Erschütterungen. Dann Stille.: Geschlossene Türen

Über die Erzählung “Geschlossene Türen” in “Erschütterungen. Dann Stille.”

Geschlossene Türen ist eine Geschichte aus dem Erzählband Erschütterungen. Dann Stille. und, obwohl sie nicht bewusst davon inspiriert ist, erinnert sie mich selbst immer wieder an Dein Name an der Tür aus Derrière La Porte von Michael Leuchtenberger. Mag es nun am abgelegenen Haus, an der Verbindung aus aktueller Lebenssituation des Protagonisten und längst vergangenen Zeiten oder schlicht an der Tür-Idee liegen, die geistige Verbindung bekomme ich nicht aus dem Kopf. Dennoch wird es hier nicht um Dein Name an der Tür gehen, sondern um Geschlossene Türen. Ohne Spoiler ist das kaum zu machen. Daher lest bitte zuerst die Kurzgeschichte und dann diesen Blogeintrag!

Content Notes: Trauma, Tod, Mord, Kindheit

Der Kreislauf des Leidens

Wie bereits in anderen Blogeinträgen zu anderen Geschichten aus Erschütterungen. Dann Stille. erwähnt (z.B. in Am Fluss), mag ich Erzählungen, die eine Kreisbewegung vollführen. Der Schluss ist der Anfang oder umgekehrt. Spiralbewegungen sind mir ebenfalls lieb: Was die vorherige Generation durchgemacht hat, erlebt die nächste wieder. Manchmal stellen diese Kreisläufe repetitive Höllen dar, wie Fieberträume, in denen man wieder und wieder und wieder durch einen Flur läuft und am Ende in eine riesige rotierende Klinge stürzt, nur um wieder am Anfang zu landen. Geschlossene Türen bietet den Kreislauf und die Hölle, aber mit einem Twist: Es ist eine Hölle, die sich der Protagonist/Ich-Erzähler zum Teil selbst zufügt.

Die offene Tür

Selbstredend ist die Tür eine symbolische Pforte zur Vergangenheit. Der Ich-Erzähler stürzt in sein Kindheitstrauma zurück. Kein Wunder, dass er es viele Jahre vermieden hatte, zurückzukehren. Und wie bei jedem guten Trauma spielt auch bei diesem Verdrängung eine große Rolle. Sobald der Erzähler zurückkehrt und die Familie wiedersieht, stürzt er in kindliche Züge zurück und alles in ihm wird zu Sehnsucht. Man kann es gut als Schuldgefühl deuten, dass er das Trauma immer wieder durchzumachen bereit ist, um es möglicherweise irgendwann zu ändern. 1. ist das unmöglich, weil es bereits geschehen ist, und 2. war es bereits in der Kindheit unmöglich, weil er eben ein kleines Kind war.

Die geschlossene Tür

Sobald der Erzähler die Tür des Elternhauses hinter sich schließt, zerbricht die Gegenwart und die Kindheit kehrt zurück. Ich sehe mehrere Lesarten hier. Einerseits könnte man das Schließen der Tür als Schließen der Augen interpretieren, also als Einschlafzeitpunkt. Wird er auch nach Jahrzehnten noch von Albträumen und Schuldgefühlen gequält? Es wäre realistisch. Andererseits könnte man es als Flucht in die Vergangenheit lesen, in eine bessere Zeit, vor der großen Schrecklichkeit (wenn auch nur kurz davor). Verschließt er die Tür zur Realität und flüchtet in seine Kindheit? Eine weitere Lesart wäre eine Retraumatisierung im Rahmen einer Therapie. Am Ende der Geschichte hätte der Erzähler das Trauma noch nicht bewältigt, soweit man so etwas überhaupt jemals bewältigen kann. Er bleibt in einem ungesunden Kreislauf gefangen, wiederholt den Terror wieder und wieder und wieder. Auf diese ungesunde Weise darf er Kind bleiben.

Wie man ein Kind wird

Es gibt nur wenige Details, die ich genutzt habe, um aus dem erwachsenen Ich-Erzähler einen kleinen Jungen zu machen und familiäre Intimität vorzuschützen. Statt Mutter oder Schwester, sagt er Mama und Lili. Die Nutzung von Vor- und Kosenamen deutet sofort auf enge Beziehungen hin, während die Betitelung durch die Beziehungsverbindung kälter wirkt. Manchmal nutzen wir einen ähnlichen Mechanismus unbewusst, wenn wir beispielsweise peinliche oder schmerzhafte Details über das eigene Leben beschreiben und man sagen, anstatt ich zu nutzen. Auf die Körpergröße hinzuweisen ergibt natürlich ebenfalls Sinn. Ein „Oh, plötzlich bin ich nur noch 1.30 m groß“ wäre etwas ungeschickt. Daher baumeln die Füße des Erzählers vom Stuhl herab. Er hat offenbar zu kurze Beine, um den Boden zu erreichen. Um die Kindheitserinnerungen der meisten Leser*innen zu kitzeln und somit mehr Identifikation herzustellen, isst der Protagonist Kartoffelbrei mit Sauce. Das Essen selbst ist nicht unbedingt ein Lieblingsessen der meisten, aber die Simplizität dessen und das berühmte picky Eating von Kindern kennen wir fast alle.

Ich erinnere mich, wie wir im Restaurant eine Familienplatte bestellt haben und ich nur die Beilagen aß. Oder dass es Gulasch mit Kartoffeln und Nudeln gegeben hat, um sämtliche Geschmäcker in der Familie zu treffen, und ich Kartoffeln mit Nudeln und Ketchup gegessen habe. Die Kombination bevorzuge ich bis heute.

Essen ist eine sehr sinnliche Angelegenheit und kann uns, ähnlich wie bestimmte Orte, Gerüche oder Musik, in andere Zeiten versetzen, Erinnerungen wachrufen und Gutes oder Schlechtes bewirken. Natürlich wollte ich niemandem Schlechtes tun mit der Erwähnung des Lieblingsessens der jüngeren Version des Ich-Erzählers, aber ich wollte Erinnerungen an die eigene Kindheit wachrufen, um das Geschehen noch intensiver erlebbar zu machen.

Filmeinflüsse

Auf jedes gelesene Buch kommen bei mir ca. 50 geschaute Filme, schätze ich grob. Serien(folgen) wären noch viel mehr. Als Kind habe ich die Grundschule geschwänzt, um fernsehen zu können. Transformers waren mir wichtiger als Deutschunterricht. Geschadet hat es mir nicht. Allerdings hat es mich beeinflusst. Szenen wie den Familienmord in Geschlossene Türen sehe ich vorm geistigen Auge tatsächlich wie im Film ablaufen. Daher passt die Beschreibung als Zeitlupensequenz gut dazu. Außerdem kennen wir inzwischen alle derartige Szenen. Tonlos, vielleicht mit Musik unterlegt, feuert jemand in Megazeitlupe Kugeln ab. Ein Geschehnis, das nur wenige Sekunden oder noch weniger Zeit einnimmt, wird in die Länge gezogen. Das funktioniert für uns nicht nur so gut, weil es cool aussieht. Ich glaube, es funktioniert auch, weil unsere Erinnerung ähnlich funktioniert. Gibt es in eurer Erinnerung eine Szene, in der ihr einen Menschen, der euch wichtig war, in Realzeit nur sehr kurz berührt habt, aber in der Erinnerung dieser Moment ewig zu dauern scheint? In manchen Augenblicken halten wir die Hand eines geliebten Menschen bis in alle Ewigkeit, obwohl die Erinnerung nur Bruchteile einer Sekunde dauert und das Erlebnis bloß wenige Minuten andauerte. Zeiterleben hängt von unseren Gefühlen ab, nicht von der Realzeit – vom Erleben, nicht von der Zeit.

Inspirationsquelle: Hermann Burger

Über den Schweizer Autor Hermann Burger, seine Werke und seinen Einfluss auf meine Arbeit.

Was wir an hoher Kunst leisten, müssen wir an Tod abverdienen.

Leider und gleichzeitig verständlicherweise kennen viele Leser den Namen Hermann Burger nicht und seine Werke noch viel weniger.
Verständlicherweise, weil sein Stil, seine Sprache und sein Werk insgesamt ausgesprochen komplex sind.
Leider, weil sich der Kampf mit dieser Wucht aus Sprache und Tiefe lohnt.

In einem Universitätsseminar über Zauberkünstler in der Literatur lernte ich Burger kennen und lieben. Diabelli, Prestidigitateur wurde neben Texten anderer Autoren gelesen. Diabelli ist ein Zauberkünstler, ein Prestidigitateur, also Schnellfingerkünstler, der einen Brief an seinen Mäzen schreibt. Kern der Erzählung ist, dass Diabelli beschreibt, dass Ablenkung vom eigentlichen Geschehen, das Wichtigste am Zaubertrick ist, was Burger konsequent innerhalb der Geschichte umsetzt, indem er exakt zeigt, wie beispielsweise eine Volte funktioniert, aber man es aufgrund der sprachlichen Ablenkungsmanöver, Fremdwörter und der Komplexität seines Satzbaus, kaum bis gar nicht zu verstehen vermag. Der Autor selbst dazu: Das Fremdwort tarnt den gemeinten Sachverhalt, es stempelt den Leser zum Laien, genauso wie der Prestidigitateur seine Opfer in die Irre führt.
Dass er dies vollbringen konnte, hat mich immer fasziniert.
In seinem Beitrag Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben zu den Frankfurter Poetik-Vorlesungen erklärt Burger passend dazu – und zu anderen Texten –, dass nicht bloß große Entfernung Details verwischt, sondern auch extreme Nähe. Als Autor beschreibt er Gegenstände oder Abläufe derart detailliert, dass man sie als Leser nicht mehr erkennen kann, ganz so, als sähe man seine eigene Hand unter einem starken Vergrößerungsglas, einem Mikroskop, und wüsste nicht mehr zu sagen, was man dort nun eigentlich anstarrt. Eine großartige sprachliche Leistung und eine monströse Herausforderung für den Leser.
Burger über die Verwendung dieser Technik in seinem Roman Schilten in seiner Poetik-Vorlesung:
Der Leser ist gewohnt, die Realität mit ihren verwirrenden Einzelheiten auf Distanz zu halten. Wer diesen Konsensus durchbricht, trifft ihn in einer ungeschützten Zone. Er wird permanent als einer behandelt, der alles weiß, in Wirklichkeit sieht er vor lauter Bäumen überhaupt nichts. Und etwas später: In dem dauernden Überziehen des Realen ins Aber-Reale, in eine Art traumatischer Hyperrealität, die fantastischer sein kann als das Surreale, tut sich eine erschreckende Realitätsunfähigkeit kund. Die Sprache kommt mit dem Gestus des Mitteilens daher und enthält in Wirklichkeit keine brauchbaren Informationen.
Innerhalb der Sprache selbst und nicht bloß in den ausgedrückten Informationen steckt die Charakterisierung des Protagonisten, der dank Burgers favorisierter Literaturform, dem Briefroman, selbst zu Wort kommt.

Gelegentlich bekommt man das Gefühl, dass Hermann Burger seine Leser verschrecken oder einfach an der Nase herumführen will. Beispielsweise spielt er wieder und wieder mit „Irrealien“, wie er sie nennt, also glaubwürdigen Fakten, die keine sind, vermischt mit „Realien“, also tatsächlichen Fakten, die teilweise wiederum wie erfunden wirken, um eine neue, fiktive, ausgesprochen glaubwürdige Realität zu schaffen, aber zum Teil auch, um unsere historische Realität zu verbessern, ihre Fehler zu tilgen. So dichtet er für dem Entfesselungskünstler Harry Houdini, der hundertfach sein Leben riskierte, um schließlich an einem Blinddarmdurchbruch zu sterben, sowohl einen Tod während eines seiner Entfesselungstricks an, als auch einen Deal mit dem Tod persönlich, um sein Ende zu einem allerletzten Trick, der die Menschen erstaunt, zu verwandeln.

Mir ist vollkommen bewusst, dass die wenigsten Leser Romane lesen wollen, deren Sätze zum Teil mehrere Seiten und drei oder vier Erzählebenen umfassen, weswegen ich Burger nur selten weiterempfehle. Es nutzt üblicherweise nichts. Doch jeder, der selber schreibt, sollte sich mindestens ein mal heranwagen und Burgers Poetik-Vorlesung Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben durcharbeiten, die dann hoffentlich wiederum Interesse an Schilten und Diabelli und all den anderen großartigen sprachlichen Kampfakten – Kämpfe auch des Autors selbst um das Werk, gegen sich und gegen den Tod – weckt.

Um wirklich über Hermann Burger zu schreiben, bräuchte man einen sehr viel größeren Rahmen als diesen Blog. Dennoch durfte er als eine meiner bedeutendsten Inspirationsquellen nicht unerwähnt bleiben und wird möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt nochmals unter spezielleren Gesichtspunkten behandelt werden: beispielsweise das häufige Auftauchen des Themas „Tod“ in seinem Werk.

In seinem Tractatus logico suicidalis schreibt der Autor unter Punkt 296 Das Werk ist die Lösung des Todesproblems, was sich zwar auf die Unsterblichkeit der Gedanken des Künstlers bezieht, jedoch für mich und sicherlich auch für Burger selbst ein realer, aktueller, wenn nicht sogar akuter, anhaltender Fakt ist oder bis zu seinem Selbstmord gewesen ist.

Sprachliche Experimentierfreude, den Mut zu komplexen Satzstrukturen, ungewohnter Wortwahl und ungewöhnlichen Themen sind einige der Einflüsse, die Burgers Werke auf meine eigene Arbeit allgemein hatten, doch auch kleinste Fragmente, einzelne Wörter, die ich in seinen Geschichten fand, inspirierten mich und fanden gelegentlich den Weg in meine Texte (präkollaptisch zum Beispiel).