag des Surrealismus: eine neue Literatur/Kunst, eine neue Sprache und am Ende eine neue Realität zu schaffen.

Derart hochgesteckte Ziele habe ich nicht. Mir fehlt weitestgehend die Überzeugung dafür (aber nicht vollkommen). Dennoch vermische ich Welten und trudele irgendwo zwischen Magischem Realismus, Surrealismus und anderen Dingen (wie auch immer sie heißen mögen). Warum? Weil es sich richtig anfühlt. Meine Welt ist dunkel und bunt und voller Bilder, die in „Wirklichkeit“ nicht da sind, voller Assoziationen und Bezüge und Verbindungen. Denke ich an meine Werke, verbinde ich sie mit verschiedenen Farbschattierungen. Es wäre zu schade, würde ich nur darstellen, was ich mit den Augen sehen kann. Der große Reichtum steckt hinter den Augen.

Der Erfolgsgeheimnis des Menschen war immer sein Einfallsreichtum. Mit ihm sind wir an die Spitze jeder Nahrungskette gestiegen, aber haben auch so manches Ökosystem ruiniert, weil wir immer die Realität an uns und unsere Bedürfnisse anpassen. Wir können das gleiche in der Literatur schaffen: die Wahrnehmung der Lesenden ändern und damit die Welt – zum Guten oder zum Schlechten. Doch wer bin ich, dies zu bewerten? Ich zeige als Autor Möglichkeiten auf, andere ziehen Schlüsse.

Sorck: Vorlage und Sinnzusammenhang

Der Reiseroman Sorck ist ein fiktionales Werk. Daran gibt es keinen Zweifel. Wie es bei vielen fiktiven Geschichten allerdings der Fall ist, hat das Werk etliche Wurzeln in der Realität und greift Geschehnisse auf, die wirklich passiert sind. In diesem Eintrag soll es weniger um die konkreten Vorlagen für Szenen des Buches gehen, sondern mehr um die Idee von Sinnzusammenhängen in der Literatur, wo in der Realität keine bestehen. Dennoch könnte es mir passieren, dass minimal gespoilert wird.

Wer Sorck gelesen hat, weiß, dass meine Reise auf einem Kreuzfahrtschiff niemals so ausgesehen haben kann. Die Reise an sich, also eine Kreuzfahrt mit Landgängen an den im Buch vorkommenden Stellen und Besuchen in den meisten der beschriebenen Orte, habe ich 2013 mit meinem Bruder und meinen Eltern gemacht. Damals hatte ich noch keine Ahnung, dass ich einmal einen Roman darauf fußen lassen würde. Ansonsten hätte ich vermutlich mehr Fotos geschossen und mehr Notizen gemacht. Mein Bruder und ich teilten uns eine Innenkabine, ähnlich der, die Martin Sorck im Buch bewohnt. Ich kann mich an keinen Reisetag erinnern, an dem ich mich nicht in den Schiffsbars betrunken hätte, also wäre die Parallele ebenfalls abgehakt. Niemand wird ernsthaft gedacht haben, dass ich mir so viel Suff zusammenspinne, um eine Figur zu zeichnen, oder? Eines Nachts kam ich in die Kabine zurück und mein Bruder schlief bereits. Als ich das Licht anmachte, wachte er halb auf und schlug mehrmals auf das Bild eines Sonnenaufgangs an der Wand, weil er im Halbschlaf dort die Lichtquelle vermutete. Das könnte der Ursprung meiner Idee des Wandbildes im Roman gewesen sein. Leider basieren einige Szenen, die im Buch allerdings massiv überspitzt wurden, ebenfalls auf Erlebnissen. Das Ende des Besuchs im Petersburger Museum kommt in Sorck tatsächlich extrem nahe an das heran, was damals dort geschah. Eduardo hat ebenfalls eine reale Vorlage in einem sehr sympathischen Kellner, den ich leider nicht näher kennenlernte.

Wie bereits gesagt, habe ich alle realen Vorlagen überspitzt, verändert und erweitert, ihnen einen anderen Rahmen verpasst und Geschehnisse hinzuerfunden. Der Roman hat mit den Geschehnissen, die ich erlebte, so viel zu tun, wie ein Haus mit einem Berg, aus dem die Mauersteine geschlagen wurden.

Doch was, wenn ich alle Geschehnisse nacherzählt hätte, wie ich sie erlebte? Das wäre eine Autobiographie. Stelle ich aber einen Erzähler dazwischen und eine Figur, die nicht ich bin – das sollte ich hier ganz deutlich sagen: Martin Sorck bin nicht ich, auf den Gedanken sollte hier niemand verfallen –, ändert sich alles. Dadurch, dass aus einem realen Geschehnis das Erlebnis einer fiktiven Figur wird, wird auch das Geschehnis fiktiv und steht in anderem Kontext. In der Realität gehorchen Geschehnisse lediglich den Gesetzen der Kausalität – Newton sitzt unter dem Baum, es ist windig, der Apfel wurde ausreichend geschüttelt und ist reif genug, also fällt er herunter –, während in der Literatur den gleichen Geschehnissen ein Sinn zugeordnet wird: Newton musste exakt dort sitzen, der Apfel fiel nicht zufällig, sondern nur und mit dem vorgefassten Plan, der Figur Newton die Idee der Gravitationsgesetze einzuhämmern. Betrinkt sich der Autor Matthias Thurau auf einem Kreuzfahrtschiff, sagt das vielleicht etwas über seinen Charakter und sein Leben aus, aber ist keineswegs notwendig für sein weiteres Leben, nicht geplant, nicht Teil eines größeren Sinnzusammenhangs. Betrinkt sich die Figur Martin Sorck, hat das einen Sinn und kann innerhalb des Kontexts des Romans verstanden werden. Das, was wir Schicksal nennen, ist in der Literatur Standard, während es in der Realität bloß die Hoffnung auf eine Bedeutung unserer Existenz ausdrückt. Möglicherweise entstand die Literatur aus dem gleichen Gedanken und hat daher diese Parallelen. Tschechows Gewehr besagt, dass ein Gewehr (→ irgendein Gegenstand, Bestandteil), das am Anfang der Geschichte an der Wand hängt (→ auftaucht, erwähnt wird), spätestens am Ende der Geschichte zum Einsatz kommen muss (→ nicht überflüssig sein darf). In der Realität ist ein Gewehr bloß ein Gewehr – ohne Gewehr gibt es keinen Tod durch Erschießen, aber nur weil die Waffe vorhanden ist, bedeutet das nicht, dass unbedingt jemand sie benutzen muss (oder, um es komplizierter zu machen, es eine besondere Bedeutung hätte, wenn jemand es eben nicht benutzt). Dieses Spiel der Bedeutungen von Dingen, die im echten Leben bedeutungslos sind, habe ich im Roman hier und da auf die Spitze getrieben und beispielsweise Sinn in Zahlen (Zimmernummern etc.) codiert.

Eine Bemerkung zu einem Effekt, den ich immer interessant fand und der an das Thema anschließt: Das Leben eines Menschen wird gerne von seinem Tod oder seinen Lebenshöhepunkten aus interpretiert. Sartre verstand das bereits als Kind (oder behauptete dies in Die Wörter). Er zitierte Zeilen aus Büchern, die er nicht verstand, oder sagte kryptische Dinge, die keinen Sinn hatten, aber so klangen, als hätten sie welchen, mit dem spezifischen Ziel, den Erwachsenen die Erinnerung daran zu geben, dass er bereits als Kind dazu auserkoren war, ein Schriftsteller und Philosoph zu werden. Vor einiger Zeit hörte ich im Radio von einem Fußballer, der bereits als Kind und Jugendlicher lieber Fußball gespielt hat, als zur Schule zu gehen. Hier spürt man es deutlicher als bei Sartre: es gibt unzählige Kinder und Jugendliche, die lieber Fußball spielen, als zur Schule zu gehen. Aus den meisten wird aber kein Profi. Aus Sartre hätte auch kein Schriftsteller werden müssen. Die Bedeutung wird erst im Nachhinein hinzugedichtet. Jede Biographie berühmter Menschen arbeitet damit. Es hätte aber auch ganz anders kommen können. Nur in der Kunst gibt es einen höheren Sinn auch in den kleinsten Dingen. Das ist einer der vielen Gründe, warum ich die Literatur der Realität vorziehe.

Eine Leseprobe des Romans gibt es hier: Sorck: Leseprobe

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