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Figurenbeschreibung und -kommunikation

Über Möglichkeiten, literarische Figuren zu beschreiben und sich untereinander beschreiben zu lassen.

Figuren interessant und stimmig zu beschreiben, ist bereits schwierig. Ich möchte aber einen Schritt weitergehen und über Figurenbeschreibungen durch andere Figuren nachdenken.

In Die folgende Geschichte von Cees Nooteboom lässt der Autor den Ich-Erzähler, einen Altphilologen, über einen Mann, den Ehemann seiner Geliebten, sprechen. Er beschreibt ihn als eine(r) Art Riese aus Kalbfleisch, glatzköpfig, mit einem ewig grinsenden Gesicht, als würde er ständig Kekse anbieten. Die beschriebene Person ist außerdem Lehrer für Niederländisch – anbei bemerkt sei, dass die Geschichte im Original Niederländisch ist – und schreibt Gedichte. Der Ich-Erzähler kommentiert dazu, dass sein Konkurrent im Unterricht den Schülern bloß strukturiert beibringe, was sie ohnehin von jüngster Kindheit an können, und endet mit den Worten: … aber auszusehen wie ein schlecht gebratenes Kotelett und von Poesie zu sprechen, das geht zu weit.

Wir haben hier eindeutig keine sachlichen Beschreibungen. Der Beschriebene ist verheiratet und hat Affairen (oder „Affären“, wie man es leider heute schreibt), also ist der giftige Ton möglicherweise angebracht, wenigstens aber verständlich. Gleichzeitig wird er nicht auf jede*n dermaßen unattraktiv wirken, wie er vom Erzähler, der ja sein Konkurrent ist, gezeichnet wird. Was können wir über den Ich-Erzähler durch die wenigen Kommentare lernen?

Zunächst einmal, dass man ihm, wie eigentlich allen Ich-Erzählern, nicht trauen sollte. Ich-Erzähler sind Teil der Geschichte, sind selbst Figuren, haben Gedanken, Gefühle und eine Agenda. Sie stehen keinesfalls außerhalb des Geschehens und sind daher nicht neutral. Ihre Wertungen und ihre Beteiligung machen sie suspekt. Man sollte Geschichten mit derartigen Erzählern immer hinterfragen: Stimmt es, was uns von der Erzählinstanz aufgetischt wird? Was ändert sich, wenn wir uns gegen die Ansichten der Erzählinstanz entscheiden? Solche und andere Fragen sind spannend. Natürlich möchte man als Leser*in in eine neue Rolle schlüpfen und die Welt durch fremde Augen sehen, aber man sollte niemals vergessen, dass hinter diesen fremden Augen die gleichen Hinterhältigkeiten stecken (können) wie hinter den eigenen Augen. Gerade die zeitweise Übernahme anderer Perspektiven mithilfe der Literatur sollte uns lehren, Abstand gewinnen zu können und objektiv Ansichten und Meinungen zu prüfen. Auf einer Ebene genieße ich den Witz in Nootebooms Worten, auf einer anderen erlebe ich die Frustration des Ich-Erzählers mit und auf einer dritten verstehe ich, dass mir hier subjektiv etwas vorgegeben wird, das objektiv („objektiv“ innerhalb der Geschichte) anders aussieht.

Was lernen wir noch aus den Kommentaren des Protagonisten/Ich-Erzählers? Er hegt offensichtlich eine starke Abneigung gegen den Niederländisch-Lehrer. Gründe dafür finden sich problemlos in der Geschichte, die ich 1. noch nicht ausgelesen habe und 2. niemandem durch Spoiler ruinieren möchte. Man lernt durch die Art der Beleidigungen und Bemerkungen aber noch mehr. Es schwingt ein eindeutiger Elitarismus mit. Sprache ist dem Erzähler wichtig, besonders Latein, und die Vorstellung, dass jemand wie sein Konkurrent, ein grober, sportlicher Typ mit Erfolg bei Frauen, Lyrik verfasst – oder das, was er für Lyrik hält –, scheint dem Erzähler absurd. In seiner Gedankenwelt kommen weder moderne Lyrik noch Körpermenschen gut weg. Diese Überlegungen führen sofort zu einem recht unsympathischen Eindruck des Protagonisten. Man könnte außerdem daraus schließen, dass er sein eigenes Aussehen für wenig ansprechend hält und möglicherweise eingeschüchtert von seinem Konkurrenten. Warum sonst sollte er ihn dermaßen schlechtmachen?

Nooteboom hat den Erzähler absichtlich und mit viel Mühe bis zu dieser Stelle unsympathisch gezeichnet, aber auch mit Witz und Gefühl. Warum das alles? Das weiß ich noch nicht.

Nutzt man einen Ich-Erzähler, kommt man nicht umhin, ihn in Beziehung zu anderen Figuren zu setzen – es sei denn, man ist Samuel Beckett und stellt beinahe körperlose Figuren in leere Räume. Das bedeutet, dass man bei Beschreibungen anderer Figuren nicht nur deren tatsächliches Aussehen und Verhalten bedenken muss, sondern auch ihre Beziehung zum Erzähler beziehungsweise umgekehrt. Ein verliebter Erzähler wird Schönheitsfehler als sympathische Extras zeichnen, während ein betrogener Erzähler diese möglicherweise als hässliche Makel hervorheben würde (abhängig von seinem Charakter).

Noch schwieriger wird es, wenn der Ich-Erzähler einer anderen Figur über eine dritte Figur berichtet und dabei eine (offene oder versteckte) Intention hat. In dem Fall ist wichtig, wie die beschriebene Figur wirklich ist, wie der Ich-Erzähler sie wahrnimmt und welches Bild er beim Adressaten hervorrufen will. Beispiel: A. ist durchschnittlich attraktiv, aber B., Ich-Erzähler*in, ist in A. verliebt und findet ihn/sie extrem attraktiv. B. fürchtet, dass C., Adressat*in, Interesse an A. entwickeln und A. ihm/ihr wegschnappen könnte. Daher weist B. vor C. permanent auf die Mängel von A. hin. Wir können aus der Kommunikation zwischen B. und C. nicht direkt auf die Gefühle von B. schließen und auch nicht auf A.’s tatsächliche Attraktivität. Nur in Kombination mit dem Wissen, dass B. in A. verliebt ist, ergibt das Gespräch Sinn. So entstehen auch Intrigen.

Man könnte eine ganze Geschichte nur um die Feinheiten der Kommunikation und Beziehungen verschiedener Figuren zueinander schreiben, ohne dass viel Handlung nötig wäre. Aber wieso „könnte“? Das ist schon mehrmals geschehen. Man denkt nur nicht so häufig darüber nach. Ich denke, dass viele Autor*innen – ich schließe mich da nicht aus – häufig die Techniken, wie sie in diesem Artikel beschrieben stehen, anwenden, ohne darüber nachzudenken. Wir sind es aus dem Alltag gewohnt. Das ABC-Beispiel oben kennen die allermeisten wahrscheinlich noch aus Schulzeiten.

Sich dieser Mechanismen bewusst zu werden, hilft, sie in einer Geschichte besser und zielgerichteter anzuwenden. Vielleicht konnte ich damit irgendwem die Schreibarbeit erleichtern. Ich hoffe jedenfalls, dass ich selbst beim nächsten Mal daran denken werde, wenn meine Figuren miteinander kommunizieren.

Das Maurerdekolleté des Lebens: Zu gut, um wahr zu sein?

Über eine Szene aus der Erzählung “Das Maurerdekolleté des Lebens” und die Psychologie dahinter.

Es soll in diesem Blogeintrag um einen ganz kleinen Part aus Das Maurerdekolleté des Lebens gehen. Wer das Werk völlig unvoreingenommen lesen möchte, sollte diesen Text also erst nach der Lektüre des Buches lesen. Ohne Spoiler geht es nicht.

»Ein anderer Weg führte nach rechts, doch wurde Theo misstrauisch. Von dort roch es nach frisch gebackenen Keksen und er hörte Musik. Blickte er in den Seitentunnel, fühlte er sich sicher. Dort schien es trocken und warm zu sein, weich und gemütlich. Die Sache war ihm nicht geheuer. Ihm fielen Hänsel und Gretel ein. Es schien zu gut, um wahr zu sein.«

Theo hat sich verlaufen, befindet sich in einem Tunnel und sieht keine besseren Optionen links oder rechts. Dann begegnet ihm inmitten des Ekels und der Orientierungslosigkeit etwas Schönes. Was tut er? Er glaubt nicht an sein Glück und geht daran vorüber.

Im tiefsten Elend ist man meist bereit, nach jeder Hand zu greifen, die gereicht wird. Doch schnell lernt man, die Hoffnung fahren zu lassen. Sie führt nur zu mehr Schmerz. Es ist erheblich weniger anstrengend, sich im Dreck zu suhlen, als sich herauszuziehen (selbst mit Hilfe). Dabei lohnt sich die Anstrengung – meist jedenfalls. Das Risiko einer weiteren Enttäuschung ist es wert eingegangen zu werden. Wer ganz unten ist, kann nicht tiefer fallen. Wer Angst hat, noch schlimmer dran zu sein, ist noch nicht ganz unten angekommen.

Theo läuft durch ein schmutziges Labyrinth. Wieso sollte dort unten plötzlich ein Ausweg auftauchen? Die Frage müsste lauten: Wieso nicht? Hänsel und Gretel haben im Hexenhaus gelitten, doch sie kommen stärker und erfahrener zurück. Hätten sie geahnt, was ihnen bevorstehen sollte, wären sie nicht hineingegangen. Wie wägt man ab? Jede Chance ist ein Risiko, jede Hoffnung eine Möglichkeit, erneut abzustürzen.

Es gibt mehrere ungesunde Verhaltens- und Denkweisen, die man in die Szene hineininterpretieren kann, und entsprechend mehrere Lesarten. Theo hat noch immer ein Ziel, das er zu erreichen versucht. Dieses Ziel ist nicht Glück oder Liebe oder sonst etwas Schönes, sondern ein Arbeitsplatz. Man könnte es so lesen, dass er sich durch das Labyrinth quält, um sich danach weiter abzurackern. Das gäbe Theo einen energischen Kern und der nach Keksen duftende mögliche Ausweg erschiene als Ablenkung, als Ort der Faulheit, als Betrug (sofern es eine Abkürzung wäre und er sich vor der nötigen Qual drückt) und als Abkommen vom Ziel. Menschen, die sich Pausen und angenehme Unterbrechungen ihrer Arbeit nicht gönnen (können), gibt es in unserer Gesellschaft zuhauf. Leistung wird belohnt und Muße als Faulheit betrachtet. Selbst Arbeitserleichterungen werden misstrauisch betrachtet, weil man mit neuen Hilfsmitteln plötzlich weniger hart arbeiten muss und weil jede Veränderung schwierig ist.

Das wäre bereits die zweite Lesart: Angst vor Veränderungen. Theos Weg repräsentiert auch sein Leben und in diesem hat er nichts als Wirrnis, Furcht, Dunkelheit, Schmutz und Ekel kennengelernt. Noch immer ist er orientierungslos unterwegs, aber er ist inzwischen lang genug in dieser unangenehmen Welt, dass er sie halbwegs kennt. Die Schulzeit ist vorbei, er ist durch die Mangel gedreht und indoktriniert worden, bevor er geschluckt und verdaut wurde. Ist der Weg sein Leben, dann kennt er nichts anderes als diesen Weg. Wie viele Menschen fürchten sich vor neuen Wegen, Erfindungen, Gesellschaftsformen, Moden oder Zuständen, nur weil diese eben neu sind? Es ist eine natürlicher Schutzinstinkt, vorsichtig gegenüber Neuem zu sein. Wollte ein Höhlenmensch seine Geschmackspalette erweitern, riskierte er sein Leben. Angst ist ein Gegenpol zur Neugierde. Ich glaube, dass mit zunehmendem Alter die Neugierde schwächer und die Angst vor Veränderungen größer wird. Das ist der Grund für Generationenkonflikte. Doch nicht nur das Alter verschiebt die Balance zwischen Angst und Neugierde, sondern auch Gefahr (oder der Anschein von Gefahr). Immer mehr Freiheit wird aufgegeben, um Sicherheit zu gewährleisten, und man muss gut aufpassen, wann welche Einschränkungen akzeptabel sind, was kurzfristig ist und was bleibt. Theos Entscheidung, nicht in den unbekannten (weil anders als die anderen gearteten) Tunnel abzubiegen, ist eine Entscheidung für die Sicherheit, die das Vertraute bietet, so unangenehm es auch sein mag, und gegen die unsichere Möglichkeit der Veränderung.

Dazu passend wäre der Gedanke an Menschen, die so viel Schlechtes erlebt haben, dass Gutes Misstrauen erzeugt. Es ist beinahe hinterhältig, wie das Schicksal mit Menschen spielen kann. Von außen wird Leid herangetragen und bleibt es lange genug, misstraut man dem Glück. Wer kennt nicht das Gefühl, dass das Leben zu gut oder zu einfach läuft? Dieses Gefühl, dass schon zu lange nichts mehr schiefgelaufen ist. Beinahe fühlt es sich ein Schwebezustand an. Man ist nicht wirklich im Bereich des Positiven, sondern wartet auf das Negative, ist dadurch in der Grauzone zwischen beidem und lässt sich von der Unsicherheit auffressen. In Zeiten von Covid19 könnte man es mit der Angst vor einer Ansteckung vergleichen: Die meisten sind sich relativ sicher, dass sie keinen schweren Verlauf hätten, aber man weiß ja nie. Es wäre einfacher, wenn man wirklich krank wäre und Bescheid wüsste, anstatt zu rätseln. Der angenehm wirkende Tunnel wäre die Hoffnung und vielleicht der Weg zu einem angenehmeren Leben, während der Weg, auf dem Theo letztendlich bleibt, die harte Realität darstellt, die auf ihre unangenehme und konkrete Weise sicher erscheint. Manche Menschen ruinieren sich das wenige Schöne, das sie finden (oder das sie findet), in der Sorge, dass es irgendwann nicht mehr schön sein wird.

Ich weiß nicht, wohin die Abzweigung führt. Es könnte eine Falle sein oder die schönstmögliche Version von Theos Reise. Das eben ist das Problem: Man kann es nicht wissen, wenn man es nicht ausprobiert. Sollte er zu einem späteren Zeitpunkt erneut an die Entscheidung gegen den Tunnel denken, wird ihn das sicherlich quälen.

Sleep: Dopesmoker

Über den Song “Dopesmoker” von “Sleep”.

Es gibt Songs, die jede*r in einer bestimmten Musikszene kennt und die kaum jemand nicht liebt. Absoluter Kult, Teil der Grundbildung jeder Person, die sich zugehörig fühlt. Dopesmoker ist ein ein solcher Song für die Stoner-Szene.

Mit beinahe 65 Minuten Länge ist Dopesmoker der längste Song, den ich kenne. Das komplette Album besteht nur aus diesem einen Song und es wird niemals langweilig. Nach einem Intro von etwa 8 Minuten und 30 Sekunden setzt der Gesang ein:

Drop out of life with bong in hand
Follow the smoke toward the riff-filled land

… und jede*r weiß Bescheid. Doch da ist mehr. Über das grandiose, sich endlos wiederholende und variierende Riff, das durchgehend fesselt und von mehreren Soli ergänzt wird, möchte ich gar nicht mal sprechen. Natürlich ist es das Herzstück des Songs. Aber es gibt viele gute Stoner-Songs mit guten Riffs. Was den meisten Liedern dieser Szene fehlt, sind gute Lyrics. Dopesmoker beweist den meiner Meinung nach kreativsten Umgang mit der Thematik des Kiffens überhaupt. Schauen wir mal rein.

Erzählt wird die Geschichte einer Karawane durch die Wüste nach Jerusalem. Sie folgen einer Prophezeiung. Die Karawane besteht aus Priestern, Stoner-Priestern, die den Samen aus dem Garten Eden – Cannabis – in die heilige Stadt transportieren. Das ist also der Aufbau: Ultimative Stonedheit in einem rituellen, kultischen, religiösen Rahmen. Mein liebster Teil davon sind die vielen Bezeichnungen für die Priester. Sie sind Weedians, Lungsmen, Weed-priests, Smoke-covenant, Herbsmen und mein absoluter Favorit: Marijuanaut. Dieses Wort wurde Jahre später, 2018, Titel eines Songs auf dem Album The Sciences, das eine würdigen Rückkehr der Band nach 15 Jahren Pause darstellt. Dopesmoker ist nämlich schon von 2003, ist allerdings eigentlich eine Überarbeitung des Songs/Albums Jerusalem von 1999.

Die Umgebung der Wüste wird mehrmals als sandsea oder sandscape besungen, was mir immer einen lebendigen Eindruck von Dünen und endlosem Sand vermittelt und mich außerdem entfernt an den Wüstenplaneten aus Dune erinnert (man könnte sogar das „Spice“ mit etwas gutem Willen mit Weed gleichsetzen, weil es eine Droge ist und lange Weltraumflüge erlaubt). Andere Assoziationen meinerseits wären noch Tatooine, obwohl Star Wars eine zu brave Optik hat für den Song, und die Priester und Technokraten aus der Warhammer 40k-Welt. Berühmt und passend ist die Darstellung der Karawane von Mönchskutten tragenden Steampunk-Weed-Priests mit Kiff-Rucksack auf dem Cover des Albums – nicht in allen Auflagen –, die gut wiedergibt, was ich ohnehin im Kopf habe beim Hören.

Unterstützt wird die Wirkung der Musik und des Textes durch den grandiosen, lang gezogenen Vortrag von Al Cisneros, den manche vielleicht eher vom Projekt Om kennen. Wie ein Priester in einer okkulten Messe streckt er fast jeden Vokal und zerstückelt die Einheit der Sätze unnatürlich in passende, neue Einheiten. Der Effekt ist genial. Man spürt zugleich das Wandern der Karawane und das Zurücklassen der irdischen Dinge durch die zugedröhnten Pilger, während man sich in ein quasi-religiöses, meditatives Gefühl hineinsteigern kann. Die Pilgerfahrt der heiligen Stoner kann losgehen. Zugegebenermaßen bekomme ich immer Lust auf einen fetten Joint bei diesem Song (ich war niemals ein Freund von Bongs).

Wenn wir schon über Sleep sprechen und bereits Om erwähnt haben, müssen wir natürlich noch auf Matt Pike (Gitarrist bei Sleep) und seine Band High on Fire hinweisen. Vielleicht schreibe ich irgendwann mal einen Artikel über High on Fire, aber hier sei erst einmal der Hinweis ausreichend, dass man unbedingt reinhören sollte. Der Sound der Band erinnerte mich immer an eine sich kraftvoll drehende Turbine oder das riesige Rad einer Dampflok. Die Riffs drehen sich weiter und weiter und es geht stets voran. Live sind sie übrigens auch absolut geil.

Von langen und ultralangen Songs kann man halten, was man will. Mir können sie auf die Nerven gehen, obwohl ich manche von ihnen sehr mag. Was ich aber liebe, ist die Tatsache, dass kleinere Musikszenen wie die Stoner-/Doom-/Sludge-Szene – Fans wie Labels – Künstler*innen die Freiheit erlauben, sich auszutoben, solange die Qualität stimmt. Kein Pop-Label würde ein 65-minütiges Album, das nur aus einem Song besteht, veröffentlichen. Viel zu unsicher. In kleineren Szenen bekommt man das Gefühl, dass alle Beteiligten aus Liebe zur Musik dabei sind, auch wenn die Realität anders aussehen mag. Musiker*innen (genau wie andere Künstler*innen) sollten immer so frei und unbekümmert an ihre Arbeit herangehen (können), wie Sleep es im Falle von Dopesmoker getan haben: Einfach mal ein Jahr lang an einem einzigen, ungewöhnlich und unbequem langen Song über bekiffte Kleriker in der Wüste arbeiten und dabei das vermutlich epischste Stoner-Werk aller Zeiten zu erschaffen, herrlich! Follow the smoke toward the riff-filled land!

Das Maurerdekolleté des Lebens: Erleuchtung und Berge

Über Rückzugsorte und Erleuchtung in klassischer Darstellung sowie im E-Book “Das Maurerdekolleté des Lebens”.

Vorsicht! Spoiler zu Das Maurerdekolleté des Lebens!

In der zweiten Geschichte von Das Maurerdekolleté des Lebens, betitel Das Maurerdekolleté des Todes, einem Gegenentwurf zur ersten Geschichte, zieht Theo in die Natur und findet so etwas wie Erleuchtung auf einem Berg. Hier dreht sich alles um Erleuchtung und Berge.

Zunächst einmal möchte ich feststellen, dass das Klischee des Erleuchteten auf dem Berg absichtlich gewählt ist. Einerseits ist der Berggipfel als Ort der Abgeschiedenheit noch immer ein weitgehend passendes Bild und andererseits wollte ich damit auf die Darstellungstradition von Eremiten und Heiligen hinweisen. Ob Nietzsches Zarathustra oder viele Mariendarstellungen (beziehungsweise Darstellungen von Maria mit Anna und Jesus) von Leonardo Leonardo da Vinci, zerklüftete Felsen, dunkle Höhlen und Bergspitzen haben neben Wüsten die größten Eremiten- und Heiligenbevölkerungen in der Kunst.

Kurze Nebengeschichte: Als ich Also sprach Zarathustra ausgelesen hatte, stieg ich auf einen Hügel – Berge gibt es in der Nähe nicht – und habe statt meiner Bestimmung als Einsiedler einen guten Freund gefunden. Er saß dort mit seinen Freunden und hatte noch einen Platz auf seiner Decke frei. Wir unterhielten uns und schlossen Freundschaft. Das ist nun 6 oder 7 Jahre her und wir sind noch immer befreundet. Eine Erhöhung in der Landschaft reicht noch lange nicht zur Erleuchtung.

Neben Zarathustra, der trotz der Nähe zur Natur und seiner Einsamkeit die für Nietzsche typische Aggressivität ausstrahlt und deshalb eigentlich schlecht zu Theos Reise passt, erinnern aus den Reihen der von mir gelesenen Bücher wohl am ehesten die Figuren und Werke von Hesse an Das Maurerdekolleté des Todes. Junge Männer, die aus den Beschränkungen der Gesellschaft ausbrechen, durch die freie Natur wandern, hier und da eine Liebschaft haben und Künstler werden. Ein solcher Aufbau kann schnell zu Kitsch verkommen und das ist bei Hesse das eine oder andere Mal auch passiert. Dennoch wird der Freiheits- oder Ausbruchsgedanke immer anziehend bleiben.

Es wäre langweilig und würde nicht zu mir passen, würde Theo auf dem Gipfel in Ruhe gelassen werden. Früher galt der Mount Everest als beinahe unbesteigbar. Nur wenige Menschen schafften den mühsamen Aufstieg und damit etwas Außergewöhnliches. Heutzutage kommt es zu seltsamen Szenen auf dem Everest: Leute stehen in einer langen Schlange und warten darauf, dass sie den Gipfel besteigen und ein Foto schießen können. Zugegebenermaßen gibt es noch keine großen Hotels dort oben, aber mit etwas Willen und etwas mehr Geld kann fast jede*r den Mount Everest besteigen. Das Geheimnis liegt übrigens in den Helfern, die die Routen kennen und den Aufstieg hundertfach mit schwerem Gepäck machen, wenn sie nicht vorher abstürzen und sterben. Ist es nicht albern, sich dann mit einem Foto vom Gipfel zu feiern?

Hier kommen wir zu einem Problem. Wohin zur Hölle soll man noch ausbrechen? Die Menschen sind überall. Kein Berg ist sicher vor Kletterern und Skifahrern, keine Wüste sicher vor Buggy-Fahrern, und richtige Wälder gibt es immer weniger. Man könnte sich einen Bunker bauen, aber das würde sich nicht wie ein Ausbruch anfühlen, oder? Man bricht nicht aus dem Gefängnis aus, indem man sich eine kleinere Zelle baut. Ich glaube ernsthaft, dass es ein Grund für die Häufung psychologischer Erkrankungen ist, dass man nirgendwo mehr hin flüchten kann. Völlig egal, wo man hingeht (und realistischerweise hingehen kann), es werden dort Menschen sein. Rückzug ist unmöglich geworden. Wir sind die Gesellschaft, Widerstand ist zwecklos.

Braucht man denn den Rückzug, um Erleuchtung zu erlangen? Kennt ihr erleuchtete Personen – ob man nun an Erleuchtung glaubt oder nicht, ist hier erst mal zweitrangig –, die inmitten anderer Menschen leben oder lebten? Ich schränke es weiter ein: …, die inmitten anderer Personen leben/lebten, die nicht das gleiche Ziel haben? Soziale Interaktion, das Aufrechterhalten der Maske, kostet zu viel Kraft, als dass man sich noch auf Höheres konzentrieren könnte, glaube ich. Wolltet ihr schon einmal alleine sein und konntet nicht? Das ist eine schreckliche Situation. Auf der Kreuzfahrt, die die Grundlage für Sorck bilden sollte, suchte ich eine Stelle auf dem Schiff, an der ich allein sein konnte. Ich suchte alles ab und fand keinen Ort ohne Menschen. Dann bin ich in die Kabine – Innenkabine, keine Fenster – gegangen: Ein Rückzug aus dem Gefängnis in den Bunker. Keine 5 Minuten später kam mein Bruder, mit dem ich mir die Zelle teilte, hinein. Er hatte einen Ort gesucht, an dem es ruhiger war.

Am Ende sollte ich vielleicht klarstellen, dass ich niemals eine echte Erleuchtung erfahren habe und auch nicht wirklich an einen solchen Zustand glaube. Ich hoffe allerdings darauf, dass ich mich irre. Erleuchtung betrachte ich trotz der Herkunft aus dem Gebiet der Religion nicht als religiösen Begriff. Eine totale Abkehr von der Welt, innerer Frieden, eine allumfassende Erkenntnis (und mag sie Illusion sein), ein Gefühl der Erfüllung mit Leichtigkeit, das Ablegen aller Sorgen: Erleuchtung. Für mich ist Erleuchtung, was auch immer es wirklich sein mag, eine beruhigende Vorstellung und eine Sehnsucht zugleich. Eine gute Erleuchtungsdarstellung (Siddhartha beispielsweise) bringt mein Leben für eine Weile in Waage und stellt Ausgleich her. Dass ich diese Erleuchtung in Das Maurerdekolleté des Todes gezielt ruiniere, ist daher eine Kritik an der Welt und kein Vorwurf an jene, die nach dieser Art von Frieden suchen.

Sorck: Buchgeburtstag

Was ist geschehen, seit der Roman “Sorck” vor einem Jahr erschienen ist?

Der 27. Mai 2019 ist das offizielle Veröffentlichungsdatum meines Debütromans Sorck: Ein Reiseroman. Zu diesem Anlass möchte ich reflektieren, was seitdem geschehen ist, was ich mit diesem Buch erlebt habe und wo es noch hingehen soll.

Die erste große Veränderung durch die Veröffentlichung war die Realisierung, dass ich es tatsächlich durchgezogen hatte, dass ich längere Schreibprojekte also bewältigen kann und dass ich endlich ein veröffentlichter Autor geworden bin. Mein Leben lang habe ich mich als Autor betrachtet, aber hatte zwischenzeitlich Schwierigkeiten damit, diese Einschätzung zu rechtfertigen. Viele kennen das: Ist man bereits Autor, ohne etwas veröffentlicht zu haben? Natürlich ist man, aber man fühlt sich nicht unbedingt so. Das erste eigene Buch in Händen zu halten, ist großartig. Endlich der konkrete Beweis, dass man ist, was man zu sein meinte! Aus diesem Erfolg erwächst Mut, weitere Projekte, auch größere, anzugehen.

Es folgten Rückmeldungen von Freund*innen, Bekannten und Fremden, die in den allermeisten Fällen sehr positiv ausgefallen sind, weit positiver, als ich es vor der Veröffentlichung vermutet hatte. 4- und 5-Sterne-Bewertungen auf Amazon, Besprechungen auf Buchblogs wie dem Buchensemble oder KeJas Wortrausch waren weiterer Wind in meinen Segeln. Der Erfolg ist mir zu Kopf gestiegen, sodass ich meine sozialen Ängste zur Seite geschoben habe, um Sorck in Geschäften und Buchläden anzubieten – wieder mit Erfolg (in den meisten Fällen). Einen Artikel dazu hatte ich auch mal geschrieben: Selfpublishing und Buchläden

Was noch? Achja, zwei weitere Veröffentlichungen folgten mit Alte Milch: Gedichte und Das Maurerdekolleté des Lebens: Drei surreale Geschichten. Der allererste Schub, den eine Veröffentlichung bringt, folgt leider nicht mehr ganz so stark bei den nächsten Büchern. Natürlich betrachte ich auch diese Werke als klare Erfolge für mich, aber der Debütroman ist nun mal der Debütroman. Da kommt nichts dran.

Im letzten Jahr ist es mir gelungen, ein kleines Netzwerk aufzubauen, Autorinnen und Autoren kennenzulernen, die mich professionell und auch persönlich unterstützen. Auf diese Weise bin ich dann auch ins Team von Nikas Erben aufgenommen worden, in deren nächster Anthologie Geschichten von mir zu lesen sein werden. Außerdem gaben mir neue Social Media-Verknüpfungen die Chance, inzwischen bereits mehrere Interviews mitgemacht haben zu dürfen (ist das grammatikalisch korrekt?). Das neueste Interview gibt es hier: Jenlovetoread: Interview mit Matthias Thurau, “ältere” sind beispielsweise auf Das Bambusblatt und BirgitConstant.de zu lesen. Aber nicht nur online erfuhren die Menschen von mir und meinen Büchern, denn inzwischen sind Zeitungsartikel sowohl zu Sorck als auch zu Alte Milch gedruckt worden (neben der Veröffentlichung online).

Der Blog selbst hat sich im letzten Jahr ebenfalls weiterentwickelt. Ich nehme mir inzwischen die Freiheit, über alles zu schreiben, was mir durch den Kopf geht. Literatur ist noch immer mein Hauptfokus, aber auch Kunst, Ästhetik, Filme/Serien und Musik sind nun vertreten. Auch haben die positiven Rückmeldungen zu den Büchern und zu den Blogartikeln mir geholfen, mich zu öffnen, weniger zu zweifeln und einfach zu machen.

Damit wären wir im Jetzt angekommen. Die Corona-Krise wirkt sich lähmend auf mich aus, aber legt mich dennoch nicht völlig lahm. Blogartikel schreibe ich noch immer und arbeite außerdem an verschiedenen anderen Projekten. Sie werden mehr Zeit benötigen, als ursprünglich gehofft, aber sie werden fertig werden. In kleinen Häppchen schreibe und überarbeite ich Kurzgeschichten und Erzählungen für einen ersten eigenen Erzählband. Die Geschichten sind in verschiedenen Genres angesiedelt und in verschiedenen Stilen verfasst. Zwar fehlt mir noch die gemeinsame Überschrift, aber am Ende wird ein abwechslungsreiches Buch stehen, das viele Denkanregungen geben wird und bei Testlesern bereits die ersten Herzen gebrochen hat. Gleichzeitig lauert mein zweiter Roman, der noch einige weitere Überarbeitungsrunden benötigt, bevor er veröffentlicht werden kann. Er wird ganz anders werden als Sorck, etwas weniger abgedreht und ein wenig ernster, aber nicht weniger gut oder einzigartig!

Der Buchgeburtstag zwingt mich neben aller Selbstbeweihräucherung auch zur Selbstkritik. Es gibt Bereiche, beispielsweise das Marketing, an denen ich definitiv arbeiten sollte. Meine Werke haben mehr Aufmerksamkeit verdient und diese Aufmerksamkeit sollte ich ihnen verschaffen. Einerseits handelt es sich um eine Frage der Zeit, da man eine Leserschaft und Follower erst aufbauen muss, andererseits gehört Planung und (so dumm es klingen mag) Durchführung dazu. Das kriege ich auch noch hin.

Bis zum 28.05.20, also morgen, gibt es übrigens noch 50% Rabatt aufs E-Book, beispielsweise bei Amazon oder Thalia.

Genug gelabert. Hoch die Tassen! Jetzt wird gefeiert!

PS: Gestern ist noch eine weitere Rezension aufgetaucht und zwar auf dem Reisswolfblog.

Winsor McCay: Dreams of a Rarebit Fiend

Über die Zeichentrickfilmreihe Dreams of a Rarebit Fiend von Winsor McCay aus dem Jahr 1921.

Anfang des 20. Jahrhunderts startete eine neue Kunstrichtung, die sich aus zwei bestehenden Kunstformen zusammensetzte: Aus Comics/Karikaturen und Film entstand der Zeichentrickfilm. Winsor McCay war nicht der erste, der Zeichentrickfilme entwickelte, aber einer der ersten und vielleicht der Interessanteste. Um eine Reihe von Kurzfilmen aus dem Jahr 1921, die unter dem Namen Dreams of a Rarebit Fiend bekannt sind, soll es heute gehen. Alle Filme kann man sich kostenlos auf Youtube ansehen.

Zunächst ein paar Worte zum Namen. In Deutschland trugen die Filme den Titel Die sonderbaren Träume des Feinschmeckers, der immer nur Käsetoast aß, aber wörtlich müsste man sie als Träume eines Käsebrot-Süchtigen (oder Träume eines Käsebrot-Teufels, was vermutlich weniger korrekt ist, aber trotzdem gut klingt) übersetzen.

Der Einstieg zu jedem Film ist eine Person, die sich, nachdem sie ein großes Käsebrot – es handelt sich wohl eher um so etwas wie ein überbackenes Sandwich – gegessen hat, schlafen legt. Was im Film passiert, ist dann der Traum. Diese Träume sind recht abgedreht, weil das fettige Essen dem Träumer schwer im Magen liegt. Das ist jedenfalls die Idee dabei.

Die Episode The Pet handelt von einem Wesen, von dem nicht klar ist, was es sein soll – es miaut zu Beginn, aber ist keine Katze –, das von der Gattin des Träumers ins Haus aufgenommen wird. Mit jeder Fütterung wächst es. Anfangs ist es niedlich, doch spätestens zu dem Zeitpunkt, als es sich wie ein Ehrengast an den Kopf des gedeckten Tisches setzt, bereits fast so groß wie das Ehepaar, und alles auf dem Tisch (inklusive Tellern und Töpfen) auffrisst, kippt die Stimmung. Der Träumer geht in die Apotheke und fragt nach Mitteln, um das Haustier umzubringen. Er verfüttert ein Fass Rattengift an das Wesen, aber es überlebt und wächst weiter. Inzwischen frisst es Bäume und Autos, kurz darauf ganze Gebäude. Als schließlich die Armee eine riesige Bombe darauf abwirft, die nebenbei eine komplette Großstadt ausradiert, wacht der Träumer auf.

An dieser Geschichte mag ich besonders den Moment, wenn die Stimmung kippt und die Geschichte nicht mehr süß ist, sondern bedrohlich wird.

The Flying House ist etwas witziger. Wieder geht das Ehepaar nach schwerem Essen schlafen. Im Traum wacht die Frau auf und findet das Bett neben sich leer. Sie hört etwas vom Dachboden und steigt hinauf. Dort findet sie ihren Gatten, der eine riesige Maschine zusammenschraubt. Er montiert einen Propeller vor das zentrale Fenster und bastelt so ein Flugzeug aus dem Haus. Beide fliegen los auf der Suche nach einem neuen Wohnort, wo die Leute, von denen er Geld geliehen hat, sie nicht finden können. Schließlich fliegen sie zum Mond, wo allerdings der Mann im Mond versucht, das ganze Haus mit einer riesigen Fliegenklatsche zu erschlagen. Sie müssen umkehren – die Frau wollte ohnehin nicht auf dem Mond wohnen –, stellen allerdings fest, dass ihnen das Benzin ausgegangen ist. Im gleichen Moment schießt ein Wissenschaftler eine neue Rakete Richtung Mond, um ihre Sprengkraft und Geschwindigkeit zu beweisen. Aus Versehen trifft sie das Haus und zerstört es. Das Ehepaar stürzt rotierend zur Erde, landet im Bett und wacht auf.

Dieser Film ist die früheste Version eines Hauses, das zu einem Gefährt umgebaut wird, die ich kenne. In The Meaning of Life (1983) machten Monty Pythons ein Bürogebäude zum Piratenschiff und ein fliegendes Haus kennen wir auch aus Up (2009) – fliegend und animiert.

Und zu guter Letzt Bug Vaudeville. Zunächst würde man meinen, dass der Titel auch der Name des Landstreichers ist, der diesmal den Träumer spielt. Zu Beginn freut er sich zwar über die Essensgabe einer Frau, aber bemerkt auch, dass Cheese Cake ihm seltsame Träume beschere. Bug bedeutet „Käfer“ und Vaudeville ist eine „szenische Darbietung kabarettistischen Charakters mit Chansons, Tanz, Akrobatik u. Ä.“. Genau das bekommt der Träumer serviert. Verschiedene Insekten treten auf, tanzen, turnen und boxen zu seiner Unterhaltung. Besonders schön finde ich hier, dass man durchgängig den Hinterkopf des Träumers unten im Bild sieht, ganz so als säße er im Theater vor dem Zuschauer. Anfangs dachte ich, es wäre bloß ein schönes Detail, aber dann tritt die Spinne auf, schwingt vor und zurück und springt dann auf den Träumer, woraufhin er aufwacht. Der unerwartete Schreck am Ende eines ansonsten angenehmen Traums. So etwas kenne ich sehr gut.

Selbstredend sind all diese Filme sowohl ohne Ton als auch in schwarz-weiß produziert worden. Daher bestehen alle Figuren lediglich aus schwarzen und weißen Flächen vor einem meist statischen Hintergrund – mit Ausnahme einer fantastischen Einstellung in The Flying House, wo die Reise durch den Weltraum mit Erde, Mond und Sternen in Bewegung dargestellt wird. Angesichts dieser beschränkten Mittel und der Neuartigkeit der Technik für damalige Verhältnisse ist es faszinierend, wie viel Leben McCay herauszuholen imstande war. Hier fällt mir besonders die vor- und zurückschwingende Spinne ein. Ich jedenfalls fühle mich von der Mischung wackliger schwarz-weißer Bilder, den eingeblendeten Schrifttafeln und der Darstellung von Träumen inspiriert und habe bereits angefangen, einige Ideen, die von McCay inspiriert sind, in Geschichten einzubauen.

Simple Komplexität

Über den Begriff der Komplexität.

In einer Diskussion argumentierte mein Gegenüber, dass die Spezialisierung der Wissenschaften unnötig und sogar schädlich sei, weil sie uns die Illusion von einer komplexen Welt aufzwänge, obwohl die Regeln der Natur – das Recht des Stärkeren, fressen oder gefressen werden etc. – sehr simpel wären. Das durchscheinende rechte Gedankengut ignorierte ich für einen Moment und brachte folgendes Gegenargument ins Spiel: Stößt man mit einem Queue eine Billardkugel an, kann man mit großer Wahrscheinlichkeit vorhersagen, wohin die Kugel rollen wird. Ursache und Wirkung. Eine simple Regel. Stößt die angestoßene Kugel auf eine Gruppe weiterer Kugeln, wird es bereits erheblich schwieriger, die Rollrichtung aller Kugeln vorherzusagen. Ursache (Stoß) und Wirkung (Weiterrollen) sind unverändert. Die Komplexität des Vorgangs entsteht durch die Addition vieler simpler Regeln.

Eine Sprache ist ein beherrschbares System. Man kann die mehr oder weniger einfachen Regeln einer Sprache erlernen und sie dann sowohl anwenden als auch verstehen. Das oben genannte Argument einer Summierung der Einzelvorgänge erklärt jedoch nicht allein die mögliche Komplexität eines längeren Textes (wie beispielsweise eines Romans). Eine Sprache ist ein Verschlüsselungssystem, das sowohl auf der Beherrschung der Entschlüssungstechniken (der Regeln der Sprache) basiert als auch auf dem Wissen, was hinter den Wörtern steckt – man sollte einen Baum kennen, um das Wort „Baum“ entschlüsseln zu können – und worauf sich mehrfach codierte Begriffe beziehen. Mit mehrfach codierten Begriffen meine ich Ausdrücke wie „das Buch der Bücher“ für die Bibel, die nicht allein durch das Verständnis der Sprachregeln und der Wortbedeutungen verstanden werden können. Diese Mehrfachverschlüsselungen erschweren übrigens eine Sprache nicht wirklich, sondern vereinfachen sie. Die Menge an Buchstaben und Wörtern, die durch eine solche Codierung gespart werden kann, ist enorm. Denkt man beispielsweise an das Lied Happy Birthday, fällt auf, dass man weder den gesamten Text noch die Melodie wiedergeben muss, sondern das gesamte Lied aufgrund der vorausgesetzten Kenntnis aller Parteien mit nur zwei Wörtern kommunizieren kann.

Jede Verschlüsselung dieser Art ist eine Verkürzung des Textes und eine Verdichtung der enthaltenen Informationen, also einer Zunahme der Komplexität. Erlernbare Regeln der Sprache + (vorausgesetztes, erlerntes) Wissen. Deshalb ist ein Kinderbuch weniger komplex als ein Erwachsenenroman: Das Wissensniveau, von dem wir auf der Empfängerseite ausgehen können, ist nicht hoch genug für zu komplexe Operationen. Die Regeln sind einfach, aber ihre Anwendung ist es nicht.

Es gibt die Theorie, dass die Welt aufgebaut ist aus zellulären Automaten. Ein zellulärer Automat ist eine Anwendung mit sehr einfachen Regeln. Man kann zellulären Automaten jedweder Dimension erdenken. Stellt man sich eine Fläche voller Quadrate vor, von denen manche schwarz sind und manche weiß, so kann man einige Anweisungen formulieren, um den (zweidimensionalen) zellulären Automaten in Gang zu bringen. Beispiel: Jede weiße Zelle mit schwarzen Zellen an mindestens zwei Seiten wird ebenfalls schwarz, aber jede schwarze Zelle, die von mehr als drei anderen schwarzen Zellen berührt wird, färbt sich weiß. Stellt man sich das Abspulen der Regeln schrittweise vor, so wird je nach Ursprungszustand entweder gar nichts passieren (wenn die schwarzen Zellen zu weit auseinander liegen), oder einige weiße Zellen würden schwarz werden und vielleicht einige schwarze weiß. Die Verfärbung mancher Zellen würde die nächsten Schritte auslösen und immer so weiter. Es gibt sehr simple zelluläre Automaten, die im Laufe ihres Abspulens ein Muster entwickeln und dieses automatisch (aufgrund der immer gleichen Regeln) kopieren. Eine Vermehrung von Strukturen findet statt vergleichbar der Teilung einer Zelle, deren DNS ebenfalls als zellulärer Automat aufgefasst werden kann.

Stellt man sich nun vieldimensionale zelluläre Automaten als Frakta vor – ein Fraktum hat in der Mathematik die Eigenschaft, dass es immer komplexer wird, je genauer man es betrachtet –, so könnte man ein theoretisches Grundmodell der Welt haben. Aus einem simplen Ursprung und mit simplen Regeln wurde eine hochkomplexe Welt. Die Regeln sind einfach, aber ihre Anwendung ist es nicht.

Das dicke ABER an dieser Stelle heißt „Gödelscher Unvollständigkeitssatz“, der nämlich besagt, dass, selbst wenn es eine simple Erklärung der Welt gäbe, diese nicht beweisbar wäre.

Was machen wir jetzt damit?

Wir könnten das Fazit ziehen, dass eine Geschichte, sofern Umfang und vorauszusetzendes Wissen mitspielen, keine Obergrenze ihrer Komplexität hat. Aber das ist ein unpraktisches Fazit. Wir könnten uns auch als Teil einer sich im Kleinen und im Großen ins Unendliche ausbreitenden Welt fühlen, was möglicherweise unser Ego für einen Moment entlastet. Oder wir sehen einfach ein, dass wir nicht alles verstehen können (bei genauerer Betrachtung sogar nur einen winzigen Bruchteil von allem). Können wir nicht alles verstehen, so sind wir vom Zwang enthoben, alles verstehen zu müssen, und mit etwas Glück von der ständigen Suche nach Antworten. Wir sollten uns Pausen gönnen. Das Alltägliche steckt voller Unbegreiflichkeiten.

The Tallest Man On Earth

Über die Musik von The Tallest Man On Earth.

Man kennt mich eher als Fan von harter oder trauriger Musik und doch, es gibt auch andere. Ein Künstler, den ich gerne höre, wenn es mir gut geht, wenn ich entspannt bin oder ruhigere Töne brauche, ist The Tallest Man On Earth.

Es gibt ein Gefühl, das ich nur beim Hören dieser Musik habe und das sich aus Nostalgie, Melancholie und Glück zusammensetzt. Diese wunderbare Laune, in der man singt und summt, sich leicht bewegt und in Erinnerungen von kurzen Verliebtheiten schwelgt.

Es muss fast über 10 Jahre her sein, als ich jemanden kennenlernte, mit dem ich heute keinen Kontakt mehr habe, denn diese Person gehörte eben in die Zeit damals und nicht ins Heute. Sie zeigte mir ein paar Songs von The Tallest Man On Earth: King of Spain und Where Do My Bluebird Fly. Es waren Live-Aufnahmen. Mich erinnerten sie (vielleicht wegen der etwas näselnden Stimme?) an Bob Dylan, aber frischer, aktiver, wacher. Seitdem höre ich diese Musik.

Seit etwa zwei Wochen höre ich das Album I Love You. It’s A Fever Dream. von 2019 regelmäßig durch, manchmal drei- oder viermal am Tag. Es klingt anders als die ersten Alben, erwachsener, ein wenig trauriger, aber wirklich schön. Wieder kommt der Vergleich mit Dylan, denn auch dieser hatte damals den Sprung von Musik, die nur auf Stimme und Gitarre basierte, zu elektrisch oder sogar orchestral unterstützter Musik. Das erste Album dieser Art, Dark Bird Is Home, gefällt mir als einziges Album weniger gut. Aber so etwas passiert. Vier Alben ohne schwache Songs und dazu mehrere Singles und EPs stellt für mich eine große Leistung dar.

Zu meinem großen Glück habe ich The Tallest Man On Earth mehrmals live sehen können. Nur einmal stand er mit Band auf der Bühne, ansonsten immer allein. Das letzte Konzert in Konzerthaus Dortmund: Eine Bühne, auf der ich einmal ein doppeltes Orchester mit fast 80 Leuten habe spielen sehen, für ihn allein, für seine Gitarren und einen Flügel. Seine Präsenz reicht aus. Er gehört zu den Menschen, die mich bewegen, wenn sie nur sind, wie sie sind. Etwas verrückt, immer etwas melancholisch – mit Tränen in den Augen und der Stimme, als er wegen des Todes von Aretha Franklin kurz vorher einen Song von ihr sang – und niemals auch nur für einen Moment langweilig oder nicht voll präsent.

Während ich diesen Text verfasse, höre ich (eigentlich viel zu laut) die passende Musik und unterbreche ständig, um zu singen. Gerade läuft The Gardener, eines meiner Lieblingslieder von ihm. Was sollte noch in einen solchen Text? Bringen euch meine Schwärmereien etwas? Statt Unfug oder weitere Begeisterung zu verbreiten, gebe ich euch lieber eine kurze Liste von Songs, die ich (neben fast allen anderen) empfehlen würde, um mal reinzuhören:

The Gardener
King of Spain
Little Brother
All I Can Keep Is Now
Alle anderen.

Kanntet ihr The Tallest Man On Earth bereits? Wenn ihr jetzt erst reinhört: Was meint ihr? Verliebt ihr euch gerade in die Musik?

Joker: What We F*ing Deserve

Besprechung des Films “Joker” und Interpretation einiger Szenen.

Aus zwei Gründen gehe ich selten ins Kino: 1. Kinobesuche sind teuer und 2. viele Kinofilme sind den Ticketpreis nicht wert. Joker habe ich mir jedoch im Kino angesehen und ich habe es nie bereut. Beim zweiten Sehen habe ich mir Notizen gemacht, um euch diesen Blogeintrag präsentieren zu können. Es wird einige dicke Spoiler geben. Fazit vorweg: Guckt euch den Film unbedingt an!

Während Marvel-Filme eine gewisse Konsistenz aufweisen, indem sie fast alle mittelmäßig (und unterhaltsam) sind, gibt es bei DC-Verfilmungen eine Bandbreite von schlechten und vorhersehbaren Filmen bis zu brillanten Kunstwerken. Wer ist daran Schuld? Ist mir egal. Ich ertrage 5 Green Lanterns für einen Dark Knight oder Joker. Also sprechen wir über das neueste Kunstwerk aus den Comic-Tiefen von DC.

Der Film beginnt und wir sehen Arthur, der später zum Joker werden wird, vor dem Spiegel sitzen. Gebrochen, traurig, bereits zu Beginn des Films am Ende seiner Kräfte. Er trägt die weiße Grundierung seines Clown-Make-Ups auf, hakt die Finger in die Mundwinkel und zieht sein Gesicht in Falten, kreiert ein grauenhaftes Lächeln unter schmerzerfüllten, halbtoten Augen. Ich liebe dieses Bild. Was Joaquin Phoenix für diese Figur leistet, seine Mimik, seine Gestik, sein Körper und seine Körperhaltung erinnern mich an die Leistungen von Christian Bale in The Machinist, für den er sich auf unglaubliche Maße heruntergehungert hatte. Leiden für die Kunst ist bekanntlich etwas, womit man mich beeindrucken kann. Das tote Lächeln vorm Spiegel ist eines der Bilder, die hängen bleiben.

Die Treppe ist ein anderes dieser Bilder. Wer den Film gesehen hat, weiß sofort, von welcher Treppe ich spreche. Es gibt eine lange Treppe, die Arthur auf dem Heimweg mühsam hinaufsteigen muss. Die gleichen Stufen tanzt er später, nach seiner Transformation zum Joker, hinab. Mehrmals kehrt der Film an diesen Ort zurück, doch niemals geht Arthur hinab, immer nur hinauf. Der Joker steigt hinab. Es scheint so schwierig für Leute wie Arthur aufzusteigen, während es so furchtbar einfach ist, nach unten zu gelangen. Arthur müht sich ab, aber der Joker tanzt – und zwar nicht verkrochen in der Wohnung, wie Arthur es gelegentlich tut.

Der mühsame Aufstieg passt zu Arthurs jahrelangen Versuchen, es hinzukriegen und positiv zu bleiben. Denn Arthur ist im Grunde zutiefst positiv und optimistisch: Er arbeitet, er glaubt, dass die Welt mehr Lachen braucht, er träumt von Bedeutsamkeit und Zustimmung, er nimmt seine Medikamente und geht zur einzigen Form von Therapie, die er sich leisten kann, bei den Social Services. Die Welt lässt ihm seinen hartnäckigen Optimismus nicht. In seiner letzten Therapiesitzung wirft er der Therapeutin vor, „you don’t listen, do you?“ und das sagt er tragischerweise zur einzigen Person, die wenigstens aus Professionalität halbwegs zuhört. Er gesteht ihr: „All I have are negative thoughts.“ Dann wird ihm mitgeteilt, dass fortan Therapie und Medikamente wegfallen werden. Der Absturz ist vorgezeichnet.

Doch gehen wir ins Eingemachte. Mehrmals sagten Batman oder Psychiater in den Comics über den Joker, dass er selbst kaum unterscheiden könne zwischen Realität und Einbildung, und besonders, dass er immer wieder neue Vergangenheiten zusammenspinnt. Dadurch wird jede Origin-Story potenziell zum Kopfkino des Jokers. Das gilt auch für diesen Film. Am Ende sieht man Arthur, den Joker, vor einer Psychiaterin sitzen – gleiches Gesicht wie die Therapeutin der Social Services, andere Frisur, anderes Auftreten – und sie fragt, worüber er lache. Es wird angedeutet, dass er sie umbringt und ausbricht. Damit ist eine naheliegende Interpretation, dass alle Geschehnisse des Films im Kopf des Jokers passiert sind. Das wiederum hieße, dass diese Origin-Story nicht stimme, dass nicht die Gesellschaft ihn über die Klippe zum totalen Wahnsinn, manifestiert im Joker, getrieben hat, sondern im Grunde er selbst – natürlich beeinflusst von Arthurs tatsächlicher Vorgeschichte. Der Name Arthur taucht allerdings in der einzigen mir bekannten Origin-Story in den Comics auf: in The Killing Joke (einem absoluten Must-Read für alle Joker- und Batman-Fans).

Im Film geht Arthur zum Anwesen der Waynes, weil er von seiner ebenfalls geisteskranken Mutter überzeugt worden ist, dass Bruce Wayne sein Halbbruder sei, Thomas Wayne also sein Vater. Hier musste ich im Kino stutzen. Bruce ist ein kleiner Junge, Thomas und Martha leben noch, wir befinden uns pre-Batman-Origin. Der Altersunterschied zwischen Bruce, Batman, und Arthur, Joker, ist im Film enorm, während beide in den Comics ungefähr das gleiche Alter haben müssten, weil Batman sonst einen Joker nahe der 60 bekämpfen würde, was nie so zu sein scheint. Allerdings glaubte der Joker in allen Comics an eine tiefe Verbindung zwischen ihm und Batman. Er wusste in vielen Geschichten sogar, dass Bruce Wayne Batman ist. Die scheinbare Verbindung der beiden wäre durch die Illusion einer Verwandtschaft betont. Eine weiterer Verknüpfungspunkt wird gegeben, wenn sich Joe Chill, der Mörder von Thomas und Martha, am Ende des Films in einer Joker-Maske und am Rande der vom Joker inspirierten Straßenschlachten an sein Werk begibt. Damit wäre in Jokers Fantasie, sofern der Film eine Einbildung des Jokers darstellt, er selbst sowohl mit Batman verwandt als auch mitverantwortlich für dessen Entstehung.

Die Kopfkino-Theorie wird außerdem unterstützt durch die Darstellung von Alfred, dem Butler der Waynes, und von Thomas Wayne. In den Comics werden beide meist extrem positiv gezeichnet: Alfred ist überaus höflich, immer eloquent, aber keineswegs schwach. Thomas ist meist ein Quasi-Heiliger, der zwar zu den Superreichen zählt, aber gleichzeitig als Arzt in den übelsten Vierteln arbeitet und/oder Bahnstrecken errichtet, um das Leben in der Stadt zu verbessern. Im Film sind beide unsympathisch und elitär. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass die Comics die Perspektive von Batman/Bruce, die Sicht des Waisen auf seinen echten Vater und seinen Ziehvater, zeigt, während der Film die Perspektive des Jokers einnimmt.

Ich merke gerade, dass ich noch seitenweise weiterschreiben könnte: über eine Hommage an Dark Knight, über manche Zitate, über die Subjektivität von Humor (einem extrem wichtigen Thema des Films), über die Wahl der Musik, das Oldschool-Flair des Films oder über die Diskussion „gebrochene Lanze für alle mit psychischen Erkrankungen versus die angebliche Verherrlichung von Gewalt und Rache“. Eine meiner Notizen sagt: „Joker ist der Taxi Driver unserer Generation, aber mit passenderem Ende“, was heißen soll, dass die Stile durchaus ähnlich sind und es inhaltliche Parallelen gibt, aber Taxi Driver es sich damals nicht traute, realistisch, ehrlich, brutal, verstörend zu enden (obwohl man auch hier interpretieren könnte, dass das Ende des Films ebenfalls nur im Kopf des Protagonisten stattgefunden hätte und er tatsächlich im Bordell verblutet ist oder möglicherweise in einer Psychiatrie dahinsiecht). Allein über die Szene, in der Arthur in den Kühlschrank steigt, könnte ich einen kompletten Blogeintrag schreiben … Vielleicht werde ich das auch.

Was bleibt noch zu sagen? Send in the clowns … there should be clowns …

Horror Vacui?

Leere oder Fülle? Kurze Formulierungen oder üppige Beschreibungen?

Vergleicht man klassische westliche Kunst mit klassischer Kunst – klassische Kunst benutze ich hier im Sinne einer Kunst nach lange bestehenden und ungefähr gleich bleibenden ästhetischen Grundsätzen – aus China und Japan, stellt man schnell mehrere grundlegende Unterschiede fest. Einer dieser Unterschiede liegt in der Nutzung der Fläche, die in der westlichen Kunst vollständig gefüllt zu sein hat, während in Asien oft die Leere dominiert. Da ich ein absoluter Laie bin, gehe ich nicht auf Details ein und auch nicht auf die Verbindungen zwischen Kunstverständnis und Religion/Philosophie in den verschiedenen Erdteilen, sondern möchte den angesprochenen Gegensatz als Denkanstoß verwenden, um über literarischen Stil nachzudenken.

Man sollte meinen, dass jemand, der einen Text derartig einleitet, unbedingt eine Lanze brechen wollte für die Sparsamkeit und den Mut zur poetischen Knappheit, doch wäre das in meinem Fall paradox. Sorck ist trotz der vergleichsweise geringen Seitenzahl reichlich gefüllt, sowohl sprachlich ausladend in mancher Hinsicht als auch inhaltlich nicht eben knapp. Aber das ist bloß die eine Hälfte der Wahrheit, denn gleichzeitig habe ich den Leser*innen viel Raum für eigene Vorstellungen und Interpretationen gelassen, und damit eine Überfülle an (für mich persönlich) redundant wirkenden Informationen weggelassen. Ein Beispiel wäre die kaum vorhandene äußerliche Beschreibung des Protagonisten, und auch das Aussehen der Nebenfiguren wird meist nur umrissen. Meine Idee ist grundsätzlich, dass es mir als Leser nicht hilft, wenn eine Figur detailliert beschrieben wird, da ich mir ohnehin eine eigene Vorstellung von ihr mache, die von der des Autoren/der Autorin abweicht. Einen Fürsten stelle ich mir in entsprechender Kleidung vor, auch ohne dass diese beschrieben wird. Solange das Äußere nicht der Charakterisierung der Figur oder dem Inhalt der Geschichte dient, ist es überflüssig und sollte nicht lang und breit beschrieben werden. Andere Ansichten sind selbstverständlich zulässig.

Sinn der oben angesprochenen Leere in japanischer und chinesischer Malerei ist unter anderem die Betonung der wenigen dargestellten Elemente. Alle nicht essentiellen Parts lenken nur vom Wesentlichen ab. Ist das Wesentliche eines Bildes ein Berg, brauche ich keine Wolkenlandschaft, es sei denn, die Wolken sollen die Höhe des Berges betonen. Aus meiner Sicht wären überbordende Beschreibungen wie die Wolkenlandschaft – möglicherweise hübsch, aber überflüssig und vielleicht sogar störend.

Wie man in bisherigen Artikeln feststellen konnte, verstecke ich gern Spielereien in meinen Texten (und in meinen gemalten Bildern, die nur selten noch einen weißen Fleck aufweisen, übrigens auch), Hinweise und Anspielungen. Das alles erfüllt einen Zweck, wäre aber bei strenger Befolgung einer Poetik der Knappheit wegzustreichen. Doch wo käme man hin, verfolgte man so eine Poetik? Vermutlich zurück zur Neuen Sachlichkeit, und da wollen wir nicht wieder hin, oder? Entsprechend müsste man an anderer Stelle eine Trennlinie ziehen. Meine Geschichten finden im Kopf statt. In den Köpfen der Figuren und in den Köpfen der Leser*innen. Action kommt vor – in Sorck sogar nicht wenig – und dient doch bloß der Untermalung des tieferen Sinns, dient Interpretationen und Lesarten. Im Roman bleibt absichtlich unklar, ob die Handlung tatsächlich passiert, ob sie allegorisch zu verstehen ist, ob sie vom Protagonisten geträumt oder fantasiert wird. Darüber soll man nachdenken, denn möglicherweise ändert die Lesart auch das Verständnis des Werkes.

Generell ließe sich streiten, was knapp, was leer, was genug, was zu viel oder zu wenig bedeuten soll, wenn es um Literatur geht. Am Ende ist es eine Frage des Stils auf Seiten der/des Schreibenden und eine Frage des Geschmacks auf Seiten der Lesenden. Als Leser genieße ich ausgelassene, poetische Sprache genau so sehr wie präzise, auf den Punkt formulierte Sätze. Sprachlich bin ich da offen, solange die Qualität stimmt. Inhaltlich jedoch bin ich wählerischer, verdrehe bei blumigen, unnötigen Um- und Beschreibungen die Augen und lege im schlimmsten Fall das Buch weg.

Wie seht ihr das?