Das Maurerdekolleté des Lebens: Rezension

Hinweis auf eine Rezension des Werkes “Das Maurerdekolleté des Lebens” von Matthias Thurau.

Hinweis!

Der Betreiber des Reisswolfblogs hat sich die Zeit genommen, Das Maurerdekolleté des Lebens: Drei surreale Geschichten intensiv zu lesen, darüber nachzudenken und eine Rezension zu verfassen:

“Das Maurerdekolleté des Lebens” von Matthias Thurau

Für alle, die interessiert sind und es verpasst haben, hier erneut der Link zur Rezension von KeJas Wortrausch:

“Das Maurerdekolleté des Lebens” | Matthias Thurau

Bernie Krause: The Great Animal Orchestra

Rezension des Buches “Das große Orchester der Tiere” von Bernie Krause.

Atmet durch und hört auf, die Geräusche um euch zu filtern. Was hört ihr? Läuft Musik? Fahren Autos? Arbeitet die Lüftung des Laptops? Wird draußen der Rasen gemäht? Jetzt achtet darauf, was diese Geräusche in euch auslösen.

Ich habe Bernie Krauses Buch in den ersten Tagen meiner freiwilligen Corona-Quarantäne gelesen. Das Wetter war sonnig, es gab weniger Verkehr, keine Betrunkenen an der Kneipe gegenüber, weniger Spaziergänger, und die Vögel sangen. Am offenen Fenster habe ich gelesen und konnte halbwegs nachfühlen, wie Krause sich gefühlt haben musste, als er zum ersten Mal die Geräusche der freien Natur bewusst erlebte. Als ich zwei Tage später das Ende des Buches las, hörte ich erst einen Hochdruckreiniger, dann Menschen, die sich lautstark unterhielten, und einen Rasenmäher. Ich war angespannt – zugegebenermaßen bin ich recht geräuschempfindlich – und es passte gut zu den Infos über Lärmverschmutzung und die Zerstörung natürlicher Klangwelten durch menschliche Eingriffe.

Bernie Krause ist Bioakustiker und nimmt natürliche Klanglandschaften, Soundscapes, auf, um sie, das heißt einen Ausschnitt von ihnen, für die Nachwelt zu erhalten sowie akustische Vergleichsdaten zu sammeln, um Entwicklungen aufzuzeigen, Einflüsse und Zerstörungen zu verdeutlichen und zu verstehen, wie es zu diesen hochkomplexen Geräuschkombinationen kommt, bevor sie verstummen. Er zeigt auf, dass die Klänge der Natur nicht bloß aus verschiedenen Tierlauten bestehen, die willkürlich losbrüllen, sondern dass je nach Habitat sämtliche Lebewesen akustisch aufeinander abgestimmt sind und bestimmte Gebiete auf der Klangskala oder zeitlich besetzen. Jeder Eingriff, beispielsweise durch ein vorbeifliegendes Flugzeug, stört die Abstimmung, bringt sie durcheinander oder lässt sie verstummen, was die Kommunikation, Orientierung und Paarung der Lebewesen im Habitat beeinträchtigen kann. Das Besondere an diesem Buch ist wohl, dass nicht bloß trocken über diese Dinge berichtet wird, sondern dass man auf der Homepage des Verlages passende Tracks zu Stellen des Textes finden kann. Diese sind leider etwas durcheinander geraten in der Reihenfolge, aber das ist halb so wild.

Im Rahmen seiner Untersuchungen geht Bernie Krause, der ursprünglich Musiker gewesen ist, auch auf kulturelle Aspekte ein, theoretisiert über die Entstehung der Musik, unterstützt seine Gedanken mit Aufnahmen und Beschreibungen der Musik von naturverbundenen Völkern, gibt einen historischen Überblick über das Verhältnis der westlichen Welt zu Musik und Naturgeräuschen und gibt nebenbei Auskunft über die großen Etappen seines Lebens. Das klingt hochinteressant und etwas durcheinander, oder? Ist es auch. Beides. Gelegentlich wiederholt sich Bernie Krause und einiges hätte er besser strukturieren können. Das störte mich aber weniger als die Übersetzung. Einige Stellen, über die ich gestolpert bin, kann ich nicht klar zuordnen. Lag es am Original oder Übersetzung, dass manchmal das Tempus nicht ganz korrekt war? Hätte man es in der Übersetzung korrigieren sollen/dürfen? Was jedenfalls an der Übersetzung lag, waren Dinge wie, aus The Who, die Who zu machen, und aus Muscle-Cars, Muskelautos, den Filmtitel No Country For Old Men, der im Deutschen auch so heißt, zu übersetzen oder auch die etwas unglückliche Wahl mancher Kapitelüberschriften (Jedem Tierchen sein Pläsierchen – im Original: Different Croaks for Different Folks) und des deutschen Titels, der nach einem Kinderbuch klingt: Das große Orchester der Tiere. Manche Übersetzungen würde ich als Fehler einstufen, da es sich um Eigennamen (oder Teile davon) handelt, die nicht übersetzt werden dürften, und anderes scheint einfach ungeschickt gewählt zu sein. Wie treu soll/darf/muss man dem Original sein bei der Übersetzung? Für die Debatte ist hier kein Platz.

Dass es hier und da lange Aufzählungen von Tieren und Pflanzen gibt, sehe ich als Zeichen für Krauses Leidenschaft und Sorgfalt, und wird manche interessieren und manche nicht (die können das überspringen).

Es handelt sich um ein Sachbuch und das Wichtigste an einem Sachbuch ist die Sache, um die es geht, oder? Ich habe viel gelernt, habe Interessantes erfahren und für eine Weile ein aufmerksameres Gehör gewonnen (um mir des Lärms um mich herum noch stärker bewusst zu werden, aber auch angenehme Feinheiten zu bemerken). Deswegen gefiel mir das Buch trotz etlicher kleiner Macken, die sich anhäuften.

Daniel Kehlmann: Vier Stücke

Rezension des Buches “Vier Stücke” von Daniel Kehlmann.

Dass ich gerne Werke von Daniel Kehlmann lese, ist kein Geheimnis. Ich schreibe absichtlich „Werke“ statt „Romane“, denn auch die Erzählungen, Vorlesungen und Gespräche gefallen mir. Jetzt habe ich das Buch Vier Stücke gelesen, in dem die vier Theaterstücke Geister in Princeton, Der Mentor, Heilig Abend und Die Reise der Verlorenen abgedruckt sind.

Das erste der vier Stücke dreht sich um den Logiker Gödel, einen Mann der Wissenschaft, der jedoch an Geister glaubte und daran, dass er vergiftet werden würde. Diese Angst trieb ihn dazu, im Alter komplett die Nahrungsaufnahme zu verweigern, bis er verhungerte. Bereits in der Vorlesung Kommt, Geister erwähnt Kehlmann dieses Zusammentreffen absoluter Logik und paradoxen Handelns.

Der Mentor behandelt die Probleme unerfahrener und eigentlich längst überholter Autor*innen, die Fehler, die beide Gruppen begehen, die Gemeinsamkeiten, die sie haben, und was sie voneinander lernen können. Als noch unbekannter Autor habe ich mich häufig erwischt gefühlt.

Man könnte die vier Stücke in zwei Hälften teilen, denn Der Mentor und die Geister von Princeton könnte man grob philosophisch/literarisch verorten, während Heilig Abend und Die Reise der Verlorenen eher politischer Natur und gerade im Rahmen der Flüchtlingsproblematik und um sich greifender rechter Tendenzen in Europa zu verstehen sind. Heilig Abend ist angelegt als Verhör. Ein Aspekt, der für mich besonders hervortritt, ist Macht der Behörden beziehungsweise die Willkür in der Ausübung von Rechten und Pflichten. Wie weit darf man gehen, um eine wichtige Information, ein Geständnis, zu bekommen? Rechtfertigt die Feststellung der Schuld von Verdächtigen, wie die Schuld festgestellt wurde? Letztlich geht es um Moral und strukturelle Gewalt.

Am beeindruckensten der vier Stücke empfand ich Die Reise der Verlorenen, das vollständig (und das wird als Stilmittel häufig wiederholt) auf realen Begebenheiten basiert, auf historischen Dokumenten, Tagebucheinträgen, Telefonprotokollen usw. Das Kreuzfahrtschiff St.Louis legt 1939 mit knapp 1000 jüdischen Flüchtlingen, die ihre Tickets zu horrenden Preisen kauften, von Hamburg Richtung Kuba ab. Es geht um die Behandlung der Passagiere, die Tugend mancher Crew-Mitglieder, die Untugend anderer, den Unwillen vieler Regierungen, die Flüchtlinge aufzunehmen, um Propaganda und ein brutales Schicksal. Es werden keine großen Reden geschwungen, wie man es manchmal von Theaterstücken befürchtet. Die Figuren berichten über ihr Leben und ihren Tod wie Geister, die alles gesehen haben, und mit einer Ruhe, die nicht emotional kalt wirkt, sondern die Brutalität der Situation unterstreicht.

Ich bin kein Theatergänger, aber ich lese gelegentlich Theaterstücke. Manchmal passen die Regieanweisungen zu den Bildern in meinem Kopf und manchmal nicht. Kehlmanns Stücke sollen minimalistisch aufgeführt werden: leere Räume, mal ein Tisch und zwei Stühle. Gerade in den geisterhaften Monologen oder Dialogen, wenn eine Figur vorgreift und vom eigenen Tod spricht, passt diese Leere perfekt. Ich stelle sie mir losgelöst von allem vor, ruhig und sich dennoch der Ungerechtigkeit bewusst, die sie zu durchleben hatten, ohne Verurteilung, ohne Rachegelüste.

Berit Glanz: Pixeltänzer

Rezension des Romans “Pixeltänzer” von Autorin Berit Glanz.

[…] etwas zu suchen, auch wenn man nie eine Antwort erhalten wird, sagt mehr aus über die eigene Hoffnung als über den Sinn und Zweck der Suche.

Auf der Buchmesse in Frankfurt 2019 besuchte ich mit zwei befreundeten Autoren die Lesung von Berit Glanz, in der sie ihren Roman Pixeltänzer vorstellte. Ich wurde neugierig, wünschte mir das Buch zu Weihnachten und habe es Anfang Februar 2020 gelesen. Hier meine Eindrücke.

Bereits am Titel erkennt man einen gewissen Hang zu schöner Sprache. Nicht kalt beobachtend, sondern warm betrachtend und poetisch formulierend sollte sie sein. Das war mein erster Eindruck. Wie eine hauchdünne Schicht legt sich diese feine Poesie immer wieder auf den Text, ohne ihn unmodern oder überzogen wirken zu lassen. Beinahe hätte ich mir ein wenig mehr dieser schönen Formulierungen gewünscht, auch und weil sie wenig in die Welt der Start Ups, in der die Haupterzählebene der Geschichte angesiedelt ist, passen.

Die Erzählebenen fielen mir als nächstes auf. Über das Internet kommuniziert die Protagonistin mit einem ihr nur durch ein dreiminütiges Telefonat bekannten Mann, der jedoch nie direkte Antworten gibt, sondern kleine Rätsel oder Geschichten hinterlässt, und manchmal Geschichten in Geschichten. Auf der Hauptebene guckt die Protagonistin in den Quelltext ihrer Website, der verändert wurde von ihrem Gesprächspartner und in den eine Erzählung eingefügt wurde, in der es einen Rückblick gibt – eine Erzählung in einer Erzählung in einem versteckten Text in der Erzählung. Ich liebe diese Spielereien. Im Buch sind derartige Rückblicke und Einschübe nicht kompliziert oder schwer nachzuvollziehen, sondern bilden einen natürlichen Teil der Struktur.

Das dritte große Eindruckspaket stammt aus der Haupterzählebene, die, wie gesagt, in der Start Up-Szene und ihrer Modernität, ihren Ticks und Ritualen spielt. Es werden subtil Themen angeschnitten oder angedeutet, die zum Denken anregen, weil sie inzwischen Teil unseres Lebens sind und leider kaum noch hinterfragt werden, wie beispielsweise die Frage nach der Echtheit oder Überprüfbarkeit von Informationen. Wir haben schnellen Zugriff zu einer unglaublichen Masse an Informationen, aber kaum die Möglichkeit zu prüfen, ob man sich auf sie verlassen kann. Andere Beispiele für Denkanregungen sind hier und da auftretende Gegensatzpaare wie Schnelllebigkeit versus Entschleunigung, die Anonymität des Internets (beziehungsweise unserer heutigen Kommunikation allgemein) und der Sehnsucht nach Nähe, die Auflösung des Besonderen – das Internet zeigt uns, dass wir mit unseren Besonderheiten nicht allein sind, aber dadurch auch, dass wir nichts Besonderes sind. All das ist subtil eingearbeitet und taucht einfach hinter der Erzählung auf, ohne sich vorzudrängen oder besondere Aufmerksamkeit zu fordern. Angebote, die man annehmen kann, wenn man möchte, oder ignorieren, wenn man kein Interesse an der Fragestellung hat, wie so vieles heutzutage: Die Auswahl ist endlos, die Verpflichtung gleich null.

Was mir als Autor gefallen hat, ist der Umgang mit dem Problem moderner Technik. Was ich meine, ist, dass viele altbekannte Erzählstrukturen nicht mehr gut funktionieren, wenn man beispielsweise ein Smartphone einfügt. Flucht, Abgeschiedenheit, Unwissenheit, viele Horrorszenarien können durch einen Anruf, eine Nachricht oder eine Google-Suche aufgelöst werden, weswegen es plötzlich Funklöcher auftauchen, Akkus leer sind, Smartphones vergessen oder geklaut werden. Anstatt diese Probleme zu umgehen, zeigt uns Berit Glanz, wie man diese modernen Techniken in die Geschichte einbauen und sie damit bereichern kann: Kommunikation über Blogs, Quelltext, Links, Apps. So wurde aus einer möglichen Einschränkung eine große Erweiterung der Möglichkeiten.

Passend zu dieser Modernität wurde dafür gesorgt, dass alle Dinge, von denen berichtet wird, alle Google-Suchanfragen, alle Websites zugänglich oder nachvollziehbar sind. Das verankert den Roman in der Realität und die beschriebenen Gegenstände erhalten Nachprüfbarkeit. Während sich die Protagonistin fragt, welche Anteile der ihr erzählten Geschichten wahr sind, fragen sich Leser*innen des Romans dasselbe und können dem nachspüren, wie auch sie es versucht. Eine Schatzsuche auf mehreren Ebenen.

Was jetzt? Braucht jemand eine abschließende Einschätzung? Mir gefiel das Buch aus oben genannten (und weiteren) Gründen, ich habe etwas gelernt und Denkanstöße erhalten. Viel mehr gibt es nicht zu sagen.

Nika Sachs: Namenlos

Rezension der Novelle “Namenlos” der Selfpublisherin Nika Sachs.

Poetisch und verdichtet, geschmackvoll, intelligent und voller Hoffnung auf eine zweite Chance. So könnte mein Fazit lauten für Namenlos von Nika Sachs.

Es fällt mir nicht leicht, meinen Eindruck von diesem Buch auf den Punkt zu bringen. Einerseits liegt es daran, dass man beim Lesen keinen Moment unkonzentriert sein sollte, weil man sonst Gefahr läuft, etwas nicht zu verstehen, interessante Details zu übersehen oder einen schönen Moment unter so vielen zu verpassen. Andererseits liegt es an der Mischung aus großer Wärme und trockener, analytischer Formulierung, die das Werk durchzieht.

Zwei Menschen lernen sich kennen und verzichten darauf, ihre Namen zu nennen. Jede Information könnte einen Teil des Zaubers nehmen, der zwischen ihnen aufflammt und wächst. Beide analysieren sich und ihr Gegenüber im Laufe tiefsinniger und humorvoller Gespräche und ungewöhnlicher Treffen. Wer fährt welches Auto und was sagt das aus? Ist es ein Klischee und damit ein Zeichen von Anpassung oder vom Ausleben eigenen Geschmacks, selbst wenn dieser ein Klischee erfüllt?

Im Grunde wird ein Date von hinten nach vorne durchlebt, von vertrauten Gesprächen und Nähe und dem möglichen Ende Ausgang eines ersten Dates zum Ausgehen und schließlich zur Nennung des Namens. Die Frage, die mich nach Beendigung des Buches beschäftigt hat und die ich für mich beantworten konnte, war, ob die klassische Reihenfolge des Kennenlernens zum gleichen Ergebnis geführt hätte. Um keine Details zu verraten, lasse ich meine Antwort offen.

Das erste, was ich nach der Lektüre und einigen Gedankengängen tat, war, einige der vielen schönen Formulierungen und Denkanreize zu notieren. Ich habe eine Datei für solche Dinge, die sich im Ordner „Inspiration“ befindet und in der Zeilen und Passagen einiger großer Autor*innen und Denker*innen stehen und nun auch 14 ausgesuchte Zitate von Nika Sachs. Beispielsweise hat mich dieser Satz fasziniert, der kommt, als die beiden Namenlosen vom Goetheturm und von einem Gespräch über der Stadt herunter auf die Straße treten: Dort angekommen greift die Realität wieder und hinterlässt ein paar Schlieren im Glanz des Moments. Sie waren für kurze Zeit der Welt entkommen und müssen nun wieder zurück, realisieren dabei, dass sie ihr eigentlich nie wirklich fern waren, und dennoch war dort Glanz und Glück und Romantik.

Das ist es vielleicht, was Namenlos ausmacht: eine ständige Analyse, warme Romantik und eine gewisse Traurigkeit – oder ist es ein Zweifel an der Möglichkeit von Glück, wie es die meisten definieren würden? Denn Glück ist doch nur die Abwesenheit von Unglück. Aber ist dem so oder soll man bloß darüber nachdenken? Oder ist es am Ende eine Herausforderung an das Leben und das Gegenüber?

Ich kann nicht behaupten, alles verstanden zu haben, worüber die namenlosen Figuren sprechen, ich kenne nicht alle Bücher oder Künstler, die sie erwähnen, und manchmal schien ich die Figuren aus der Ferne zu beobachten, zu verstehen, was passiert, ohne es völlig zu durchblicken. Beim zweiten Lesen, das sicherlich kommen wird, werde ich wagen, mich ihnen etwas weiter zu nähern, noch etwas mehr oder etwas Anderes mitzunehmen und es sicherlich wieder genau so sehr zu genießen wie beim ersten Mal.

Neben ihrem unübersehbaren Talent für das Schriftstellerische ist Nika Sachs übrigens auch eine interessante Person und wert, ihr auf Twitter zu folgen, auf einem ihrer beiden Accounts:
Nika Sachs
Karmasagtnein

Michael Leuchtenberger: Derrière La Porte

Rezension des Buches “Derrière La Porte: Elf sonderbare Kurzgeschichten” von Michael Leuchtenberger.

Bücher sind immer gute Geschenke und Weihnachten 2019 habe ich einige davon bekommen, unter anderem Derrière La Porte von Michael Leuchtenberger, einem Band mit elf sonderbaren Kurzgeschichten. Über dieses Buch möchte ich schreiben.

Arbeiten wir uns von außen nach innen vor. Das circa 150 Seiten leichte Buch kommt mit einem eleganten und schlichten Cover aus, besitzt ein kurzes Vorwort und noch davor einen Hinweis auf Triggerwarnungen, die sich am Ende des Werkes befinden, spezifisch für jede Geschichte. Diejenigen Geschichten, für die eine Warnung existiert, sind mit einem kleinen “TW” in der oberen Seitenecke gekennzeichnet. Eine saubere Lösung. Vor jede Story hat der Autor eine kurze Passage gesetzt, in der er erklärt, wie der Text ursprünglich entstanden ist.

Kommen wir zum Inhalt. Die Geschichten gehören zu völlig verschiedenen Genres (Öko-Dystopie, Horror, Fantasy, Sci-Fi …), obwohl eine klare Tendenz zu Gruselgeschichten vorliegt, und spielen in verschiedenen Zeiten. Eine Gemeinsamkeit (und die Erklärung des Titels) ist, dass in allen Türen vorkommen, die durchschritten werden, Türen in andere Welten, Türen, die düstere Geheimnisse verstecken, und Türen, die man besser wieder schließt.

Die große Stärke aller Geschichten ist die Atmosphäre. Mir ist von jeder einzelnen Geschichte ein klares Bild verbunden mit einem deutlichen Gefühl geblieben. Durch die verschiedenen Settings und Genres sind auch die gebliebenen Bilder und Gefühle sehr unterschiedlich. Diese Stärke sorgt dafür, dass auch inhaltlich weniger starke Geschichten oder welche, die eigentlich Anrisse oder Skizzen genannt werden könnten, vollständig wirken und mitreißen.

Stilistisch erinnerten mich einige Geschichten an die wenigen Werke englischsprachiger und französischer Literatur des 19. Jahrhunderts, die ich gelesen habe, an E.A.Poe oder Alain-Fournier. Das könnte daran liegen, dass manche Texte durch die französische Landschaft inspiriert wurden und Leuchtenberger nicht wenig von Poe gelesen hat. In diesen Stil und Rahmen passen dann auch die teils sehr klassischen Gruselfiguren. Aber nicht alle Wesen, die vorkommen, kamen bereits woanders vor. Mehr oder weniger körperlose Wesenheiten schleimiger Natur tauchen ebenso auf wie sehr reale Monster – dabei denke ich an den Chef aus Der Despot. Von dieser Geschichte werden sich alle angesprochen fühlen, die schon einmal unter einem Kleindespoten knechten mussten.

Die Frage nach den Schwächen ist schwierig. Als Autor habe ich mir ab und zu gedacht, man hätte mehr aus den Geschichten herausholen können (das allerdings könnte Geschmackssache sein oder eine persönliche Stilfrage), aber ich habe auch gestaunt über die Atmosphäre, die ich gern selbst so gestalten können würde. Einige der klassischen Gruselfiguren hätten mich beinahe zum Augenrollen gebracht, hätten sie sich nicht so schön in Stil und Umgebung eingepasst. Das Buch steht also ein bisschen wacklig da, wenn man streng und kalt mit ihm umgehen will und man eine*r wird das tun. Aber mir geht es um mehr. Auch wenn Leuchtenbergers Geschichten hier und da noch etwas roh wirken, bringen sie die Leser*innen ans Ziel und wecken etwas in den Köpfen, das vorher ruhig schlummerte, bis sie die Tür aufstießen.

Natürlich habe ich unter den elf Geschichten ein paar Favoriten. Das Archiv gefällt mir besonders, weil es interessante Interpretationen zulässt. Die Bilder, die Marie Marais hinterlassen hat, haben einen faszinierenden Farbton – ich weiß, das klingt seltsam, aber ich verbinde Geschichten automatisch mit Farbtönen: Das Archiv ist nassgrau, während Marie Marais ein schmutziges Ocker hat. Am liebsten (und trotz kleiner Unschönheiten) mag ich Dein Name an der Tür. Diese kurze Geschichte hat mich nostalgisch gestimmt, zum Lächeln gebracht und traurig gemacht. Es ist, wie einen Kindertraum zu erleben, um dann aufzuwachen und zu merken, dass man erwachsen geworden ist. Was zwischen dem Traum und dem Jetzt passiert ist, kann rationalisiert werden, aber Fakt ist, dass der Traum schön war und längst vergangen ist.

Da manche Geschichten zum Interpretieren einladen, werde ich eventuell ein paar wilde Spekulationen loslassen, aber nicht mehr hier und heute.

Wollt Ihr ein Fazit haben? Ich mag das Buch und habe es innerhalb für mich sehr kurzer Zeit gelesen. Sterne, Punkte und dergleichen mehr verteile ich nicht. Lest das Buch, lasst Euch fesseln und hofft, dass eure Kopfbilder ähnlich interessant sind wie meine!

Leo Perutz: Der schwedische Reiter

Über den Roman “Der schwedische Reiter” von Leo Perutz.

Ausnahmsweise schreibe ich eine Buchbesprechung. Mir ist danach. Also los:

Zwei Männer scheinen am Ende zu sein, noch bevor die Geschichte beginnt. Ihre Lebenswege und alle Ziele, Anstrengungen, Schicksalsschläge und Zufälle darin sind miteinander verknüpft. Wenn die Geschichte tatsächlich endet, steht da eine rührende Szene, die von Liebe und Schicksal durchströmt ist.

Wie soll man Der schwedische Reiter einordnen? Man kann sagen, es handele sich um einen historischen Roman, der am Anfang des 18. Jahrhunderts in Schlesien spielt. Allerdings ist es auch ein Abenteuer- und Liebesroman, ein Kunstmärchen, ein Werk des Magischen Realismus und modern durch die Thematisierung von Flucht, Verfolgung, Leid und Lebenswillen.

Dies ist meine erste Buchbesprechung und deshalb werde ich doch lieber persönlicher im Ton und in der Gestaltung. Es gibt zwei Dinge im Buch, die anstrengend sind. Leo Perutz schrieb einmal, dass er in historischen Romane zu schreiben versuche, wie seine Großmutter erzählte. Die Sprache passt, soweit ich das sagen kann, zur Zeit, in der die Geschichte spielt. Trotz schönem Satzrhythmus kann das stören oder braucht wenigstens Gewöhnung. Die andere Sache ist, dass die beiden weiblichen Figuren naiv, unselbständig und auch mal rachsüchtig sind. Sie sind da, um hübsch zu sein und zu dienen, die eine etwas wilder, die andere brav. Eine Ursache dafür liegt wohl in Perutz’ Entscheidung, sämtliche Figuren typisiert zu konzipieren, sodass sie erst durch die schicksalhafte Verquickung der Handlung und durch die Fantasie der Leser*innen mit Charakter erfüllt werden müssen. Dies funktioniert im Falle der männlichen Figuren besser, da sie mehr Handlung und mehr Sprechanteil haben. Aber mit einer modernen Sichtweise ein Werk zu attackieren, das 1936 erschien und im frühen 18. Jahrhundert spielt, ist müßig. Es fällt allerdings auf.

Also zur Schönheit des Werkes! Der Aufbau vom Ende der Geschichte zum Anfang und wieder zum Ende, die Verknüpfung der einzelnen wichtigen Wegpunkte, die schließlich eine großartige Auflösung erlauben, ist unschlagbar. Dieser Aspekt erinnert mich an die besten Filme von Guy Ritchie. Allerdings scheint Perutz’ Auflösung mehr von Leidenschaft getragen denn von Humor. Dies ist einer der Momente, in denen ich am liebsten spoilern würde. Ich liebe die Auflösung und den Aufbau dieses Romans.

In der Zwischenzeit, zwischen Aufwerfen des Rätsels und Erklärung, gibt es eine abenteuerliche Geschichte um Landstreicher, Räuber, Diebe, Soldaten und Liebe. Man fühlt sich hier und da an Till Eulenspiegel erinnert. Folgende mögliche Verbindung fiel mir beim Lesen auf: Das Buch erinnert mich an Till Eulenspiegel – Daniel Kehlmann hat mit Tyll einen Roman mit dieser Figur im Zentrum geschrieben – ich selbst kenne Leo Perutz aus Essays von Kehlmann – dachte Kehlmann dank Perutz an Eulenspiegel? Doch zurück zum Buch: Dieser Anteil des Buches ist spannend und unterhaltsam.

Hineingemixt wird nun auch noch eine Menge Aberglaube und Religion. Ein (möglicherweise?) toter Müller, Zaubersprüche, die eventuell wirken, ein göttliches Gericht, das aber keine der gängigen Sünden bestraft. Dies ist der magisch-realistische Anteil, die Verflechtung von Realität und Glauben, Aberglauben, Spiritualität zu einer neuen Wirklichkeit. Doch Perutz treibt Spielchen und weicht den Kern dieses Konstruktes auf. Christliche Moral ist nicht die Moral des Buches, sondern bloß eine Ansicht, die vertreten wird – und das nicht von den Mitgliedern der Kirche. Als Leser*innen sind wir in der moralischen Interpretation des Werkes auf uns gestellt. Uns bleibt nur die ästhetische Konstruktion, um uns entlangzuhangeln. Sie gilt es zu bewundern. Was das Leben wirklich bedeutet oder ob es etwas bedeutet, müssen wir nicht verstehen, können es vielleicht auch niemals.

Für Fans von Details sollte ich noch darauf hinweisen, dass Perutz, soweit ich das erkennen konnte, Kapiteleinteilung, Jahreszahlen etc. an in der christlichen Numerologie wichtigen Zahlen angepasst hat.

Am Ende einer Buchbesprechung sollten wohl eine Empfehlung oder Bewertung folgen. Ich gebe keine Punkte oder Sterne. Die Wahrheit ist, ich kann nicht einschätzen, ob heutigen Leser*innen Der schwedische Reiter zusagen wird. Aber im Grunde handelt es sich um einen Fantasyroman und sowas mögt ihr doch, oder?