Was wir an hoher Kunst leisten, müssen wir an Tod abverdienen.
Leider und gleichzeitig verständlicherweise kennen viele Leser den Namen Hermann Burger nicht und seine Werke noch viel weniger.
Verständlicherweise, weil sein Stil, seine Sprache und sein Werk insgesamt ausgesprochen komplex sind.
Leider, weil sich der Kampf mit dieser Wucht aus Sprache und Tiefe lohnt.
In einem Universitätsseminar über Zauberkünstler in der Literatur lernte ich Burger kennen und lieben. Diabelli, Prestidigitateur wurde neben Texten anderer Autoren gelesen. Diabelli ist ein Zauberkünstler, ein Prestidigitateur, also Schnellfingerkünstler, der einen Brief an seinen Mäzen schreibt. Kern der Erzählung ist, dass Diabelli beschreibt, dass Ablenkung vom eigentlichen Geschehen, das Wichtigste am Zaubertrick ist, was Burger konsequent innerhalb der Geschichte umsetzt, indem er exakt zeigt, wie beispielsweise eine Volte funktioniert, aber man es aufgrund der sprachlichen Ablenkungsmanöver, Fremdwörter und der Komplexität seines Satzbaus, kaum bis gar nicht zu verstehen vermag. Der Autor selbst dazu: Das Fremdwort tarnt den gemeinten Sachverhalt, es stempelt den Leser zum Laien, genauso wie der Prestidigitateur seine Opfer in die Irre führt.
Dass er dies vollbringen konnte, hat mich immer fasziniert.
In seinem Beitrag Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben zu den Frankfurter Poetik-Vorlesungen erklärt Burger passend dazu – und zu anderen Texten –, dass nicht bloß große Entfernung Details verwischt, sondern auch extreme Nähe. Als Autor beschreibt er Gegenstände oder Abläufe derart detailliert, dass man sie als Leser nicht mehr erkennen kann, ganz so, als sähe man seine eigene Hand unter einem starken Vergrößerungsglas, einem Mikroskop, und wüsste nicht mehr zu sagen, was man dort nun eigentlich anstarrt. Eine großartige sprachliche Leistung und eine monströse Herausforderung für den Leser.
Burger über die Verwendung dieser Technik in seinem Roman Schilten in seiner Poetik-Vorlesung:
Der Leser ist gewohnt, die Realität mit ihren verwirrenden Einzelheiten auf Distanz zu halten. Wer diesen Konsensus durchbricht, trifft ihn in einer ungeschützten Zone. Er wird permanent als einer behandelt, der alles weiß, in Wirklichkeit sieht er vor lauter Bäumen überhaupt nichts. Und etwas später: In dem dauernden Überziehen des Realen ins Aber-Reale, in eine Art traumatischer Hyperrealität, die fantastischer sein kann als das Surreale, tut sich eine erschreckende Realitätsunfähigkeit kund. Die Sprache kommt mit dem Gestus des Mitteilens daher und enthält in Wirklichkeit keine brauchbaren Informationen.
Innerhalb der Sprache selbst und nicht bloß in den ausgedrückten Informationen steckt die Charakterisierung des Protagonisten, der dank Burgers favorisierter Literaturform, dem Briefroman, selbst zu Wort kommt.
Gelegentlich bekommt man das Gefühl, dass Hermann Burger seine Leser verschrecken oder einfach an der Nase herumführen will. Beispielsweise spielt er wieder und wieder mit „Irrealien“, wie er sie nennt, also glaubwürdigen Fakten, die keine sind, vermischt mit „Realien“, also tatsächlichen Fakten, die teilweise wiederum wie erfunden wirken, um eine neue, fiktive, ausgesprochen glaubwürdige Realität zu schaffen, aber zum Teil auch, um unsere historische Realität zu verbessern, ihre Fehler zu tilgen. So dichtet er für dem Entfesselungskünstler Harry Houdini, der hundertfach sein Leben riskierte, um schließlich an einem Blinddarmdurchbruch zu sterben, sowohl einen Tod während eines seiner Entfesselungstricks an, als auch einen Deal mit dem Tod persönlich, um sein Ende zu einem allerletzten Trick, der die Menschen erstaunt, zu verwandeln.
Mir ist vollkommen bewusst, dass die wenigsten Leser Romane lesen wollen, deren Sätze zum Teil mehrere Seiten und drei oder vier Erzählebenen umfassen, weswegen ich Burger nur selten weiterempfehle. Es nutzt üblicherweise nichts. Doch jeder, der selber schreibt, sollte sich mindestens ein mal heranwagen und Burgers Poetik-Vorlesung Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben durcharbeiten, die dann hoffentlich wiederum Interesse an Schilten und Diabelli und all den anderen großartigen sprachlichen Kampfakten – Kämpfe auch des Autors selbst um das Werk, gegen sich und gegen den Tod – weckt.
Um wirklich über Hermann Burger zu schreiben, bräuchte man einen sehr viel größeren Rahmen als diesen Blog. Dennoch durfte er als eine meiner bedeutendsten Inspirationsquellen nicht unerwähnt bleiben und wird möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt nochmals unter spezielleren Gesichtspunkten behandelt werden: beispielsweise das häufige Auftauchen des Themas „Tod“ in seinem Werk.
In seinem Tractatus logico suicidalis schreibt der Autor unter Punkt 296 Das Werk ist die Lösung des Todesproblems, was sich zwar auf die Unsterblichkeit der Gedanken des Künstlers bezieht, jedoch für mich und sicherlich auch für Burger selbst ein realer, aktueller, wenn nicht sogar akuter, anhaltender Fakt ist oder bis zu seinem Selbstmord gewesen ist.
Sprachliche Experimentierfreude, den Mut zu komplexen Satzstrukturen, ungewohnter Wortwahl und ungewöhnlichen Themen sind einige der Einflüsse, die Burgers Werke auf meine eigene Arbeit allgemein hatten, doch auch kleinste Fragmente, einzelne Wörter, die ich in seinen Geschichten fand, inspirierten mich und fanden gelegentlich den Weg in meine Texte (präkollaptisch zum Beispiel).