Erschütterungen. Dann Stille.: Masse

Über die Kurzgeschichte “Masse” aus “Erschütterungen. Dann Stille.”

Toxische Maskulinität. Das könnte eine mögliche Überschrift für einen Blogeintrag über die Erzählung Masse in Erschütterungen. Dann Stille. sein. Manche lernen ihr Leben lang, keine Schwäche zeigen zu dürfen. Das ist ein Problem. Es wird (ein paar wenige) Spoiler geben in diesem Artikel. Bitte lest zuerst die Geschichte und dann hier weiter.

Content Notes: Toxische Maskulinität, Training, psychische Probleme, Suizid

Fitnesssprache

Schaut man sich online Fitnessvideos an, kann man sich das Schmunzeln oft nicht mehr verkneifen. Aufgepumpte Typen, die laut „Masse“ brüllen, während sie die letzten Wiederholungen vollführen. Andere, die erzählen, dass sie in der Massephase 17 Eier als Abendessen hatten. „Schweiß ist Schwäche, die den Körper verlässt“, „ich werde schon wieder flach“, „Flachheit ist der Feind“ und viele andere Ausdrucksmonstren fliegen durch die Gegend.

Neben diesen meist der Motivation dienenden Ausdrücken, gibt es natürlich Fachbegriffe. Das Wort „Spotter“ kommt in der Kurzgeschichte Masse vor. Ein „Spotter“ passt auf, dass derjenige, der gerade auf der Bank liegt und Gewichte stemmt, nicht von der Langhantel erschlagen wird. Er steht hinter ihm und fängt notfalls das Gewicht auf. Dass das „Gym“ für „Gymnasium“, also den englischen Begriff für Fitnessstudio, steht, werden die meisten wissen.

Erfahrung und Erfindung

Es gibt Dinge, mit denen ich meine Zeit fülle, die nichts mit Literatur zu tun haben. Diese Erlebniswelten sind zum Teil ebensolche, die man selten in der Literatur (oder Literatur, die ich rezipiere) finden kann. Fitness ist eine solche Sache. Ich gehe stark davon aus, dass es zwar ein Klischee ist, aber dennoch wahr, dass Autor*innen grundsätzlich eher geistigen Tätigkeiten zu- und körperlichen Tätigkeiten abgeneigt sind.

Lustigerweise war ein Hauptbeweggrund für mich, nach einer etwa 15jährigen Unterbrechung wieder Sport zu treiben, die Auswirkung der verbesserten Fitness auf meine geistige Leistung. Oder anders: wer fit ist, kann länger konzentriert lesen und arbeiten. Darum ging es mir. Inzwischen sind ganz andere Aspekte in den Vordergrund gerückt. Einer davon ist der Spaß am Vorantreiben und Überschreiten der eigenen Grenzen. Es ist ein umwerfendes Gefühl, bis zum Zusammenbruch zu trainieren, und das nächste Mal noch mehr leisten zu können. Das führt allerdings bald zu der Erkenntnis, dass es irgendwann entweder nicht mehr weitergeht oder man nichts mehr tut neben dem Training. Ich selbst habe das gelernt, als ich eine Weile 6 Tage pro Woche 2-3 Stunden trainiert habe und gelegentlich vormittags und abends noch ein kurzes halbstündiges Zusatzworkout drauf gepackt hatte. Das ging so lange gut, bis es eben nicht mehr ging. Dann wurde ich krank. Das ist steigerbar, aber es kostet.

Ablenkung

Wer kennt es nicht? Es geht dir schlecht und anstatt dich mit dem Gefühl auseinander zu setzen, lenkst du dich ab. Das kann mit Alkohol, Drogen, Filmen, Sex und allem anderen gehen. Training ist hervorragend dafür geeignet. Glaubt mir.

Mehr muss man dazu kaum sagen. Und doch: Es ist möglich, allein durch Sport high zu werden. Es ist nicht übertrieben, wenn ich behaupte, dass ich mehrmals während des Trainings mit einem Lachflash zusammengebrochen bin. Die Ablenkung funktioniert, der Kopf leert sich, Körper und Hirn haben Besseres zu tun, als sich um Traumata oder Traurigkeiten zu kümmern. Tatsächlich funktioniert das als Hilfe bei Suchtdruck oder einem Hang zur Selbstverletzung ebenfalls. Sport ist grundsätzlich etwas Gutes. Das sollte man hier nicht vergessen.

Der Sprung in der Mitte

Der Ton von Masse bricht im Laufe der Geschichte. Die anfängliche Stimme, jene mit der der Ich-Erzähler bisher immer gesprochen hat, reicht nicht mehr aus für das, was er wirklich (schon immer) sagen will. Der Bro-Ton des Anfangs genügt nicht. Dieser Ton spielt alles runter und mit ihm spielt der Erzähler auch seine Probleme noch runter, witzelt darüber. Es genügt nicht, immer stark zu tun. Das reicht nicht. Wir müssen schwach sein dürfen. Das ist wohl der Kern der Geschichte. Erlauben wir uns, schwach zu sein.

Gerade in der Fitness-Szene ist wenig Platz für Schwäche, obwohl gerade dort meiner Erfahrung nach der Schauplatz für verschiedenste psychische Probleme ist. Alle möglichen Schwierigkeiten werden wegtrainiert. Toxische Maskulinität ist nicht nur, wie falsch Männer mit Frauen umgehen, sondern auch wie sie mit sich und einander umgehen. Es gibt unausgesprochene Regeln und Verbote. Schwäche darf kaum sein. Das ist doch ekelhaft. Man ist kein „Lauch“ oder „Lappen“ oder „Schwächling“, nur weil man sich und anderen Gefühle und Probleme eingesteht.

Perverserweise ist es die gleiche Kultur, die Suizid als Feigheit abstempelt, die die Wege dorthin zu Einbahnstraßen macht. Man darf nicht nach Hilfe fragen, sondern muss alles schlucken „wie ein Mann“ und alleine damit zurechtkommen. Mich kotzt das an. Deshalb gibt es diese Geschichte.

Erschütterungen. Dann Stille.: Paradies

Über die Erzählung “Paradies” in “Erschütterungen. Dann Stille.”

Content Notes: Moral/Ethik, Religion, Suizid, Leid

Darf man ein nicht mehr ertragbares Leben (selbst) beenden? Was ist wertvoller: Das Leben als solches oder ein (natürlich für die betroffene Person selbst) lebenswertes Leben? Dürfen andere für uns entscheiden, was wir mit unserem Leben und mit unserem Körper anstellen? Wo ziehen wir die Grenzen?

Im folgenden Blogeintrag geht es um die Kurzgeschichte Paradies aus Erschütterungen. Dann Stille.. Spoiler sind unvermeidbar. Bitte lest zuerst die Geschichte und dann diesen Text!

Unhaltbare Moral

Moralisches Verhalten ist jedes Verhalten, das einer Ethik folgt. Diese Ethik wiederum (und das dazugehörige Verhalten) können unmoralisch wirken und (relativ) sogar sein, wenn man selbst einem anderen Ethiksystem folgt.

Die Moral fundamentalistischer Christen beispielsweise erscheint mir grausam, veraltet und absolut abschaffenswürdig. Wir reden hier nicht von Nächstenliebe, sondern von Abscheulichkeiten wie Abtreibungsverboten oder eben historisch: Völkermord, Unterdrückung, Kolonialisierung, wenn es beispielsweise um die Konquistadoren in Südamerika geht.

In Paradies habe ich mich für eine Gemeinde von Konquistadoren entschieden und sie symbolisch für artverwandte Denkrichtungen heutzutage verwendet.

Hopp, Hopp, Himmel und Hölle

Das Leben der Dorfgemeinschaft in Paradies ist alles andere als paradiesisch. Warum halten sie das aus? Es werden 2 Antworten darauf gegeben. Einerseits sind sie alle fest davon überzeugt, dass Suizid eine Todsünde ist (was angesichts der Gräueltaten, die sie selbst begangen haben und auf die sie auch noch stolz sind, pervers erscheint). Andererseits startet ein solcher Glaube immer in der Gemeinde und bleibt nur in dieser lebendig. Oder anders: Gruppendruck. Man stellt Wachen auf, damit sich niemand umbringt. Stellt euch ein Leben vor, das aus Jahrhunderten des Leidens besteht, und dann stellt sich jemand vor euch und lässt euch nicht sterben.

Religion ist eine intersubjektive Absprache. Als Kind wird dir erklärt, dieses und jenes sei zu glauben und jenes und welches sei falsch. Herzlichen Glückwunsch, Kind, du bist jetzt Republikaner (oder Katholik, Mormone, Moslem, Buddhist oder was auch immer). Die Gemeinschaft hält ihre Grenzen dicht nach innen, damit niemand entkommen kann. Der Blödsinn, der daraus erwachsen kann, ist unfassbar.

Gedankenexperimente

Philosophie ist keine Disziplin, in der man sich die Hände schmutzig macht. Im Grunde findet alles im Kopf statt. Wenn Chemiker*innen Säuren zusammenkippen und Physiker*innen mit Lasern spielen, veranstalten Philosoph*innen Gedankenexperimente. Sinn von Gedankenexperimenten ist es beispielsweise, Situationen aufzuzeigen, in denen Fehler von Theorien oder Denksystemen zutage treten.

Paradies kann als solches Gedankenexperiment gelesen werden. Ist das System hinnehmbar, wenn es den einzigen Ausstieg aus einer unerträglichen Situation verbietet? Vergessen wir nicht, dass wir zwar nicht mehr von der Kirche des Mittelalters reden, die Personen, die sich selbst töteten, nicht mit Messe und auf dem Friedhof beerdigen ließ, aber die Regeln der gleichen Kirche noch immer die Grundlagen der Moral unserer Gesellschaft bilden. Darf man den Freitod wählen, wenn das Leben unerträglich wird? Jetzt wären wir mitten in der Debatte um den Gnadentod für Schwerstleidende.

Nebenthemen und Assoziationen

Ich weiß nie, ob Leser*innen gewillt sind, so weit zu denken, wie ich es mir erhoffe. Assoziationen zur Freitod-Debatte und zu veralteten Moralvorstellungen sollten jedenfalls aufpoppen. Die Dorfgemeinschaft als Vertreter unzeitgemäßer und geradezu brutaler Wertvorstellungen ist recht deutlich dargestellt, denke ich. Sie raubten und mordeten im Namen ihres Ethiksystems. Nur das nicht enden wollende Leben hält sie davon ab zu verschwinden, wie es sein sollte. Angesichts dessen fragt man sich, warum ähnlich Denkende noch heute so dermaßen viel Macht besitzen.

Dystopie

Die Dorfgemeinschaft in Paradies folgt festen Regeln, christlichen Regeln. Der Vorsteher verkauft die Existenz dort nicht nur als Leben, sondern sogar als paradiesisches Leben. Die Logik ist schwer zu schlagen. Was erwartet jemanden im Paradies? Ewiges Leben in der Gemeinschaft der Gläubigen. Das ist natürlich auch Unfug. Die Existenz im Dorf ist mindestens das Purgatorium. Man könnte argumentieren, dass das Ende der Vorhölle durch den Freitod eingeleitet wird und danach der Himmel folgt. Das Leid wäscht die Seele rein, wie in Dantes Göttlicher Komödie. Doch die Dorfgemeinschaft ist dermaßen verbohrt in ihren Ansichten, dass sie das nicht sehen können. Sie bleiben sogar ihrem Gott fern und sind in einer moralischen Sackgasse gefangen. Wie Republikaner, die vom Krieg profitieren, Waffenbesitz verteidigen, Polizeibrutalität und systemischen Rassismus unhinterfragt akzeptieren, während sie gleichzeitig von christlichen Werten sprechen.

Eine solche Gesellschaft, die eine derartige Grausamkeit und Brutalität als positive Werte verkauft, während Unterdrückung herrscht, ist eindeutig eine dystopische. Wir sollten nicht zulassen, dass dieser Horror weiter Fuß fasst in der Welt. Hoffen wir das Beste und handeln wir danach!

Der Unmoralische als Moralmensch

Der Ich-Erzähler ist kein Mensch, den man als besonders „moralisch“ bezeichnen würde. Vielleicht folgt er seiner eigenen Ethik, aber auch diese folgt nicht den gängigen Normen. Kurz: Er ist ein Krimineller. Das wird jedenfalls angedeutet. Er wirkt egoistisch, dank seines bunten Aufzugs geradezu egozentrisch. Aber dumm ist er nicht.

Der Vorteil des Egoismus ist, dass man das eigene Leid bemerkt, ohne es durch irgendwelche Normen zu rechtfertigen. Es mag Adel liegen im Leid, aber das heißt nicht, dass man leiden muss, wenn es auch anders geht. Der Ich-Erzähler erkennt das. Er durchblickt die Situation, und bringt sich um.

Erschütterungen. Dann Stille.: Der Tod in Porto I

Über “Der Tod in Porto I: Die Springer” aus “Erschütterungen. Dann Stille.”

Zwei Geschichten in Erschütterungen. Dann Stille. habe ich mit Der Tod in Porto betitelt. Zur Unterscheidung gibt es Der Tod in Porto I: Die Springer und Der Tod in Porto II: Abschied. Beide Erzählungen haben als Thema den Tod und als Schauplatz die Stadt Porto (oder ihre unmittelbare Umgebung). Ansonsten existiert keine inhaltliche Verbindung zwischen beiden, wohl aber Verbindungen anderer Art. Wer Der Tod in Porto I: Die Springer noch nicht gelesen hat, sei an dieser Stelle vor Spoilern im folgenden Text gewarnt.

Content Note: Suizid

Entstehung

Vor einer Weile habe ich einen Familienurlaub in Porto gemacht. Obwohl wir gemeinsam verreisen, trennen sich unsere Wege immer an mindestens einem Urlaubstag und jede*r zieht allein los. An meinem Tag allein in Porto bin ich hauptsächlich herumspaziert, habe Notizen gemacht und habe gegessen. Es war ein guter Tag mit schwarzen Burgern und guten Ideen. Am Ende des Urlaubs standen die Pläne für beide Porto-Texte. Sie sollten kurz darauf in einer ersten Version umgesetzt werden und wurden für Erschütterungen. Dann Stille. erheblich überarbeitet.

Die morbide Schönheit Portos / L’Appel Du Vide

Ich bin ein morbider Typ. Ich mag Friedhöfe, Ruinen und Stellen, von denen aus man in den Tod stürzen könnte. Daher kenne ich das Gefühl des L’Appel Du Vide, des Rufes der Tiefe, sehr gut. Der Begriff bezeichnet das Gefühl, das man gelegentlich an hohen Stellen hat: Eine Art Sog in den Abgrund, den entfernten Wunsch abzuspringen. Man steht weit oben und denkt, nur ganz kurz, warum eigentlich nicht?

Porto ist auf beiden Seiten des Douro an die Hänge gebaut und mehrere Brücken, davon eine, die Ponte Luiz, zentral, überspannen den Fluss. Die Ponte Luiz hat zwei Ebenen, von denen die untere etwa 5 Meter über dem Fluss verläuft und die obere etwa 60 Meter. Von oben zu stürzen, wäre tödlich. Man gelangt von der Brücke aus am einen Flussufer recht schnell zur alten Klosterfestung, die noch etwas höher über dem Meeresspiegel liegt. Von oben aus kann man hinabschauen in ausgebrannte Häuser, deren Fassaden von der Straße aus noch intakt wirken, und weit den Fluss entlang und über die Stadt blicken.

Worauf ich hinauswill, ist, dass Porto voller Ruinen (neuer und alter) ist, es Armut abseits der Hauptwege und unzählige Stellen gibt, von denen aus man in den Tod stürzen kann.

Die schwarze Pest

Als die Pest in Europa wütete, schien für viele Menschen der Weltuntergang nahe, und mit jedem gestorbenen Menschen ist auch ein Stück der Welt verloren gegangen. Allerdings führte das große Sterben im Nachhinein auch zu weniger Knappheit und mehr Wohlstand. Diesen Vorgang sowie die Grundfunktion des kapitalistischen Marktes, Angebot und Nachfrage, wollte ich in das Todesszenario von Der Tod in Porto I: Die Springer einbauen.

Schon wieder Ethik

Der Tod in Porto I: Die Springer erzählt eine obszöne Geschichte und der Erzähler tut das ganz locker, um einem Gast die Wartezeit aufs Essen zu verknappen. Das steht im klaren Kontrast zu den moralischen Fragen, die die Erzählung aufwirft: Darf man vom Elend anderer profitieren? Wie sehr darf man davon profitieren? Ist jede Lösung akzeptabel, sofern das Problem hinterher nicht mehr existiert? Was ist unsere Rolle in der kapitalistischen Maschinerie? Wie häufig machen wir die Augen vorm Elend zu und wie häufig mischen wir direkt oder indirekt mit?

Diese Geschichte bietet wenig Antworten, aber ich hoffe sehr, dass sie zu Gedanken und Fragen anregt.

Fragwürdiger Typ

Auch wenn er nicht beschrieben wird, habe ich eine ganz klare Vorstellung vom Ich-Erzähler. Diese werde ich hier nicht darstellen, um Leser*innen in dem Bereich nicht zu beeinflussen. (Mich würde aber interessieren, wie Ihr euch den Typen vorgestellt habt. Schreibt mir gerne dazu!) Allerdings lasse ich einige Details durchblicken. Der Erzähler macht ein paar (unbedachte?) Bemerkungen, die aufmerksame Leser*innen aufhorchen lassen sollten.

Ein Beispiel wäre der Satz: Aber wir mussten ja alle irgendwie leben, nicht wahr? Dieser Satz fällt, nachdem der Erzähler von den Vermittlern berichtet, die Todesspringer managen und animieren. Zwar kann man den Satz sehr allgemein lesen und das wir mussten nicht wörtlich nehmen, sondern im Sinne eines man musste. Aber einerseits wäre auch das eine Relativierung des unglaublichen Leids, das in der Stadt herrschte und von den Vermittlern noch verschlimmert worden ist, andererseits steht dort nun einmal wir und der Erzähler scheint ungewöhnlich häufig in der Nähe der Springer gewesen zu sein.

Schlimmer noch ist, dass er zwischendurch geradezu ins Schwärmen gerät, während er berichtet. Das passt zu der seltsamen Grundtatsache der Geschichte, dass sie einem Hotelgast vom Gastgeber vorm Essen berichtet wird. Eigentlich ist das keine Story, die man mit jemandem teilt, der Urlaub machen möchte. Offensichtlich gibt es also einen Drang, all das zu berichten.

Der junge Springer

Das i-Tüpfelchen meiner Inspirationsreise, nachdem ich die Ruinen und die Punkte gesehen hatte, von denen aus man stürzen könnte, den L’Appel Du Vide gespürt und bereits die meisten Ideen gesammelt hatte, beobachtete ich zwei Teenager. Der eine Junge trug einen Neoprenanzug und stand auf der unteren Ebene der Ponte Luiz. Der andere Junge sammelte Geld ein. Als er genug hatte, stieg der erste auf die Brüstung und sprang in den Fluss. Plötzlich passte alles zusammen.

Eine Erinnerung an Slava Polunin

Erinnerungen an Slavas Snowshow und Gedanken über Leid in der Kunst.

Wo ich mit diesem Blogeintrag hin will, weiß ich noch nicht. Es dreht sich um die Erinnerung an den Clown Slava Polunin und seine Show, die ich vor etlichen Jahren gesehen habe. Ich fange einfach mal an und schaue, wo es mich hinführt.

Ein Clown betritt die Bühne. Er wirkt schmutzig, alt, müde, traurig. Um seinen Hals ist eine Schlinge gelegt. Er will sich erhängen. Das dicke Seil führt von der Schlinge durch seine linke Hand, über den Boden und ins Off. Er schaut ins Publikum, geht ein paar Schritte, zieht das Seil hinter sich her. Es ist länger, als man geglaubt hätte. Dann zieht er am Seil, erst langsam, dann schneller, und mit einem letzten Ruck springt ein zweiter Clown auf die Bühne, um dessen Hals das andere Ende des Seils als Schlinge gebunden ist. Das Publikum lacht. Die Szene ist todtraurig, aber bringt das Publikum zum Lachen.

Den Großteil der restlichen Show habe ich vergessen. Es ist, wie gesagt, etliche Jahre her, vielleicht 10 oder 12 oder noch mehr. Diese Szene jedoch ist mir geblieben. Sie ist nicht bloß eine der wenigen Clown-Szenen, die mir wirklich gut gefielen, sondern scheint mehr zu bedeuten, als mir gerade klar ist. Vielleicht ist es simpel. Vielleicht soll es sagen, dass wir nicht allein sind, dass wir alle gemeinsam in dieser Misere stecken, welche auch immer das sein mag. Vielleicht bedeutet es, dass auch oder gerade Unglück verbindet. Das gefällt mir. Wir sind nicht allein, ganz besonders dann nicht, wenn wir davon überzeugt sind.

Gibt es eine Gemeinschaft der Leidenden (um es mal besonders theatralisch auszudrücken)? Schweißt uns, die wir uns ausgestoßen fühlen oder traurig oder schwach oder schlicht anders, genau das zusammen? Ich glaube, Menschen, die Leid in irgendeiner Form erlebt haben, ein besseres Gespür für das Leid anderer haben. Leidende haben eine größere Kapazität für Mitleid. Dass manche stumpf werden von ihrer eigenen Erfahrung, kommt natürlich auch vor. Das ist dann das berühmte was dich nicht umbringt, macht dich stärker, das diejenigen meinen, die selbst weniger durchgemacht haben. Vielleicht sollte man es umformulieren. Was dich beinahe dazu gebracht hätte, dich selbst umzubringen, macht dich stärker und sensibler? Natürlich klingt das weniger knackig.

Die Szene mit den beiden Schlingen könnte aber auch bedeuten, dass das Leid der einen Person das einer anderen nach sich zieht, wie der Clown das Seil und den anderen Clown auf die Bühne gezogen hat. Doch die Version missfällt mir. Sie zwingt eine Bürde auf, die Bürde, an andere zu denken und auf andere zu achten, wenn man gerade auf sich selbst achten sollte. Man sollte nicht vergessen, was man anderen antut, wenn man sich selbst etwas antut, aber das darf nicht der Grund sein, sich selbst nichts zu tun.

Die doppelte Schlinge nimmt beiden Clowns die Möglichkeit, sich zu erhängen, es sei denn, sie arbeiteten zusammen und würden sich gemeinsam über einen Ast baumeln lassen. Einerseits nähme dies dem Suizid beider das Urprivate der Handlung. Andererseits führte es zu einer tragikomischen Situation, die man mit etwas Artistik sogar hätte aufführen können. Beide baumeln wie zwei Teile eines Kugelstoßpendels und in der Panik, die im Todeskampf automatisch auftritt – ich glaube, jede*r überlegt es sich im letzten Moment anders –, versuchen sie, zu entkommen. Einer der beiden klettert am anderen und dessen Hälfte des Seils nach oben, was den anderen auf den Boden befördert und beide rettet. Sie stünden wieder am Anfang.

Es gibt eine alte und nur selten direkt ausgesprochene Ansicht in der Kunst, die besagt, dass Leid den Menschen adelt. Personen, die mehr leiden als andere, sind besser als diese anderen. Ich führe das für mich persönlich auf zwei Punkte zurück: 1. Die christliche Heiligen- und Märtyrertradition (als Vorbild sozusagen) und 2. der Selbstschutz derer, die viel durchgemacht haben. Den zweiten Punkt sollte man wohl erklären. Ich glaube, um den Selbstwert zu retten oder wiederherzustellen, der durch Mobbing, Ausgestoßensein, scheinbare Unzulänglichkeit oder Fehlerhaftigkeit beschädigt worden ist, tendieren viele Menschen dazu, sich gerade wegen der Gründe, die sie anders machen, für besser zu halten. Da sich gerade diese andersgearteten Menschen zur Kunst hingezogen fühlen, wurde die Ansicht zur Tradition und möglicherweise liegt darin auch wieder der Grund für die angesprochene Heiligen- und Märtyrertradition in vielen Religionen. Daher könnte auch noch das Gemeinsamkeitsgefühl der Andersgearteten kommen. Kein simples wir sind beide anders, sondern ein wir sind beide anders und daher besser. Ich möchte niemandem damit auf den Schlips treten, ich habe mich selbst oft genug so gefühlt, und es ist ja auch wahr, dass Menschen, die etwas durchgemacht haben, eine interessante Geschichte erlebt haben und das könnte man als größeren Wert deuten als einen Standardlebenslauf (sofern es so etwas gibt). Natürlich handelt es sich um eine Verallgemeinerung und trifft keineswegs auf jede*n zu. Im Film Split geht es zum Teil darum. Das monsterhafte Wesen, das am Ende auftritt, hält nur jene für seinesgleichen und für lebenswürdig, die gelitten haben. Eine traurige, verdrehte und irgendwie nachvollziehbare Version des Gedankens, oder? Wer nicht gelitten hat, soll leiden, um die Welt wieder fair zu machen. Wie unglaublich traurig.

All das wische ich aber lieber beiseite. Slava, der traurige Clown, zeigt, dass wir nicht allein sind mit unseren Problemen, dass es immer andere gibt, denen es auch so geht, ganz gleich, wie allein wir uns fühlen, und dass wir es gemeinsam schaffen können, unsere Probleme zu überwinden. Das gefällt mir. Bleiben wir dabei.