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Hinweis: “Gnade”

Beim Buchensemble ist soeben eine weitere Rezension von mir erschienen. Diesmal geht es um den Roman “Gnade” der amerikanischen Autorin und Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison.

Die Wildnis in uns – Gnade

Um alle meine Rezensionen beim Buchensemble zu sehen, könnt ihr auf dieser Seite nachsehen: Matthias Thurau: Rezensionen

Gastbeitrag: June T. Michael über BDSM als Utopie

Wie BDSM mithilfe richtiger Kommunikation und gerechten Miteinanders zum Utopie-Entwurf wird.

Wer schreibt hier eigentlich?

Ich schreibe unter dem Pseudonym June T. Michael queere BDSM-Geschichten aus der Welt von Arl Sere. Das hat sich einfach so ergeben – ebenso, wie ich eigentlich vollkommen zufällig ins Erotik-Genre gestolpert bin, hat sich dann zwangsläufig das Thema „BDSM“ herausgeschält und ich lasse mich in der Hinsicht von den Figuren führen. Wenn ich also gefragt werde, warum genau dieses Thema, diese Texte, dann kann ich zwar gerne rückwirkend Dinge herleiten (wie den Beginn mit der Lektüre furchtbarer Erotikzitate auf Twitter und die Frage, ob ich, wenn ich schon meine, es besser zu können, es nicht einfach machen soll – aber da war mehr und ich kriege es nicht zusammen), aber keinen Ausgangsfunken rekonstruieren, der das „Genau so, genau das“ in meinem Geist entzündete.

Im Vanilla-Job mache ich was mit Textarbeit und Bildbearbeitung, meine Abschlüsse habe ich unter anderem im Bereich „Literaturwissenschaft“. Und wenn ich nicht gerade aktivistisch-queere BDSM-Texte schreibe, fülle ich meine Freizeit mit Gartenarbeit und Twitter.
Außerdem bin ich autistisch und bemühe mich, in einer nicht wirklich für mich gebauten Welt zurechtzukommen. Mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Auch darüber schreibe ich häufig auf Twitter.

June T. Michael - Zwischen Eis & Feuer

Am 01.08.2020 erschien „Gefangen zwischen Eis und Feuer“ – Band 1 meiner Reihe „Erotische Abenteuer in Arl-Sere“. Die Reihe ist so angelegt, dass die einzelnen Bände auch unabhängig voneinander gelesen werden können, es macht allerdings mehr Spaß, sie am Stück zu lesen. Derzeit ausschließlich auf Amazon. Es handelt sich dabei um einen Genremix: Fantasy trifft auf Slice of Life, es geht hier also nicht um epische Abenteuer, bei denen Staaten und Welten auf dem Spiel stehen, sondern um Probleme des Alltags, nur dass diese durch das fantastische Umfeld zusätzlich beeinflusst werden. Explizite Erotik trifft auf BDSM – dabei ist es mir wichtig, gerade letzteres abseits vom leidigen „Fifty Shades of Grey“-Image aufzuzeigen. Man kann eine Geschichte über Wesen, die sich gerne schlagen und erniedrigen lassen, schreiben, und gleichzeitig eine Geschichte über Respekt und gegenseitige Rücksichtnahme erzählen.

So viel zu meinem Projekt und mir.

Warum ausgerechnet BDSM?

Interesse an entsprechenden Dynamiken hatte ich eigentlich schon sehr lange, zum Teil im Teenie-Alter, auch wenn mir das Vokabular dafür nicht geläufig war – ich habe mich für sexuelle Dinge schlicht und ergreifend nicht interessiert. Sex war etwas, das anderen passierte und die Erkenntnis, dass die Verquickung von asexuellem Spektrum und Interesse an Kink vollkommen normal ist und es auch andere gibt, denen es genauso ging, war erleichternd. Als ich noch zur Schule ging, erschwerte dies allerdings jede Recherche, teils auch, weil ich meine entsprechenden Interessen nicht als erotisch empfand oder nicht in Worte umwandeln konnte, die Suchanfragen ergeben würden.

Später, viel später, rutschte ich durch vollkommenen Zufall in ein Text-RPG rein – meine Figur wurde in einem öffentlichen Ort angeschrieben –, das auf einmal eine kinky Dynamik entwickelte. Anfangs kam ich mit dem sogenannten „Hausverstand“ irgendwie durch, dann fing ich behutsam an, zu recherchieren und irgendwie verselbstständigte sich das. An dem RPG schreiben wir immer noch, inzwischen kann es sein, dass wir an der fünfstelligen Anzahl an Wordseiten kratzen …

Und ich habe eins festgestellt: Es macht unglaublich Spaß, entsprechende Szenen zu schreiben. Viel mehr Spaß, als mir entsprechende Vanilla-Szenen je gemacht haben. Die Frage wäre, warum und damit kommen wir zum nächsten Punkt.

BDSM-Utopie – wie soll das gehen?

Ich bezeichne mein Buch – und eigentlich die gesamte Reihe – gerne mal als BDSM-Utopie. Dazu muss ich etwas ausholen, was ich unter den jeweiligen Dingen verstehe und wie der Widerspruch zwischen einem Spielsystem, das auf Machtgefälle beruht und dem Konzept einer gerechten Welt aufgelöst werden kann.

Utopien sind stets zeit- und kontextabhängig. Zwischendurch kursierte beispielsweise eine US-Theorie, die ich beim besten Willen nicht mehr auffinden kann, weil sie leicht widerlegt werden konnte, der zufolge Platons „Idealstaat“ aus der Politeia eigentlich eine Satire darstellen sollte. Aus unserer Sicht ist der Staat so weit weg von dem, was wir unter Gerechtigkeit verstehen, dass es nur satirisch gemeint sein könne, ausgerechnet so einen Staat als Ideal zu propagieren. Andere Autor*innen entsprechender Literatur, wie der Namensgeber Thomas Morus, brechen von vornherein ihre eigenen Werke in satirischer Form und zeigen somit auf, dass der perfekte Staat zwar literarisch als Gegenentwurf der herrschenden Umstände dargestellt werden kann, es jedoch unmöglich ist, ihn jemals zu errichten.

Andere Utopien wiederum, wie beispielsweise „La città del Sole“ von Tommaso Campanella, mögen zu ihrer Entstehungszeit und aus der Sicht der Verfassenden noch utopisch sein, wären aber für moderne Menschen so weitab von allem, was in irgendeiner Form wünschenswert wäre, dass der utopische Gedanke zur Dystopie wird.

Darum habe ich gar nicht erst versucht, eine Universalutopie zu verfassen. Das ginge auch gar nicht. Ich schreibe entdeckend, somit weiß ich noch nicht, wie alle Staaten von Arl Sere aussehen, aber von den drei mir bisher bekannten ist nur ein Staat für kinky Wesen zugänglich, nämlich Erytan. Ebenso ist Erytan offen für Wesen, die nicht in die Genderbinarität passen (also Leute wie mich). Dass sogar Wesen nach Erytan auswandern, weil dort trans- und nicht-binäre Wesen einfach in ihrem Geschlecht leben können, wird in den auf meinem Blog veröffentlichten Drabbles deutlich, in denen eine trans Frau namens Camelia eine Rolle spielt – in einem davon stellt sich heraus, dass sie gar nicht aus Erytan stammt.

Erytan hat dafür andere Probleme, die dafür sorgen, dass auch dieser Staat seine Unperfektionen hat. Einige davon lösen sich erst im Verlauf des Text-Rollenspiels, da dieses jedoch hundert Jahre nach meinem Roman spielt, bleiben diese Konfliktpunkte dort erhalten oder spitzen sich sogar vermehrt zu.

Das utopische Element ist hier tatsächlich gleichzeitig das BDSM-Element.

Mir ist bewusst, dass die Welt des BDSM – von einer erfolgreichen BDSM-Bloggerin auch „Wunderland“ genannt – auch nicht immer rosig ist, im Gegenteil. Zwar waren meine ersten absichtlichen und bewussten Begegnungen mit dieser Welt durchgängig queer, inklusiv und offen für alle Gender, Lebensentwürfe und Konstellationen, aber es gibt genügend Artikel darüber, dass es sehr große Probleme innerhalb der Szene gibt.
Eine gute Freundin von mir, die in einem Socialmedia-Profil stehen hat, dass sie devot ist, wird gerne beim ersten Anschreiben von Wildfremden beschimpft oder per Erikativ geohrfeigt – sie wolle es ja so. Wenn sie dann sagt, dass dies absolut ungehörig ist, reagieren die (fast immer cis männlichen) Leute recht pikiert oder versuchen ihr zu erzählen, dass sie sich das gefälligst gefallen zu lassen habe, schließlich sei sie eine Sub und das wäre ihr Existenzzweck.
Andere machen viel Geld damit, dass sie in Pick-Up-Artist-Manier „Dom-Kurse“ verscherbeln. Erfolgsgarantien und Verallgemeinerungen inklusive. Und es gibt inzwischen ganze Studien über die Problematik von cis- und Heteronormativität in BDSM-Räumen, Sub-Shaming und ähnliche Phänomene, die dafür sorgen, dass in etlichen davon die Ungerechtigkeitsstrukturen der Mehrheitsgesellschaft verfestigt werden.
Begünstigt durch Veröffentlichungen wie „50 Shades of Grey“, vertieft sich die Dynamik – junge, unerfahrene Menschen, die sich an dem Buch orientieren und denken, es „soll so“, wenn sie gebrochen werden, stehen Leuten gegenüber, die das Dom-Sein (bewusst im generischen Maskulinum) aus ebenjenem Buch gelernt haben.
Ebenso ist mir bewusst, dass diese Buchreihe unter denen, die die missbräuchlichen Dynamiken darin durchschaut haben, zu noch mehr Stigma gegenüber Menschen führt, die einfach nur (um es mit den Worten einer lieben befreundeten Person zu sagen) vor sich hin sein wollen.

All das ist mir bewusst. Wenn ich diese Problematiken in großen Teilen in meinen Romanen ausblende, dann nicht, weil sie mir unbekannt wären oder weil ich sie verdrängen möchte, sondern als durchaus bewussten Gegenentwurf. Ein Aufzeigen, wie es im Idealfall sein soll und wie irgendwann, durch Bücher wie meine und durch andere Formen des Aktivismus, es irgendwann werden soll.

Erytan ist ein Land, in dem diese Probleme weitestgehend unbekannt sind. Teils, weil dort das einzige richtige Fernkommunikationsmedium der Brief ist (es gibt für Notfälle eine – allerdings unzuverlässige, da von einer Gottheit abhängige – Expresslösung) und teils, weil bestimmte Prinzipien schon von Kindesbeinen an Teil der Erziehung sind.

  • Wenn eine Person mit Worten oder Gesten kommuniziert, dass sie nicht angefasst werden will, wird das bedingungslos akzeptiert
  • Wenn zwei oder mehr Personen sich treffen, um gemeinsam etwas zu unternehmen, wird im Vorfeld abgesprochen, wie das so gestaltet werden soll, dass sich alle wohlfühlen und dann hält man sich ohne zu hinterfragen daran
  • Es ist vollkommen selbstverständlich (und wird nicht einmal besprochen), dass beim ersten sexuellen Kontakt zwischen neuen Personen Verhütungsmittel in mechanischer Form Pflicht sind
  • Ebenso ist es ganz selbstverständlich, wenigstens ein grobes „Weiche Grenzen, harte Grenzen, No-Gos, Allergien, Tabus, Wünsche“-Gespräch zu führen, egal ob es um Sex geht oder beispielsweise um eine Wanderung, man macht einfach
  • Es gibt kein „Wer A sagt, muss auch B sagen“ – wenn es sich eine Person mittendrin anders überlegt, egal um was es geht, wird abgebrochen. Punkt. (Ausnahme bilden Tunnelspiele bzw. Dinge wie Wanderungen, wo man nicht ohne weiteres wegkommt … Aber wo ein Abbruch möglich ist, wird abgebrochen.) Bedingungslos. Kein „Aber warum?“, kein „Du musst das aber durchziehen“.

Und all das sind Prinzipien, mit denen schon Kinder aufgezogen werden. „Wenn dein Freund hinfällt und weint, frag, ob eine tröstende Umarmung in Ordnung ist. Ist sie das nicht, dann lass sie sein. Frag deinen Freund, welche Art von Unterstützung er möchte und akzeptiere die Antwort. Auch wenn diese lautet, dass du dich zurückhalten sollst“.

Dass das kein bisschen selbstverständlich ist, fiel mir verstärkt auf, als ich Familienbesuch hatte und es nicht mehr funktioniert hat. „Nein, das mag ich nicht“ führte auf einmal wieder zu „Aber probiere es doch wenigstens“ und „Das ist mir aufgrund meiner Behinderung nicht möglich“ zu „Du versuchst es einfach nicht ausreichend“. Selbst ein „Nein, dieses Thema triggert mich, sprecht das nicht mehr an, solange ihr hier seid“ führte nicht zum Erfolg.

Ist das nicht „Cherry-picking“?

Mitnichten. Ich finde, dass Kommunikationsprinzipien, wie sie eigentlich im BDSM gelten sollten und in vielen Konstellationen zum Glück auch gelten, auch in Vanilla-Konstellationen und im Alltag ganz abseits von Sex und Kink ihren Platz haben sollten.

Dass – außer bei akuten Notfällen (und nach Möglichkeit selbst dann, sofern die Person ansprechbar ist) – stets das Selbstbestimmungsrecht an oberster Stelle stehen sollte. Dass „Mein Körper gehört mir“ bedingungslos zu gelten hat, nicht nur bei sensiblen Themen wie Schwangerschaft, sondern bei jeder Art von Berührung. Beginnend damit, dass ein Kind nicht allen zur Begrüßung die Hand geben soll, wenn es nicht möchte oder verpflichtet ist, ungewünschte Zärtlichkeit von Verwandten zu ertragen.

Ich nutze im Alltag in komplett Vanilla Situationen inzwischen immer öfter den Ampelcode, weil er einfach … praktisch ist, um schnell zu kommunizieren, dass ich eine Pause brauche oder meine Grenzen in einem Maße überschritten werden, dass die Reißleine gezogen werden muss. Gerade für mich als autistische Person ist das Einüben von kurzen Signalwörtern und Gesten, um zu zeigen, dass es mir nicht gut geht und was ich brauche, zum Teil lebenswichtig. Warum sollten das nicht auch andere tun? Auch Leute, die mit all den anderen Aspekten oder mit Kink an sich nichts anfangen können?

Ja, aber das Schlagen und Hauen und Fesseln …

Kommt alles in meiner Buchreihe vor. Keine Angst. Aber ich bin ehrlich, dass ich mich teilweise richtig geärgert habe, wenn ich Dinge las wie „Also ich finde, Verhütung hat in Erotik nichts verloren, die nimmt die Stimmung weg“ oder „Ja, im Alltag mag das fein sein, wenn Leute ausführlich vorher über Tabus und Vorlieben reden, aber im Erotikroman mag ich sowas nicht lesen.“

Das macht mich trotzig, denn so funktioniert Literatur nicht. Mag sein, dass einige Leute trotzdem wissen, dass beides gerade bei neuen Sexualpartner*innen dazugehört, aber nach allem, was ich weiß, ist das eher die Ausnahme, als die Regel, dass explizit darüber gesprochen wird. Dafür höre ich zu oft Geschichten von Menschen, die davon ausgehen, alle Menschen mit Intimkonfiguration x würden zwingend Praktik y mögen und das einfach durchziehen, statt mal mit der entsprechenden Person zu reden. Dafür höre ich zu oft, dass gerade Empfängnisverhütung auf die Person abgeschoben wird, die einen Uterus hat.

Also … Nein, es funktioniert leider nicht.

Und darum habe ich aus Prinzip ein Buch geschrieben, in dem Gespräche über Vorlieben und Grenzen so heiß gestaltet sind, dass das Höschen von selbst zur Erde fallen soll. In dem Verhütung so natürlich, selbstverständlich und erotisch in die Szenen eingebunden wird, dass sie die Szenen noch heißer machen, als ohnehin schon. Und in denen sowohl ausgiebig geredet, als auch herzhaft zugeschlagen und gefesselt wird.

Stets unter der Wahrung von wechselseitigem Respekt und voller Wohlwollen, egal wie erniedrigend oder schmerzhaft die geschilderte Praktik sein mag.

Gibt es Fragen, Anregungen, Gedanken und Wünsche?

Über June T. Michael:

June Thalia ist nicht-binär und lebt mit der Partnerperson, wenn auch leider ohne eigene Katzen, irgendwo in Österreich. Beruflich macht June T. M. was mit Texten. Und den zugehörigen Bildern. Daher macht June auch ihre Bücher und die Grafiken dazu alle selbst.
Sie ist unter Pseudonym unterwegs – wie sehr viele aus dem Genre – wollte aber keinen Namen, der Körperteile beinhaltet.
Da die meisten Geschichten wohl in einem sonnigen Land namens »Erytan« spielen sollen, schien dann »Juni« bzw. June als Name sehr passend, zumal zu jedem Namensteil ein persönlicher Bezug existiert.
Wenn sie nicht gerade erotische Fantasywelten schafft, kocht sie leidenschaftlich gern, twittert und bastelt Grafiken.

Links:

Unterstütze meine Arbeit auf Patreon: https://www.patreon.com/junetmichael
Folge mir auf Twitter für Schreibupdates, Schnipsel, Privates und gelegentliche Links zu Vocaloid-Musik: https://twitter.com/JuneTMichael1
„Gefangen zwischen Eis und Feuer“ findest du hier: https://www.amazon.de/Gefangen-zwischen-Feuer-Erotische-Abenteuer-ebook/dp/B08DDK7WH1
Mein Profil auf Amazon: https://www.amazon.de/June-T.-Michael/e/B08DRTMBTW
Bewerte mein Buch auch bei Leserkanone: https://www.leserkanone.de/index.php?befehl=buecher&buch=69470
Oder auf Goodreads: https://www.goodreads.com/book/show/54770593-gefangen-zwischen-eis-und-feuer

Hat dir der Artikel gefallen? Weitere Texte gibt es auf https://fantasyundfantasien.wordpress.com/

Hinweis: “Ich – ein anderer”

Beim Buchensemble kann man seit heute meine erste eigenständige Rezension lesen. Es geht um das Buch Ich – ein anderer von Imre Kertész. Hier entlang bitte:

Graue Reisen: Ich – ein anderer

Für alle, die es verpasst haben sollten, hier nochmal der Link zum 1. Artikel beim Buchensemble, einer Diskussion zwischen Magret Kindermann und mir über den Roman Pixeltänzer von Berit Glanz:

Wie wichtig ist Figurentiefe? – Pixeltänzer

Hoffnung durch exponentielles Wachstum: Wo sind die Utopien geblieben?

Exponentielles Wachstum der technologischen Entwicklung und mögliche Auswirkungen auf das Genre der Utopien/Dystopien.

Provokation

Die Überschrift dieses Blogeintrags ist absichtlich provokant, wenn auch nicht falsch. Spätestens seit Die Grenzen des Wachstums vom Club of Rome 1972 assoziieren wir „Wachstum“ häufig mit Wirtschaft. Unser Wirtschaftssystem fußt auf ständigem Wachstum, aber nicht unbedingt auf exponentiellem. Es soll hier zwar auch um Wirtschaft gehen, aber nur als Rahmensystem für das, was eigentlich Thema ist: technologische Entwicklung und schließlich Literatur.

Was bedeutet „exponentielles Wachstum“?

Exponentielles Wachstum beschreibt in der Mathematik einen Prozess, in dem eine gegebene Größe in gleichbleibenden Zeitschritten jeweils um den selben Faktor wächst: 2, 4, 8, 16, 32 … Man kann sich diese Art des Wachstums beziehungsweise die Besonderheit dieses Wachstumsprozesses klar machen, indem man sich einen entsprechenden Graphen vorstellt. Während lineares Wachstum in einem Graphen durch eine gerade Linie von links unten nach rechts oben gezeigt wird, sieht exponentielles Wachstum zwar anfangs ähnlich aus, aber erreicht schließlich eine Kurve, nach der die Linie steil nach oben schießt. Diese Kurve und die Veränderung, die sie mit sich bringt, ist hier wichtig.

Ray Kurzweil: Menschheit 2.0

Ray Kurzweil, der sich seit Jahrzehnten auf Mustererkennung spezialisiert hat, Autor, Erfinder und einiges mehr ist, hat in seinem 2005 erschienenen Buch Menschheit 2.0 eine faszinierende Entdeckung beschrieben und diese weitergedacht.

Kurzweil stellte fest, dass sowohl die biologische als auch die technologische Evolution ein exponentielles Wachstum aufweisen, und darüber hinaus, dass beide Kurven zusammengefasst zeigen, dass die technologische Evolution die biologische direkt fortsetzt. Es dauerte Milliarden Jahre, bis Leben entstand, Millionen Jahre, bis sich das Gehirn entwickelt hat, Zigtausende Jahre bis zum Menschen, aber nur gut 100 Jahre vom Telefon zu Breitbandinternet, Smartphones, Hochleistungsrechnern usw.

In Menschheit 2.0 geht es aber nicht um den Blick zurück, sondern um den nach vorn. Kurzweil prophezeit aufgrund seiner Daten das Eintreten der „Singularität“, die ganz grob gesagt, der Übergang von der Kurve im Graphen des exponentiellen Wachstums unserer technologischen Entwicklung hin zum steilen Aufstieg ist. Wir befinden uns laut Kurzweil im letzten Bereich der Übergangsphase. Sobald diese kurze Phase vorbei ist, hätten wir die Fähigkeiten und Möglichkeiten, um unsere Intelligenz mithilfe von Technologie milliardenfach zu vergrößern und würden eine neue Mensch-Maschinen-Gesellschaft bilden.

Hoffnung auf Lösungen, die wir (noch) nicht sehen

Die exponentiell wachsende technologische Entwicklung bezieht sich keineswegs nur auf Computertechnik und Rechenleistung, sondern auch auf Bereiche wie Robotik, Genetik, Nanotechnologie (oder inzwischen noch kleinere Bereiche) und grundsätzlich alle anderen Technologiezweige. Mithilfe der riesigen Entwicklungssprünge könnte man in einem ersten Schritt die Rechenkapazitäten erlangen, um Lösungen für die großen Probleme der Menschheit zu finden, und in einem zweiten Schritt diese Lösungen implementieren. Theoretisch könnten damit Umweltschäden repariert, Krankheiten geheilt, Hunger gestillt und das Todesproblem an sich gelöst werden.

Die Macht zu Gutem und Schlechtem

Man darf natürlich nicht vergessen (und das erwähnt Kurzweil ebenfalls), dass nicht nur die Macht Gutes zu tun exponentiell steigt, sondern auch die Fähigkeiten, Schlechtes zu tun. Eine Technologiestufe, die die Klimakrise schlagartig abwenden oder umkehren könnte, brächte auch Waffentechnik mit sich, die Höllisches anrichten könnte. Wenn wir Krankheiten heilen können, können wir auch neue erschaffen. Entsprechend ist die Übergangsphase, also die Phase, in der wir noch nicht intelligent genug sind, um all unsere kleingeistigen Streitigkeiten, Begierden und unsere Gier zu begreifen und in Schach zu halten, auch eine Zeit großen Risikos. Doch trotz aller Rückschläge, Wirtschaftskrisen, Kriegen, Seuchen und Unmenschlichkeiten im Namen der Wertsteigerung könnte nur noch ein katastrophaler Kollaps die Entwicklung aufhalten. Die Frage ist nur, ob wir schnell genug intelligent und fähig genug werden, um wenigstens die wichtigsten Probleme zu lösen, bevor die Probleme, die wir auf dem Weg dorthin verursacht haben, uns einholen.

Dystopie und Utopie: (Alb)Traum von der Zukunft

1516 erschien der Roman Utopia von Thomas More (oder Thomas Morus). Dieser beschreibt eine ideale Gesellschaft auf einer Insel namens Utopia. Aus heutiger Sicht ist die utopische Gesellschaft nicht besonders ideal: demokratisch, bildungsstrebsam und mit Anspruch auf Gleichheit zwar, aber man verlässt sich auch auf ausländische Söldner für Kriege und errichtet Kolonien, wenn die eigene Bevölkerung zu groß wird. Dennoch war der Einfluss von Utopia groß und fortan wurden alle Werke, die (vermeintlich) ideale (nicht existierende) Gesellschaften beschrieben, als Utopien bezeichnet.

Die Gegenversion einer Utopie, also eine Antiutopie, nennt man Dystopie. Bekannte dystopische Werke sind beispielsweise 1984 von George Orwell oder Brave New World von Aldous Huxley. [Kurzer Ausflug: Aldous Huxley war eine Weile der Französischlehrer von Orwell. Beide wurden später Freunde, nachdem Huxley ihm geschrieben hatte und scherzhaft anmerkte, seine höllische Zukunftsvision sei besser als jene Orwells.]

Dystopische Trends

Obwohl Dystopien traditionell in der nahen Zukunft spielen und Gesellschaften beschreiben, die tatsächlich entstehen könnten, scheint es mir seit Jahren einen Trend hin zu Dystopien mit weniger realistischen Zukunftsvisionen und/oder in entfernterer Zeit liegender Handlung zu geben. Zwei Dinge beschäftigen mich in diesem Zusammenhang:

  1. Erfüllen Dystopien noch den ihnen zugrunde liegende Sinn einer Warnung vor aktuellen Entwicklungen, wenn sie wenig oder keinen Bezug mehr zur Jetztzeit herstellen? Eine Dystopie ist im Kern ein zutiefst politisches Werk. Es greift üblicherweise mindestens einen alarmierenden gesellschaftlichen Trend auf und spinnt ihn zum schlimmstmöglichen Endpunkt weiter. So entstand die sedierte und gedanklich unreife Zucht-Menschheit in Brave New World und der sich im Dauerkriegszustand befindliche Überwachungs- und Propagandastaat in 1984. Verkommen Dystopien heute zur Bühne von Freiheitsfantasie vor post-apokalyptischem Hintergrund? Damit würden sie noch immer wichtige Tendenzen in der Gesellschaft aufzeigen, aber nicht mehr ihre traditionelle Rolle erfüllen. Grundsätzlich ist daran nichts auszusetzen, nur frage ich mich, ob ein derart prägnant kritisches Genre wie die Dystopie verwaschen werden sollte und ersetzt werden kann. Kritik ist auch in anderen Genres vertreten, aber Dystopien dienten bisher dieser Kritik zuallererst und erst dann anderen Grundthemen/-tendenzen.

  2. Kann man aus der Popularität des Genres eine (wieder) stärker werdende Zukunftsangst schließen? Der Gedanke ist naheliegend. Die Natur ächzt und stirbt, die Klimaveränderungen sind derart drastisch, dass ich sie allein anhand meiner eigenen Erinnerungen problemlos nachvollziehen kann, politische und gesellschaftliche Entwicklungen (Rechtsruck, offener Antifeminismus usw.) bedrohen das bisschen Freiheit, das ohnehin durch ständige Überwachung immer weiter eingeschränkt zu werden scheint. Angst scheint angesichts des Zustands unserer Welt eine angebrachte Reaktion zu sein. Aber hat das etwas mit dem Erfolg von Dystopien zu tun?

Wo sind die Utopien geblieben?

Literatur ist für den Großteil aller Leser*innen ein Mittel zur Unterhaltung. Es hat immer Personen gegeben, die das kritisiert haben und von oben herab auf „Unterhaltungsliteratur“ geschaut haben, aber man kann nicht anders, als sich einzugestehen, dass nur Verkäufe die Literatur langfristig relevant bleiben lassen. Was ich sagen will, ist, dass Dystopien häufiger sind als Utopien, weil sie sich besser verkaufen lassen, und der Grund dafür wiederum ist, dass sie spannender sind. Immer häufiger lese ich zwar die Forderung nach Geschichten mit ruhigen Passagen, die bloß beschreiben (und wohltun), ohne auf Teufel komm raus Spannung zu erzeugen, aber der Schritt zu einem Buch, das zum größten Teil daraus besteht, ist doch noch recht groß, und am Ende ist eine Utopie genau das.

So wie Dystopien (eigentlich?) zutiefst politisch sind, sind es Utopien natürlich auch. Die Wunschgesellschaft der einen Person kann die Höllenvorstellung der anderen sein. Auf der anderen Seite muss man schon eine soziopathische Ader und Hoffnung auf eine Machtposition in der Zukunftshölle haben, wenn man eine richtige Dystopie als utopisch empfindet. Damit möchte ich sagen, dass vom wahrscheinlich geringeren Unterhaltungswert abgesehen, Utopien auch ein größeres Streitpotenzial haben. Man muss nur überlegen, auf welche Ziele manche Personen und Gruppen hinarbeiten, und man hat eine Vorstellung der Utopien, die sie produzieren würden.

Mischformen: Utopische Ideen, aber spannend

Man kann das Star Trek Universum, besonders die Grundlagen der United Federation of Planets, als utopisch lesen, obwohl die Geschichten (von Zeitreise-Plots abgesehen) in der fernen Zukunft spielen. Auch geht natürlich einiges schief, es gibt menschliche Schwäche und Grausamkeit und besonders gibt es die Konfrontation mit weniger utopischen, rückschrittigen oder geradezu dystopischen Gesellschaften: Die misogynen, einzig und allein profitorientierten Ferengi, die kriegerischen Klingonen und die paranoiden, alles überwachenden, von Geheimdiensten gesteuerten Romulaner.

Doch auch in den neuen Filmen und Serien von Star Trek erkennt man einen klaren Trend weg von den positiven, freiheitlichen, urmoralischen Grundzügen der Föderation und damit des Kerns des ganzen Franchises. Verrat, Verfall, korrumpierte Moral, Überwachung, Infiltration überall. Wieso ist das so? Mischformen wie in Star Trek (besonders TNG, Voyager, DS9) konnten und könnten weiterhin dem Marktdruck standhalten, unterhalten und dennoch grundmoralisch und -optimistisch sein.

Was ich an Star Trek immer geliebt habe, war die Gewissheit, dass es trotz des Chaos und der Ungesetzlichkeit des kalten Weltraums immer Ordnung herrschte und die Held*innen niemals ihre moralischen Grundprinzipien verrieten.

Ist Hoffnung unlogisch oder verkauft sie sich nur schlecht?

Schließen wir den Kreis nach dem langen Ausflug: Sollte Ray Kurzweil wenigstens tendenziell Recht behalten (wovon ich ausgehe) und die Menschheit die Schwelle zur Singularität (oder wie auch immer man es nennen möchte) erreichen und überwinden, bevor wir oder unsere Fehler uns selbst oder die Entwicklung stoppen und vernichten, gibt es begründete Hoffnung. Wir werden auf keinen Fall alles retten können, aber wir werden einerseits vieles wiederherstellen und andererseits neuen Schaden verhindern können. Man sollte diesen Funken Hoffnung keinesfalls als Aufruf missverstehen, alles beizubehalten, nicht auf die offensichtlichen Signale der Umwelt und die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeiten zu reagieren oder die Klimakrise und andere Probleme nicht ernstzunehmen! Wir müssen etwas tun und zwar schnellstmöglich, aber wir können eben auch hoffen.

Warum schlägt sich das nicht in der Literatur nieder? Liegt es außerhalb des gewohnten Denkens von Autor*innen, derart hoffnungsvolle Modelle zu akzeptieren? Sind die Ideen schlicht unbekannt? Sind wir noch immer gefangen in der linearen Betrachtung von Geschichte und technologischer Entwicklung? Oder gehen Versuche hoffnungsvoller, utopischer Literatur einfach unter, weil man sie schlecht verkaufen kann, beziehungsweise Personen mit Einfluss glauben, dass man sie schlecht verkaufen könnte?

Man sollte mich auch hier nicht missverstehen. Ich liebe düstere Werke in jeder Kunstrichtung, aber das heißt nicht, dass man keine Werke veröffentlichen sollte, die Hoffnung auf eine bessere Welt machen. Manchmal sage ich Dinge wie „Kunst sollte wehtun“, aber was tut mehr weh, als zu sehen, wie gut wir es haben könnten, wenn es doch offensichtlich gerade (noch) nicht so ist?

1. Buchensemble-Artikel

Hinweis auf meinen 1. Artikel beim Buchensemble, eine Diskussion mit Magret Kindermann über den Roman Pixeltänzer von Berit Glanz.

Ab heute ist es offiziell: Ich bin aktives Mitglied des Buchensembles. Mit einem gemeinsamen Artikel von Magret Kindermann über den Roman Pixeltänzer von Berit Glanz geht es los:

Wie wichtig ist Figurentiefe? – Pixeltänzer

Auslöser für diesen Artikel war eine Diskussion, die Magret und ich über das Buch geführt haben. Sie wusste aus dem Blogeintrag Berit Glanz: Pixeltänzer, dass mir der Roman sehr gefallen hatte. Magret hat Pixeltänzer dann ebenfalls gelesen und war anderer Meinung. Welche Gründe aus ihrer Sicht gegen den Roman sprechen und was ich darauf erwidere, könnt ihr im Artikel fürs Buchensemble lesen.

Krieg und Zerstörung

Über Krieg und Zerstörung als Symbole in meinen Werken, speziell in “Sorck: Ein Reiseroman”.

Zerstörung, Sachbeschädigung, Gewalt, Krieg und Kampf sind zentrale Motive mancher meiner Werke. Das musste ich selbst erst entdecken. Heute frage ich mich, woher das kommt.

Zerstörung kann reinigend und befreiend sein. Erst als Martin Sorcks Wohnung abbrennt, kann er seine Reise antreten. Manchmal muss man etwas zerstören, um fortfahren zu können: eine Beziehung beenden, eine Regierung stürzen, das Weltei zerbrechen. Bevor ich fortfahre, betone ich sicherheitshalber, dass ich Gewalt nicht verherrlichen oder gar fordern möchte. Es geht hier um Symbole. Zerstörung muss nicht groß sein, um wirkungsvoll zu sein. Nach einer Trennung gemeinsame Fotos zu verbrennen, ist Zerstörung im Kleinen, ist Loslassen und Abschied.

Muss Zerstörung Gründe haben?

Zerstörung der Zerstörung willen scheint mir nicht bloß unsinnig, sondern auch extrem selten zu sein. Immer steckt etwas dahinter und wenn es von außen auch noch so willkürlich erscheinen mag. Mit der passenden Ideologie kann man jede Form von Zerstörung als politische Aktion interpretieren. Denken wir beispielsweise an Maos Kulturrevolution, der nicht nur viele Menschen, sondern auch unbezahlbare, unwiederbringliche, uralte Kunst- und Kulturschätze zum Opfer fielen. Religionen haben immer wieder zu Gewalt- und Zerstörungsorgien aufgerufen. Die Rechtfertigungen für Gewalt und Vernichtung sind so vielfältig wie die Formen ihrer Ausführung.

Es ist daher verständlich und richtig, dass man auf diese Themen mit Vorsicht oder sogar Abneigung reagiert. Genau wegen dieser Vorsicht, Furcht vielleicht sogar, ist die Zerstörung (oder Bedrohung) von Gegenständen wie Menschen stets interessant in der Kunst. Man kann mit der Darstellung schocken, Botschaften verstärken und allgemein starke Gefühle hervorrufen.

Kriegerischer Alltag

Die Welt ist ein Ort der elementaren Unruhe für viele Menschen, jeder Tag ein Kampf und jede Kommunikation eine Auseinandersetzung. Dies kann einerseits an einer entsprechenden Weltsicht liegen, in der es fast ausschließlich Feindbilder gibt, oder schlicht an den psychischen Kapazitäten der betroffenen Personen. Wut und Angst führen zu solchen Leben oder entstehen aus ihnen.

Das Leben als Krieg. Wie stellt man es besser dar als durch die Darstellung von Kriegsgeschehen? Die Mischung aus dem, was die meisten als Alltag erleben (und einige als Kampfgebiet), und dem, was alle als Kriegsgebiet verstehen, ist daher der perfekte (paradoxe) Ort für eine entsprechende Geschichte. Martin Sorck ist eine der Personen, die permanent mit der Welt im Clinch liegen. Seine Welt ist ein Schlachtfeld. Erleben wir nun im Roman, wie er die Welt sieht oder was wirklich geschieht? Das lasse ich offen.

Charakter- und Feldzüge

Der Gedanke des Lebens als Kampf ist natürlich nicht neu, wurde allerdings traditionell anders gedacht: Aus darwinistischer oder (schlimmer noch) aus sozialdarwinistischer Perspektive. Ich allerdings meine keinen tatsächlichen Wettstreit zwischen Personen oder Personengruppen, sondern denke an eine reine Erlebensebene. Der Kampf ist nicht real, sondern nur im Kopf einer Person, in diesem Fall Martin Sorck.

Man kann die Kriegsszenen im Roman Sorck auf vielerlei Weise interpretieren und das ist auch so gewollt. Eine wichtige Lesart ist die angesprochene, dass der Krieg bildhaft für die inneren Umstände des Protagonisten zu verstehen ist. Dass Martin nicht in seine Umgebung passt und ernsthaft mit dem Leben ringt, wird im Roman wohl schnell klar. Eine andere Lesart bezieht sich daher auf die Struktur, die ich im Blogeintrag Sucht und Struktur besprochen habe. Der Aufbau und Ablauf der Landgänge spiegelt den Weg durch die Sucht wider. Die Kämpfe ebenso wie die Zwangssituationen sind Teil der Darstellung. Daher ist, wie im Beitrag gezeigt, auch der Rückschlag für die Reisegesellschaft in Stockholm der erste große Sieg im Kampf gegen die Sucht. Diese beiden Lesarten widersprechen einander nicht, sondern ergänzen sich sogar.

Viele haben die Landgänge und die damit zusammenhängenden Kriegsszenen auch als gesellschaftskritisch gelesen, was absolut legitim ist. Ich kann mir keine gelungene Darstellung eines Krieges oder kriegsähnlicher Zustände vorstellen, die nicht als Kritik an etwas gelesen werden könnte oder müsste. Kritik ist fraglos Teil des Werkes.

Persönliche Aspekte

Ja ja, natürlich spiegelt die Darstellung von Krieg und Zerstörung persönliche Aspekte des Autors wider. Es jetzt noch abzustreiten wäre unsinnig angesichts der Einleitung. Immerhin habe ich bereits verraten, dass es anfangs nicht bewusst geschehen ist. Ich hatte und habe meine Kämpfe, wenn ich auch glücklicherweise niemals im Krieg gewesen bin. Hätte ich Krieg wirklich erlebt, würde ich wohl davon absehen, ihn in meinen Geschichten als Symbol zu missbrauchen.

Die Wahrheit ist, dass mich der besprochene Themenkomplex seit Kindergartentagen interessiert. Ich erinnere mich, wie ich in dem Alter Soldaten und Kriegertypen gezeichnet habe, wie ich fasziniert ein Buch über den Zweiten Weltkrieg durchgeblättert und später heimlich Kriegs- und Actionfilme (deren Genregrenzen in den 90ern oft verwischt waren) geschaut oder (nicht heimlich) mit Action Man Figuren gespielt habe. Der Krieg war überall: Krieg auf Cybertron bei den Transformers (also in Zeichentrickfilmen/-serien), in Filmen, als Teil der Bildung und im Spielzeug (auch wenn ich nicht mit Spielzeugwaffen spielen durfte). Wie kam das? War das eine Mode? Ist das so ein Blödsinn, der passiert ist, weil ich ein Junge war? Habe ich als ausschlaggebendes Elemente genau in dem Moment zufällig einen Kriegsfilm gesehen, als ich herauszufinden versuchte, was man als Junge/Mann auf der Welt so treibt?

Offen gestanden, ich habe keine Antworten auf diese Fragen. Waren die Symbole, die ich heute verwende, also unumgänglich? Wer weiß. Sie haben jedenfalls eine von meiner Kindheit völlig losgelöste Bedeutung.

Krieg in der Literatur

Natürlich habe ich irgendwann Im Westen nichts Neues von Remarque gelesen und es hat mir ebenso gefallen wie die anderen Bücher, die ich von ihm kenne. Hesse hat eine Weile auch mit futuristischen Gedanken und Kriegssymbolik gespielt, bis der große Krieg dann kam und Hesse seine Fehler einsah. Von Sun Tzu (Kunst des Krieges) über Mao (Theorie des Guerillakrieges) bis zu Carl von Clausewitz (Vom Kriege) und Winston Churchill habe ich einiges zum Thema gelesen. Teils lag es an den in meiner Jugend im Haus befindlichen Bücher und teils an einem Interesse, das sich unter anderem aus der Lektüre dieser Bücher ergeben hat. Aber wo steckt nun der Kern meiner Faszination?

Vielleicht ist es das schier unfassbare Ausmaß an Leid, Organisation, generationenlangen und Kontinenten überspringenden Auswirkungen, Propaganda und immer wieder Leid, das mit Kriegen zusammenhängt und das wohl niemand geistig ganz erfassen kann. Ein Krieg, gerade in den letzten 200 Jahren, ist ein so enormes und derart grässliches Ereignis, dass es sich ins Gedächtnis und die Seele der Menschheit für Generationen einbrennt. Angesichts dessen schämt man sich für jede symbolische Verwendung des Krieges. Ich bin mir sicher, dass es noch Rückstände der Erfahrungen meines Urgroßvaters aus dem Ersten Weltkrieg in mir gibt, ob nun durch Erziehung oder die Gene weitergegeben, und ebenso welche meiner Großväter aus dem Zweiten Weltkrieg.

Vielleicht war Sorck am Ende ein Ventil, um einen Teil dieser Grässlichkeit in mir loszuwerden, und wenn es auch in verdrehter Form geschehen ist.

Abschließend sollte ich eine Selbstverständlichkeit betonen: Ich hoffe, niemals in den Krieg ziehen zu müssen und dass ich weder mit diesem Blogeintrag noch mit meinem Roman Personen zu nahe getreten bin, die echte Kriegserlebnisse durchmachen mussten.

Zahlen und Wunder

Über in Zahlenwörtern Verstecktes im Roman “Sorck: Ein Reiseroman”.

Es gibt noch Zahlen und Wunder. Ein Blogeintrag über Verstecktes (im Roman Sorck).

Heilige Schriften

Manche Christengruppen, darunter einige Gnostiker, glaubten, dass die Bibel in jedem Sinne vollkommen sei. Während andere Christen sich gelegentlich stritten, ob man die Bibel wörtlich oder bildlich zu verstehen hätte, bestanden diese Gruppen darauf, dass die Bibel auf jedwede Art und Weise zu verstehen sei. Gott sei allmächtig und sein Werk damit perfekt. Es könne darin keine Zufälle geben. Das bedeutet, dass kein Wort, kein Bild, keine Formulierung, nicht die Anzahl der Wörter oder die genannten Zahlenwörter sinnlos oder zufällig seien. Wenn angegeben wird, wie groß Noahs Arche gewesen sei, haben diese Zahlen Bedeutung. Welche? Kann man nicht wissen. Versteht man es aber doch, kann man große Macht erringen – so jedenfalls sahen das einige.

Im Islam hat es den Streit um die satanischen Verse gegeben, wobei hier noch nicht das Buch von Salman Rushdie gemeint ist, sondern die Passage des Korans, nach der Rushdies Roman benannt worden ist. Manche Gelehrte behaupteten, dass eine bestimmte Passage des Korans entstanden sei, während der Teufel dem Propheten Lügen ins Ohr flüsterte. Das aber würde bedeuten, dass der Koran nicht komplett von Gott stammt, nicht perfekt wäre und damit nicht das Zentrum der gesamten Religion bilden könnte. Die Idee stand auch der Ansicht anderer Gelehrter entgegen, dass der Koran vor dem Menschen erschaffen worden sei. Salman Rushdie hat diese Passage in seinen Roman Die satanischen Verse eingebaut und musste sich danach viele Jahre lang (vom englischen Staat geschützt) verstecken, weil der Ajatollah Chomeini eine Art Todesurteil über ihn verhängt hatte. Der Roman ist übrigens ganz gut.

Ist Sorck ein heiliges Buch?

Nein, natürlich nicht. Ideen wie die oben genannten, dass Bücher perfekt seien und dass in ihnen ausnahmslos alles einen Sinn ergäbe, sofern man den korrekten Schlüssel hat, finde ich allerdings faszinierend. Es wäre sinnlos, numerologische Verfahren auf Sorck anzuwenden in der Hoffnung, eine geheime Information beispielsweise aus der Gesamtzahl aller Buchstaben zu gewinnen. Aber es ist nicht falsch, wenn man auf die Zahlen im Buch achtet.

Beim Schreiben von Sorck kam mir der Gedanke seltsam vor, dass es in einem derart durchgeplanten Projekt Inhalte geben sollte, die keine Bedeutung haben. Dass die Szenen und die Struktur etwas bedeuten, ist gegeben, aber dann fiel mir auf, dass immer mal wieder Zahlen erwähnt werden: Zimmernummern, Kuchenstücke auf dem Teller, Jahreszahlen, Koordinaten. Sicherlich, einige dieser Zahlen kann man nicht auf einer „tieferen” Ebene manipulieren, ohne sie an der Oberfläche sinnlos zu machen. Beispielsweise beziehen sich die Koordinaten für ein Bombardement auf die korrekte Stelle. Ich hätte natürlich einen anderen Ort „anpeilen“ können (meine Wohnung z.B.), aber das wäre nichts Verstecktes gewesen, da eine einzige Google-Suche alles aufdecken würde. Andere Nummern aber, die frei wählbar sind, habe ich keineswegs frei gewählt. Da ist immer eine Ebene mehr.

Zahlen bitte!

An dieser Stelle sollten die Leser*innen aussteigen, die den Roman lieber alleine durcharbeiten wollen, um die versteckten Hinweise zu finden. Für alle anderen geht es jetzt ans Eingemachte.

Das Prinzip hinter den Nummern ist simpel: Man weise jedem Buchstaben im Alphabet eine Zahl zu nach dem Prinzip A = 1, B = 2, C = 3 usw. So erhält man beispielsweise

Während Martin Sorck durch das Labyrinth im Schiffsinneren irrt und auf der Suche ist nach Eva, beziehungsweise nach der Bar, die der Ausgangspunkt gewesen ist, von dem aus er sie das erste Mal getroffen hatte, ist, kommt er an verschiedenen Kabinen vorbei. Diese Kabinen haben Nummern. Allerdings läuft Martin vor und zurück, kommt in Sackgassen und verliert die Orientierung. Ich habe sie nicht verloren. Der Weg, den er geht, verfolgt anhand der Zimmernummern, ergibt die Namen Martin und Eva, die sich im Buchstaben A treffen:

Das ist Martins Weg und das ist außerdem ein dicker Vorgriff aufs Ende. Damit sind wir aber noch nicht durch. Alle zugewiesenen Nummern in Martins Namen ergeben zusammen 75, für Eva ergibt sich die Zahl 28 (E = 5, V = 22, A = 1 → 28). Subtrahiert man Eva von Martin, erhält man 47.

»Dort bog er rechts ab, durchlief für exakt siebenundvierzig sehnsüchtige Sekunden einen leeren Korridor – er hörte Geräusche hinter verschlossenen Türen, das alberne Lachen von Sitcoms – und gelangte zwischenfallfrei ans Ziel. Er fühlte sich allein auf der Welt …«

Martin sucht Eva, ist ohne sie, man könnte fast sagen, sie ist abgezogen. Das Sitcom-Lachen ist übrigens ein Hinweis darauf, wie albern die ganze Übung ist, weil wohl niemand darauf stieße, wenn ich es nicht hier aufdecken würde.

Später, wenn Martin sich von Eva verlassen fühlt, macht er noch einmal mentale Inventur, geht seinen Besitz durch und es wird festgestellt:

»Auf seinem Konto hatte er noch ein Guthaben im Wert von siebenundvierzig Euro.«

Sie ist weg und er ist arm dran ohne sie. Natürlich ist er auch tatsächlich arm, sonst ergäbe das alles keinen Sinn.

Perfider Betrug

Sinnfreie Bemerkungen ergeben nur dann einen Sinn im Sinne einer echten Irritation, wenn ansonsten alle Bemerkungen Sinn tragen. Wenn ich mir die Arbeit antue und Bedeutung in die kleinsten Details eines Werkes stecke, so habe ich mindestens einen perfiden Hintergedanken dabei. Sobald Leser*innen wissen, dass ich in alles Bedeutung packe, gehen sie davon aus, dass es keine Zufälle (oder Fehler?) mehr in meinen Büchern gibt und aus „das ergibt keinen Sinn“ wird möglicherweise ein „das ergibt keinen Sinn für mich“ oder ein „das ergibt noch keinen Sinn für mich“. Der massive Überbau in Sorck dient also als Schutz vor Fehlern und Unachtsamkeiten in der Zukunft.

Leser*innen suchen den Fehler in solchen Fällen bei sich. Der gleiche Effekt tritt oft auf bei Werken der „Weltliteratur”, die als besonders anspruchsvoll gelten. Versteht man sie nicht, sucht man häufig den Fehler bei sich selbst und nicht im Werk.

Tatsächliche Zufälligkeiten und sinnbefreite Bemerkungen wirken in einem solchen Umfeld plötzlich tiefgründig und mystisch, auch und weil sie eigentlich bloßer Schwachsinn sind.

Doppelter perfider Betrug

Genau genommen ist der Absatz hier drüber Unfug. Wenigstens der Anteil mit der bewussten Planung für zukünftige Projekte. Ich habe mich einfach nur extrem in das Romanprojekt hineingesteigert und konnte den Gedanken sinnloser Parts nicht ertragen. Aber hey, vielleicht habe ich jetzt Kritiker*innen ein Argument vorweggenommen.

Aber was meine Motivation auch immer gewesen sein mag, die versteckten Hinweise sind im Roman Sorck und warten darauf, entdeckt zu werden! Trotz aller bisherigen Blogeinträge habe ich bei weitem noch nicht alles aufgedeckt.

Sorck: Sucht & Struktur

Blogeintrag über die Idee hinter der grundsätzlichen Struktur des Romans “Sorck: Ein Reiseroman”.

Spoilerwarnung

In diesem Blogeintrag geht es um die Grundstruktur des Romans Sorck in Verbindung mit einem seiner Themen: Sucht. Logischerweise ist es nicht möglich, die Struktur des Buches aufzuzeigen, ohne grundlegenden Inhalt zu erwähnen. Wer Sorck noch nicht gelesen hat, sollte diesen Blogeintrag vielleicht lieber auslassen, oder Spoiler akzeptieren.

Die Reise

Wie sieht die grobe Struktur des Romans Sorck aus? Man könnte auch fragen, wie Martin Sorcks Reiseroute aussieht. Grob zusammengefasst haben wir:

  1. Einleitung + Hinfahrt
  2. Tallinn
  3. Sankt Petersburg
  4. Helsinki
  5. Stockholm
  6. Rückfahrt + Ende

Hinzu kommen natürlich noch die Parts auf dem Kreuzfahrtschiff, die jeweils zwischen den Etappen spielen, mit den Reiseorten und den passenden Themen zusammenhängen, aber dennoch teilweise losgelöst sind von ihnen. Ich möchte mich daher hauptsächlich auf die Etappen, auf die 4 besuchten Städte und ihre Bedeutung im Zusammenhang mit der Figurenentwicklung konzentrieren. Wichtig sind hier die Geschehnisse vor Ort, das Innenleben des Protagonisten und sein Alkoholkonsum.

Einstieg: Rausch und Euphorie

Zugegeben, ich muss jetzt bereits eine Ausnahme machen. Die große Rauschgeschichte des Martin Sorck beginnt nicht in Tallinn, sondern am Vorabend und hat ihren Höhepunkt in der Nacht (die allerdings schnell und holprig überleitet zum ersten Landgang). Vielen Leser*innen ist die große Partyszene im Bauch der S.S.C.F. Aisha Harmonia im Gedächtnis geblieben. Protagonist Martin Sorck steigt in den Kaninchenbau hinab, trinkt, schnupft und schluckt unbekannte Substanzen, um die ganze Nacht hart zu feiern. Der große Rausch, der immer am Anfang der Katastrophe steht. Keine Suchtgeschichte – und als eine verdichtete Suchtgeschichte kann man Sorck lesen – beginnt mit Katerzuständen und Suchtdruck. Am Anfang steht die Euphorie, heraufbeschworen vielleicht durch Schlimmes, als Ablenkung, scheinbare Rettung oder kurzfristiges Glück. Martin hat alles verloren, es geht ihm entsprechend, also sagt er nicht Nein. Er genießt den großen Rausch und man gönnt es ihm. In Tallinn ist er verkatert, aber dennoch hatte er eine großartige Nacht und selbst das Chaos in der Stadt scheint anfangs nicht so schlimm zu sein.

Der nächste Schritt: Der erste Zwang

Tallinn wehrt sich. Martin Sorck wird von den Ereignissen mitgerissen, die jedoch für ihn nur am Rande passieren, während er sich woanders herumtreibt – während er noch nicht darüber nachdenkt? Man könnte es so lesen, dass Martin sich von der Gruppe und den kriegerischen Geschehnissen absetzt, weil er sich Problemen nicht stellen möchte, obwohl sie unübersehbar sind. Der Kampf hat für ihn zu früh begonnen. Es ist der Moment in einer Suchtgeschichte, in der man unterbewusst weiß, dass man süchtig ist (oder sich in Gefahr befindet, es zu werden), aber es noch nicht einsieht. Hinterher fragt man sich, wie man so blind sein konnte, aber währenddessen ist man nicht blind, sondern hält sich die Augen zu. Tallinn ist aus meiner Sicht die erste Bekanntschaft mit den Nachteilen des Rausches, der Beginn der Sucht. Aber der große Kontrollverlust steht noch bevor.

Kontrollverlust in Sankt Petersburg

Das große Thema des Abschnitts rund um Sankt Petersburg ist ein Komplex aus Druck, Zwang und Kontrollverlust. Martin Sorck wird mit den anderen Reisenden aus dem Schiff an Land getrieben, rigoros kontrolliert und in einen Bus gestopft. Optisch wird der Eindruck unterstützt durch Uniformen, den Domina-Auftritt von Frau Major, Stacheldraht und grauen Himmel. Alles in Sankt Petersburg ist streng und zwanghaft: Das eingeengte Essen, der Zwang aufzuessen und auszutrinken, der Trieb durchs Museum, der Trinkzwang davor, die Panik in der (wieder) eingeengten Vorhalle danach … Jedes Getränk ist erzwungen, jede Speise ungenießbar und alles versinkt in einer zwanghaften Ordnung, die verdammt wie Chaos wirkt und dennoch alles und jede*n unter Kontrolle hat. Nur die Reiseführerin ist als Fels in der Brandung da, ist ruhig, erklärt, was man nicht versteht oder kennt, und sie erzählt zwischendurch eine traurige Geschichte. Aus meiner Sicht stellt diese Reiseführerin die Stimme der Vernunft dar. Sie versucht, die schönen Elemente dieser Welt (beispielsweise im Museum) hervorzuheben und die Reisenden sicher durch die Stadt zu bringen.

Am Ende des Städtetrips nach Sankt Petersburg ist Martin Sorck tatsächlich am Ende. Er sitzt in der Fubar und trinkt weiter.

Realisierung

Der Ausflug nach Helsinki beginnt bereits mit einem Flachmann. Es gibt kein Warten und keinen Genuss, sondern nur Pegel und Rausch. Könnte man Emotionen auf einer Zeitskala eintragen, würde Martins Stimmung zu den Römerrüstungen passen, in denen Helsinki bestürmt wird. Der Erfolg der römischen Armee fußte zu großen Teilen auf ihrer Belagerungstaktik und der Art, in der sie ihre Lager sicherten. Das weiß jede*r, die/der Caesar gelesen hat. Die Römer gruben sich ein, errichteten Bollwerke und hungerten feindliche Städte aus. Sie sicherten ihre Lager, wie Martin Sorck seine Sucht gesichert hat: unbeweglich, starr, eben sicher.

Doch Helsinki ist meines Wissens nach niemals von den Römern erreicht worden. Im Roman Sorck dient Helsinki als Realisierungspunkt, als der Moment, an den leider nicht jede*r Süchtige gelangt und über den viele nicht hinauskommen, nämlich als dringende Einsicht der eigenen Situation. In keinem Part des Romans gibt es mehr Visionen, Innensichten und Träume. Die Kirchen, in denen sich vieles davon abspielt, sollen kein Hinweis auf eine Rettung durch Gott sein, sondern wiederum symbolisch verstanden werden: Orte der Einkehr und der Ruhe. Sich hinzusetzen, Klarheit im Rausch zu finden und unvernebelt nachzudenken, ist ein seltenes Glück, das sich viele nicht zu haben trauen und das manche nicht ertragen.

Es wird nicht explizit gesagt, weil die Suchtgeschichte komprimiert ist, also eine jahrelange Entwicklung in Form einer kurzen Kreuzfahrt dargestellt wird, aber in Helsinki ist der Moment gekommen, ab dem es besser werden kann. Die Sucht ist eingesehen, man kann sie bekämpfen.

Widerstand & Nüchternheit

Auch Stockholm wehrt sich, aber erfolgreicher als Tallinn. Obwohl Martin Sorck auf Seiten der Angreifer vom Schiff ist, greift er zugunsten eines Jungen ein, der von Reisenden bedrängt wird. Dies ist trotz aller Gewalt während der Landgänge der einzige Gewaltakt des Protagonisten. Er ist sonst mehr Zeuge als aktiver Teilnehmer, doch hier mischt er mit. Was es genau mit dieser Szene auf sich hat, warum ausgerechnet dies der aktivste Part von Martin Sorck ist und warum sie gleichzeitig die brutalste Szene des Buches ist, werde ich an anderer Stelle mal erläutern. Für diesen Blogeintrag ist es nur wichtig, dass Martin eingreift, dass die Stadtbewohner sich wehren und dass die Reisegesellschaft ihre Macht verliert.

Hier ist ein Detail wichtig, das man schnell übersieht. Etwas fehlt in und ab Stockholm, oder? Richtig, Martin trinkt nicht mehr. Den ganzen Tag ist er nüchtern und wenn er abends an der Reling steht, hält er zwar einen Drink, aber er trinkt nicht davon. Stockholm ist der Widerstand gegen den Zwang, ist der Entzug, dargestellt durch die sich wehrenden Bürger*innen gegen die unterdrückende Macht der Reisegesellschaft. Dieser Abend stellt auch auf der Ebene der Beziehung zu Eva einen echten Erfolg dar und es ist außerdem der Abend, an dem Martin die Klappe aufmacht und endlich sagt, was in ihm los ist. Befreiung auf jeder Ebene.

Liest man also die Reise im Roman Sorck als Geschichte einer Sucht, so wäre Stockholm der positive Abschluss, oder? Wie man am Glas in Martins Hand sieht und an seinem Seelenzustand am nächsten Tag, ist damit keineswegs die Gefahr gebannt. Daran, wie Tallinn geendet hat, mit der totalen Zerstörung nämlich, kann man ablesen, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen und wahrscheinlich niemals gesprochen sein wird, wenn es um die Sucht geht.

Suff & Kontrollverlust

Bereits mehrmals habe ich erwähnt, dass ein Grundthema des Romans Sorck und vieler anderer Werke von mir der Komplex aus Kontrolle/Kontrollverlust & Macht/Ohnmacht ist. Im Buch kommt das Thema auf etlichen Ebenen zum Vorschein. Dass die grundlegende Struktur des Romans die Geschichte einer Sucht erzählt, ist nur ein Beispiel. Martins Suff soll auf diese Lesart hinweisen, aber steht natürlich auch davon losgelöst für seinen Kontrollverlust, nicht nur über seine Trinkgewohnheiten, sondern über sein komplettes Leben. Er muss neu anfangen. Er darf neu anfangen. Am Ende versteht er das.

Zwischenspiele an Deck

In diesem Blogeintrag habe ich mich auf die Landgänge im Roman beschränkt. Allerdings sind die Parts an Bord des Kreuzfahrtschiffes natürlich ebenso wichtig. Allein auf das hier besprochene Thema bezogen, wäre bedeutsam, zu erwähnen, dass kein System abgeschlossen ist. Martin lebt nicht allein und nicht jede Verbesserung oder Verschlimmerung kommt aus ihm oder muss aus ihm kommen. Wenn man die Landgänge als innere Stationen betrachtet, also als Entwicklungsschritte, könnten die Szenen an Bord als Einflüsse von außen gelesen werden. Eduardo und Eva wären solche Einflüsse. Beide sind von zweifelhafter Natur, aber ultimativ helfen sie, und vielleicht helfen sie nur, weil Martin sie als Hilfe annimmt und interpretiert. Was ich sagen will, ist wohl, dass man sich Hilfe suchen und Hilfe annehmen sollte, wenn man alleine nicht zurechtkommt. Es liegt keine Schande im Kampf gegen die Sucht oder in der Sucht selbst. Ein Sieg ist nicht weniger wert, nur weil man ihn nicht vollkommen alleine errungen hat. Sucht ist eine Krankheit, die man überwinden oder die man wenigstens im Zaum halten kann. Mal klappt das alleine, aber besser funktioniert es mit der Hilfe anderer. Offenheit, auch so wie Martin sie an der Reling exerziert, ist ein guter Schritt in die richtige Richtung. Wehrt euch gegen den Teil in euch, der euch klein halten will, der eure Probleme einmauert wie die Römer, der euch zu Dingen zwingt, die ihr eigentlich nicht wollt, der euch Lügen erzählt und stumm halten will!

In Sorck geht es nicht nur um Kontrolle von außen, sondern auch um Selbstkontrolle und um Befreiung. Martin Sorck wird befreit und macht sich frei. Aus meiner Sicht ist das das wichtigste Element des Buches: Am Ende ist Martin trotz und wegen aller Kämpfe frei.

Warum das alles?

Die Kreuzfahrt der S.S.C.F. Aisha Harmonia, die Reise des Protagonisten Martin Sorck, ist die verkürzte, komprimierte Version seines eigentlichen Problems. Zu Beginn des Romans wird seine Entwicklung zusammengefasst: Frustrierende Arbeit, Interessenverlust, Gleichgültigkeit, Rückzug, Alkohol. Der enorme Alkoholkonsum während der Reise ist nicht zu übersehen und etliche von Martins Beinamen beziehen sich darauf. Ich habe Martin immer als scheinbar Gescheiterten betrachtet, als inzwischen Süchtigen, der sich im Frust, in der Zurückgezogenheit und dem Alkoholismus eingerichtet hatte. Das Feuer und die Reise im Anschluss brechen alle Gewohnheiten auf und er durchlebt in Kurzform, was er mit der Sucht bereits erlebt hat und noch erleben wird, eben das, was oben beschrieben steht. Martins Weg in die Abhängigkeit und möglicherweise wieder heraus.

Zwei Seelen, ach, sch**ß drauf

Überlegungen zum eigenen Internetauftritt und anderen Fragen des Marketings.

Mit großer innerer Widersprüchlichkeit folgt große Darstellungsproblematik. Wie, was, wer und wo ich bin, zeigt sich in meiner Literatur, wenn auch weniger offensichtlich, als viele meinen. Was aber zeige ich, um meine Leser*innen zu erreichen? Wer bin ich nach außen? Was sagt mein Internetauftritt?

Man könnte meine Werke in zwei Lager unterteilen: 1. Das scheinbar brave, seriöse Lager, in dem es um Philosophisches geht, in dem hochtrabende Ideen verarbeitet werden, in dem jedes Detail eine Bedeutung hat, und 2. in das provokante, dreckige, schwarz-humorige und abgefuckte Lager, in dem BDSM, Blut, Gewalt, Drogen und Chaos vorherrschen. Alte Milch tendiert in vielen Texten eher zu Lager 2, während Sorck und Das Maurerdekolleté des Lebens eine Mischung aus beiden Lagern darstellen. Reine Vertreter von Lager Nr.1 gibt es wenige, aber es gibt sie. Hier sind wir bereits auf das Problem gestoßen: Ich bin und schreibe sowohl intellektuell-anspruchsvoll als auch dreckig-ehrlich. Literarisch halte ich das für interessant, aber marketingtechnisch ist das schwierig. Wen spreche ich an? Wie spreche ich sie an? Welchen Aspekt betone ich?

Dieses Dilemma muss behoben werden. Nicht das Dilemma der inneren Zerrissenheit, denn diese speist meine Arbeit, sondern das Dilemma der öffentlichen Darstellung (Internetauftritt) oder Kurzdarstellung (Klappentexte etc.). Jede Werbung – und ein Internetauftritt ist nichts als Werbung – ist eine verkürzte, komprimierte (und auf Verkaufsaspekte konzentrierte) Darstellung des zu bewerbenden Artikels. Ist dieser Artikel mehrere (wenigstens scheinbar) gegensätzliche Dinge zugleich, wird es schwierig. Ich bin dieser Artikel, und da ich etwas komplexer bin als beispielsweise Joghurt, haben wir ein Problem.

Zu Beginn meiner Arbeit, als ich mich bei Twitter und Instagram anmeldete, diesen Blog startete und mich der Welt präsentierte, tendierte ich zur Darstellung meiner düsteren, verstörenden, dreckigen Seiten, hatte ein irr blickendes Auge als Profilbild und stellte verzerrte Vertonungen meiner Gedichte online. Recht bald danach empfand ich das alles als unprofessionell und änderte meinen Auftritt entsprechend: ein richtiges Profilbild mit professioneller(er) Wirkung und passenden Tweets und Blogeinträgen. Die dritte Stufe war bereits eine Zusammen- oder Rückführung, denn ich wurde „ehrlicher“, also zensierte mich nicht mehr, und schrieb und veröffentlichte, was mich interessierte, und nicht, was möglicherweise zu meinem Auftritt passte. Ich bin beide Seiten der Medaille.

Das angesprochene Problem ist noch nicht gelöst. Ja, ich zeige mehr von mir, ja, ich bin offener, und ja, dadurch komme ich meinem Publikum (theoretisch) näher, aber dennoch reicht das nicht. Noch repräsentiert mein Auftritt nicht meine Werke, noch bekommen beispielsweise Follower keinen rechten Eindruck von dem, was in meinen Büchern vorkommen könnte, anhand meiner Tweets und Posts. Wie kann ich das ändern? Kann ich das ändern? Sollte ich es?

Betrachtet man Literatur als Verarbeitung innerer Vorgänge, weil man sie anders nicht oder nicht weit genug verarbeiten kann, stellt es sich als unmöglich dar, mit dem Internetauftritt die eigenen Werke zu repräsentieren. Könnte man es, müsste (oder würde) man nicht mehr schreiben.
Betrachtet man Literatur aber als Endergebnis bewusster Prozesse, von Planung und von technischer Umsetzung konstruierter Ideen, wäre es wiederum möglich. Dann könnte man die Ideen, Themen und Umsetzungsprozesse aufzeigen und verkünden: dies sind meine Themen und dies sind meine Techniken.
Wir drehen uns im Kreis. Denn wieder muss ich feststellen, dass beide Sichtweisen zum Teil richtig sind, es sich aber am Ende immer um ein Mischprodukt handelt.

Die Lösung könnte darin bestehen, dass ich noch offener werde: Wie hat mein Leben bisher ausgesehen, wie sieht es jetzt aus, was habe ich Schlimmes erlebt, was habe ich Schönes erlebt, was studiert, was gearbeitet und welche Menschen und Geschehnisse lassen mich nicht los? Manche können das, aber ich habe Schwierigkeiten damit, da ich immer ein sehr privater Mensch gewesen bin. Außerdem frage ich mich, ob eine derartige Offenlegung nicht dazu führen könnte, dass meine Werke fortan nur noch aufgrund der Informationen über mein Leben interpretiert werden. Raubt die Offenlegung meines Lebens meinen Werken etwas? Stirbt damit ein bisschen Mysterium?

Was in Zukunft vermutlich geschehen wird, ist eine Änderung und Entharmlosung meiner Cover sowie eine Konkretisierung in der Formulierungen meiner Klappentexte. Diese sind bisher allgemein gehalten, aber ich schreibe nicht für die Allgemeinheit. Meine Leserschaft ist anders, weil ich anders bin und meine Geschichten anders sind. Darauf muss ich einen größeren Fokus legen und stolz darauf sein.

Nachtrag

Für weitere Gedanken und Hörenswertes zum Thema Buch- und Autorenmarketing empfehle folgenden Podcast, in dem ich ebenfalls mitreden durfte:

Buch- und Autorenmarketing – Matthias Thurau, S.M. Gruber und Benjamin Spang.

Autor*innenpodcast: Buch- und Autorenmarketing

Hinweis auf den Autor*innenpodcast von Kia Kahawa über Buch- und Autorenmarketing.

Kia Kahawa hat auf ihrer Patreon-Seite eine weitere Folge des Autor*innenpodcasts hochgeladen. Neben mir sprechen S.M. Gruber und Benjamin Spang.

Thema der Podcast-Folge ist Buch- und Autorenmarketing.

Für alle, die Tipps für Buchwerbung und Social Media Marketing suchen, geht es hier entlang:

Buch- und Autorenmarketing – Matthias Thurau, S.M. Gruber und Benjamin Spang.