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Das Maurerdekolleté des Lebens: Cover-Safari

Über die Suche nach dem passendem Cover für “Das Maurerdekolleté des Lebens”.

Es soll heute um das Cover von Das Maurerdekolleté des Lebens gehen. Wie immer war es nicht ganz einfach, das Motiv zu entdecken.

Als die Frage nach dem Cover-Motiv anstand, fielen mir mehrere Möglichkeiten ein, die sich bei genauerer Betrachtung als nicht leicht umsetzbar oder als unpassend herausstellen sollten. Offensichtlich hätte man ein echtes Maurerdekolleté aufs Cover packen können. Aber wer würde das kaufen wollen? Es hätte außerdem den Eindruck erweckt, dass es sich um eine komische (und vermutlich platte) Geschichte handelte. Diese Option fiel also sofort wieder weg. Als passender empfand ich die Abbildung eines Labyrinths. Gezeichnete oder stilisierte Labyrinthe auf Buch-Covern kenne ich nur von Thrillern und aus ähnlichen Genres. Es wirkt außerdem schnell billig, wie ich finde. Ein Foto, eine Luftaufnahme, eines Labyrinths aus Baustellenteilen hätte mir gefallen. Doch fehlten mir dazu ein großer Platz, die Baustellenausrüstung, Mitarbeiter und eine Kamera-Drohne. Es sollte etwas Baustellenartiges sein. So viel stand irgendwann fest. Wir, mein guter und vielfältiger kreativer Freund Toby, der meine Cover erstellt, und ich, gingen auf eine erste Foto-Safari, machten Bilder, sammelten Ideen und unterhielten uns wie immer großartig. Danach folgten einige Tage mit Überlegungen.

Das ungefähre Motiv, nach dem wir schließlich auf der Suche waren, war ein langer Fußgängerweg aus Absperrungen (beispielsweise um eine auf dem Bürgersteig befindliche Baustelle herum), um den Beginn des Baustellenlabyrinths, in das der Protagonist Theo gerät, anzudeuten. Zu unserem Glück wuchsen in der Gegend rechtzeitig mehrere teils große Baustellen aus dem Boden. Wenn der Frühling kommt, blühen die ersten Blümchen und die Bagger befruchten den Boden mit neuen Internetkabeln oder so. Einige Tage vor der Realisierung, dass Corona in Deutschland angekommen war und man soziale Kontakte meiden sollte, gingen wir auf eine zweite Foto-Tour. Es entstanden einige sehr schöne Bilder (auch unabhängig vom Cover) an zwei verschiedenen Baustellen.

Ab diesem Zeitpunkt erreichten wir das nächste Level der Arbeit. Das beste und passendste Foto musste gefunden und bearbeitet werden. Ein Gehweg im Abenddunkel, begrenzt von Absperrungen, mit einem schönen Tunneleffekt. Das Bild zog den Blick bereits ohne Bearbeitung in sich hinein. So etwas hatte ich gesucht. Kurzfassung: Toby spielte mit dem Bild herum, bis das jetzige Cover nach etlichen Vorversionen fertig war. Bei diesem Herumspielen handelte es sich natürlich um viel Arbeit, die Zeit und vermutlich einige Nerven gekostet hat. Dafür bin ich sehr dankbar. Leider konnten wir aufgrund der Viruskrise die Feinarbeiten nicht gemeinsam erledigen, sondern waren gezwungen, auf Entfernung kommunizieren. Direkte, gemeinsame kreative Arbeit hat etwas Erfüllendes, finde ich.

Was mag ich besonders an diesem Cover? Auf mich wirkt das Cover ein wenig bedrohlich, was einerseits an der dunklen Färbung liegt und andererseits an den gedoppelten Lichtern oben und mittig, die mich an Augenpaare erinnern. Der Weg im Zentrum des Bildes lässt keine Abweichungen zu, öffnet sich jedoch am Ende. Es scheint, man könne nach links oder rechts abbiegen. Da das Bild jedoch gespiegelt ist, heben sich beide Optionen auf. Sie sind bloß Spiegelversionen voneinander. Das Ergebnis ist eine Entscheidungsillusion. Beide Wege sind der gleiche Weg in Variation. Ein letzter Punkt, der mir gefällt, ist, dass das Bild auf den ersten Blick nicht stark bearbeitet wirkt, sondern halbwegs normal. Gleichzeitig hat man das Gefühl, etwas stimme nicht damit. Es gibt einen Knick in der Realität, etwas anderes spielt mit hinein. Diese subtile Wirkung passt meiner Meinung nach gut zu den Geschichten und zum surrealistischen Genre. Etwas stimmt nicht mit der Welt, aber was nicht stimmt, fällt erst auf, wenn man bereits hineingeraten ist.

Die enge Zusammenarbeit, die mit Freunden möglich ist, führt manchmal zu den interessantesten Entwicklungen. Ich habe am Anfang der Cover-Gestaltung meist keine konkrete Vorstellung vom Ergebnis. Ideen und Entwürfe werden zwischen Toby und mir hin und her geschickt, diskutiert und weiterentwickelt, bis der Prozess ein Ergebnis ausspuckt, mit dem wir beide zufrieden sind. Der Prozess an sich macht die Arbeit bereits bezahlt, denn es ist ungemein interessant, wie aus einer Aufgabe mit vager Vorgabe ein gemeinsames Werk entsteht. Um meine Rolle in der Entstehung nicht hochzuspielen, stelle ich hier nochmal fest, dass die gesamte Bildbearbeitung (von etwas Herumgespiele meinerseits), das Schießen der Fotos, die Feinarbeiten (Schriftarten, Schriftgröße etc.) und viele Ideen nicht von mir erledigt werden. Meine Talente liegen woanders, rede ich mir ein.

Was haltet ihr vom Cover? Wenn ihr die Geschichten bereits gelesen habt: Findet ihr das Cover passend?

Tage werden eins (Quarantäne): Ein Blogeintrag in 2 Etappen

Ein Gedicht über den Verfall und was dahinter steckt.

Tag 1:
aufstehen warten essen
hinsetzen warten essen
hinlegen
schlechte träume

Tg 3:
aufstehen warten essn
hinsetzn wart esn
hnleenschräum

…:
awehwehstrme

Paul Celan, mit dem ich mich nicht vergleichen möchte, hat einmal ein Gedicht geschrieben, das ich vergessen habe, nachdem es in der Uni behandelt worden war. Im Laufe des Textes brach das Satzgefüge weg, die Wörter lösten sich auf, alles verhallte in traurigem Kauderwelsch, das in einen Abgrund zu fallen schien. Ich fühlte mich an weit ältere Gedichte erinnert, deren äußere Form beispielsweise die eines Kreuzes war und deren Inhalt passend dazu christlich.

Zurzeit sitze ich wie viele andere allein in meiner Wohnung und sollte es doch eigentlich gewohnt sein, sitze ich doch häufig hier allein. Die Zeiten sind jedoch andere. Genau darum geht es: Zeit. Wir gliedern unsere Lebenszeit in Jahre, Monate, Wochen, Tage, Stunden und werden immer kleiner dabei. Diese Gliederung ist künstlich und doch nicht ganz. Es gibt Helligkeit und es gibt Dunkelheit, also gibt es Tage. Es gibt Sommer und es gibt Winter, also gibt es Jahre. Aber wenn ich nicht am Donnerstag zum Laden für lokale Lebensmittel gehe, weil dann die neuen Milchprodukte geliefert werden, weiß ich nicht, dass es Donnerstag ist. Wenn niemand weiß, dass Donnerstag ist, gibt es keinen Donnerstag. Ich bin für ca. 2 Wochen versorgt, also gehe ich nicht raus.

Von anderen habe ich gehört, was mir auch passiert: Wir verlieren die Zeit, wissen nicht mehr, welchen Wochentag wir haben. Wir wissen, wann wir Hunger haben und wann wir schlafen sollten, aber die Bezeichnung von Tagen ist eine soziale Sache. Wir bezeichnen bestimmte Tage mit bestimmten Namen, um mit anderen besser kommunizieren zu können. Kommunizieren wir nicht mit anderen, bezeichnen wir keine Tage mit bestimmten Namen. Wir vergessen.

Das, was sonst Freiheit oder Ruhe sein könnte, fühlt sich an wie Gefangenschaft, wie ein Zeitbrei. Wir stehen auf, beschäftigen uns, essen, legen uns schlafen und beginnen von vorn. Alles wird eins, und über allem droht Ungewissheit, Sorge und Angst. Wir lenken uns ab und verschieben die Furcht in unsere Träume. Dort lenken wir uns nicht mehr ab, sondern sind ganz da für sie.

Ich glaube, dass es zurzeit mehr Albträume auf der Welt gibt als sonst. Das scheint mir nur natürlich in einer solchen Zeit. Unsicherheit, Sorge, Angst, auch vor der Auflösung (des Staates oder der eigenen Person, wenn die Regale leer bleiben sollten), dominieren die Tage. Darum geht es in meinem Gedicht. Das monotone Warten auf bessere Zeiten wird zu einem kindlichen Gebrabbel, das sich über Schmerz oder dunkle Träume zu beschweren scheint, zusammengesetzt aus den Anfangsbuchstaben der ersten drei Zeilen und den zusammenschrumpfenden, stumm werdenden Träume(n).

16 Tage später:

Den Blogeintrag, wie er oben steht, habe ich so am 21.03.2020 verfasst und dann für eine mögliche Überarbeitung zur Seite gelegt. Jetzt habe ich ihn wiederentdeckt. Inzwischen haben sich viele an die neue Situation gewöhnt, glaube ich. Auch meine Ängste wurden weniger, auch wenn sie nicht verschwunden sind, und meine Sicht auf mein Gedicht ist eine andere. Was mich stört, ist die Geschwindigkeit. Ein fast vollständiger Verfall in drei kurzen Strophen wirkt wie ein Absturz und nicht wie ein Hineingleiten in die Auflösung unserer gewohnten Strukturen. Doch war es nicht genau das, was passiert war? Dass beides zugleich oder wenigstens in kurzer Folge passierte? Erst glaubten die wenigsten, dass es überhaupt eine Krise gäbe. Man machte sich lustig über Hamsterkäufe oder ärgerte sich ein wenig. Dann kam es zu mehr Käufen dieser Art, Szenen tauchten auf, in denen Leute sich um Toilettenpapier stritten, und dann kamen die Tipps, Einschränkungen und schließlich hier und da sogar Ausgangssperren. Das ging sehr schnell. Die gewohnten und unverwüstlich scheinenden (weil so gut wie nie hinterfragten) Strukturen wurden verwischt, nicht weggewischt oder zerstört, aber doch dünner. Mein Gedicht widersetzt sich meinem Gefühl für Timing, aber es scheint in die den Moment zu passen, in dem es entstanden ist.

Wir dürfen aber nicht vergessen, dass ein Gedicht ein sprachliches Konstrukt ist. Die demonstrierte Auflösung ist ein geplanter und sauber exekutierter Akt, kein tatsächlicher Verfall. Auch das passt zu unserer Situation. Trotz des Anscheins von Zusammenbruch hier und dort und einem Gefühl von Orientierungsverlust gibt es weiterhin funktionierende Regeln und klare Strukturen. Menschen halten einander aufrecht und damit die wichtigsten und grundsätzlichen Strukturen der Gesellschaft: Die zwischenmenschlichen Verbindungen.

Heute finde ich mein Gedicht nicht mehr besonders schön oder gelungen, aber ich halte es für aussagekräftig im Bezug auf meine Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt und damit für die Situation anderer zu diesem Zeitpunkt. Denn so gerne ich anders bin als andere, ist es doch ein Fakt, dass meine Gefühle nicht einzigartig sind. Was ich fühle, fühlen auch andere. Das ist nicht nur der Grund, warum Kunst funktioniert, sondern auch ein Grund dafür, dass wir in Krisenzeiten zusammenrücken und nicht auseinanderfallen.

Berit Glanz: Pixeltänzer

Rezension des Romans “Pixeltänzer” von Autorin Berit Glanz.

[…] etwas zu suchen, auch wenn man nie eine Antwort erhalten wird, sagt mehr aus über die eigene Hoffnung als über den Sinn und Zweck der Suche.

Auf der Buchmesse in Frankfurt 2019 besuchte ich mit zwei befreundeten Autoren die Lesung von Berit Glanz, in der sie ihren Roman Pixeltänzer vorstellte. Ich wurde neugierig, wünschte mir das Buch zu Weihnachten und habe es Anfang Februar 2020 gelesen. Hier meine Eindrücke.

Bereits am Titel erkennt man einen gewissen Hang zu schöner Sprache. Nicht kalt beobachtend, sondern warm betrachtend und poetisch formulierend sollte sie sein. Das war mein erster Eindruck. Wie eine hauchdünne Schicht legt sich diese feine Poesie immer wieder auf den Text, ohne ihn unmodern oder überzogen wirken zu lassen. Beinahe hätte ich mir ein wenig mehr dieser schönen Formulierungen gewünscht, auch und weil sie wenig in die Welt der Start Ups, in der die Haupterzählebene der Geschichte angesiedelt ist, passen.

Die Erzählebenen fielen mir als nächstes auf. Über das Internet kommuniziert die Protagonistin mit einem ihr nur durch ein dreiminütiges Telefonat bekannten Mann, der jedoch nie direkte Antworten gibt, sondern kleine Rätsel oder Geschichten hinterlässt, und manchmal Geschichten in Geschichten. Auf der Hauptebene guckt die Protagonistin in den Quelltext ihrer Website, der verändert wurde von ihrem Gesprächspartner und in den eine Erzählung eingefügt wurde, in der es einen Rückblick gibt – eine Erzählung in einer Erzählung in einem versteckten Text in der Erzählung. Ich liebe diese Spielereien. Im Buch sind derartige Rückblicke und Einschübe nicht kompliziert oder schwer nachzuvollziehen, sondern bilden einen natürlichen Teil der Struktur.

Das dritte große Eindruckspaket stammt aus der Haupterzählebene, die, wie gesagt, in der Start Up-Szene und ihrer Modernität, ihren Ticks und Ritualen spielt. Es werden subtil Themen angeschnitten oder angedeutet, die zum Denken anregen, weil sie inzwischen Teil unseres Lebens sind und leider kaum noch hinterfragt werden, wie beispielsweise die Frage nach der Echtheit oder Überprüfbarkeit von Informationen. Wir haben schnellen Zugriff zu einer unglaublichen Masse an Informationen, aber kaum die Möglichkeit zu prüfen, ob man sich auf sie verlassen kann. Andere Beispiele für Denkanregungen sind hier und da auftretende Gegensatzpaare wie Schnelllebigkeit versus Entschleunigung, die Anonymität des Internets (beziehungsweise unserer heutigen Kommunikation allgemein) und der Sehnsucht nach Nähe, die Auflösung des Besonderen – das Internet zeigt uns, dass wir mit unseren Besonderheiten nicht allein sind, aber dadurch auch, dass wir nichts Besonderes sind. All das ist subtil eingearbeitet und taucht einfach hinter der Erzählung auf, ohne sich vorzudrängen oder besondere Aufmerksamkeit zu fordern. Angebote, die man annehmen kann, wenn man möchte, oder ignorieren, wenn man kein Interesse an der Fragestellung hat, wie so vieles heutzutage: Die Auswahl ist endlos, die Verpflichtung gleich null.

Was mir als Autor gefallen hat, ist der Umgang mit dem Problem moderner Technik. Was ich meine, ist, dass viele altbekannte Erzählstrukturen nicht mehr gut funktionieren, wenn man beispielsweise ein Smartphone einfügt. Flucht, Abgeschiedenheit, Unwissenheit, viele Horrorszenarien können durch einen Anruf, eine Nachricht oder eine Google-Suche aufgelöst werden, weswegen es plötzlich Funklöcher auftauchen, Akkus leer sind, Smartphones vergessen oder geklaut werden. Anstatt diese Probleme zu umgehen, zeigt uns Berit Glanz, wie man diese modernen Techniken in die Geschichte einbauen und sie damit bereichern kann: Kommunikation über Blogs, Quelltext, Links, Apps. So wurde aus einer möglichen Einschränkung eine große Erweiterung der Möglichkeiten.

Passend zu dieser Modernität wurde dafür gesorgt, dass alle Dinge, von denen berichtet wird, alle Google-Suchanfragen, alle Websites zugänglich oder nachvollziehbar sind. Das verankert den Roman in der Realität und die beschriebenen Gegenstände erhalten Nachprüfbarkeit. Während sich die Protagonistin fragt, welche Anteile der ihr erzählten Geschichten wahr sind, fragen sich Leser*innen des Romans dasselbe und können dem nachspüren, wie auch sie es versucht. Eine Schatzsuche auf mehreren Ebenen.

Was jetzt? Braucht jemand eine abschließende Einschätzung? Mir gefiel das Buch aus oben genannten (und weiteren) Gründen, ich habe etwas gelernt und Denkanstöße erhalten. Viel mehr gibt es nicht zu sagen.

Das Maurerdekolleté des Lebens: Drei surreale Geschichten

Über “Das Maurerdekolleté des Lebens”, eine Sammlung von 3 surrealen Geschichten.

Ab sofort ist meine neueste Veröffentlichung, eine Sammlung von drei zusammenhängenden Erzählungen, unter dem Titel Das Maurerdekolleté des Lebens über Amazon (Kindle) und Tolino (ISBN: 9783739490823) zu haben. In diesem Blogeintrag möchte ich ein bisschen über die Grundidee der Geschichten herumspinnen.

Wie soll ich beginnen? Am Anfang stand eine Baustelle … oder: Alles Leben ist eine Baustelle …? Eines Tages kam ich nach Hause und fand die Straße vor meiner Wohnung aufgerissen, links und rechts waren Absperrungen, der Boden klaffte offen, aber ich konnte keine Bauarbeiter entdecken. Es war, als hätte man einen Teil der Welt für Unbefugte wie mich gesperrt und nebenbei ein wenig konstruktive Zerstörung angerichtet, deren Zweck ich nicht kannte, sofern es einen gab. Passiert das im Laufe eines Lebens nicht immer wieder? Irgendwo wird eine Entscheidung getroffen und im eigenen Leben entstehen Beschränkungen. Irgendjemand zerstört etwas (in dir), du weißt nicht warum und ab dem Zeitpunkt musst du um die Zerstörung herumexistieren.

Im Labyrinth einer Existenz, in der man selbst entscheiden darf, wohin man abbiegen möchte, aber nicht, ob man vom ursprünglichen Weg abbiegen, abweichen möchte, verlaufen sich die allermeisten, bis sie nur noch den Umleitungsschildern folgen. Viele vermeintliche Chancen sind bei genauerer Betrachtung die Wahl zwischen vorgefertigten Wegen.

Theo, der Protagonist der drei Geschichten, zieht los, um seinen neuen Job anzutreten. Die Ampel an der ersten Straße, die er zu überqueren hat, ist außer Betrieb. Er muss sich entscheiden: Rechts ausweichen? Links? Durch den rasenden Verkehr? Was kommt danach? Hier ist das nächste Problem: Wir können die Konsequenzen unserer Entscheidungen, besonders in langfristiger Hinsicht, kaum überblicken. Das Labyrinth ist immer größer als der kleine Ausschnitt, den man überblicken kann. Sofern man die Konsequenzen und Folgehandlungen nüchtern betrachten und berechnen kann, so ist dies mit den Handlungen aller anderen nicht mehr möglich. Es werden immer andere Menschen in die eigenen Pläne pfuschen. Ein Zurück gibt es nicht.

Dieses Gewirr aus Entscheidungen, Überschneidungen, Beeinflussungen, Vorgaben, Konsequenzen und Folgeentscheidungen liegt den Geschichten zugrunde. Der Titel Das Maurerdekolleté des Lebens entstammt aus der Welt der Baustellen, weist auf die Abwege hin, auf die man geraten kann, wenn man sich richtig verlaufen hat, bis man am Arsch der eigenen Welt angekommen ist, und auf die wenig schönen Aussichten, die man zwischendurch immer wieder haben kann. Gleichzeitig soll es ein Hinweis darauf sein, das Leben und die angesprochenen Probleme mit einem Zwinkern zu betrachten, und nicht alles zu ernst zu nehmen, auch sich selbst nicht. Das Leben besteht nicht aus dem Ziel des Weges, sondern aus dem Weg selbst.

Mit derart großen Themen könnte man ganze Bücherregale füllen. Jede Entscheidung für zu Entscheidungen, die zu Entscheidungen führen. Ich habe mich für drei recht kurze Erzählungen entschieden, um einen Ausschnitt zu zeigen, da das Gesamtbild unmöglich vollständig zu zeigen ist. Drei surreale Geschichten: Das Maurerdekolleté des Lebens, Das Maurerdekolleté des Todes und Das Maurerdekolleté der Gefräßigkeit, die ein Leben der Desorientierung, eines mit Ausstiegsversuch und eines ohne Rücksicht zeigen.

Aufgrund des geringen Umfangs (ca. 50 Seiten) habe ich mich für eine Veröffentlichung in Form von E-Books entschieden. Eine sehr kleine, nummerierte und signierte Auflage von Taschenbüchern wird ebenfalls hergestellt werden. Die Exemplare sind allerdings größtenteils bereits vor dem Druck vergriffen. Bei Interesse könnt ihr euch bei mir melden.

Es werden wie bei den anderen Büchern auch für Das Maurerdekolleté des Lebens weitere Beiträge im Blog folgen. Ich wünsche viel Spaß bei der Lektüre!

Mehr als Vernunft

Über den Verlust der Magie im Leben.

Was ich in diesem Text vorhabe, ist keine saubere Argumentation, sondern eher eine Ansammlung von Anreizen, um über sich selbst und die eigenen Bedürfnisse nachzudenken. Der Mensch braucht mehr als Vernunft und Systeme und geradliniges Denken. Neulich habe ich folgende Aussage von Daniel Kehlmann in Der unsichtbare Drache, einem Gespräch zwischen ihm und Heinrich Detering, gelesen: Ich glaube tatsächlich, dass wir eine Summe von Widersprüchen sind, und hinter den Widersprüchen ist nichts. Das fand ich interessant. Der Mensch als zwiespältiges Wesen, das ständig damit beschäftigt ist, die Widersprüche zu klären.

In einer Philosophievorlesung hörte ich damals eine Erklärung für die Schwierigkeiten, die Menschen damit haben, vernünftig zu handeln. Es hieß, dass der Mensch einerseits vernunftbegabt sei, also eigentlich wisse, was er zu tun habe, um ein gewisses Ziel zu erreichen – Das Beispiel war: Der Professor ist zu dick, weil er zu viel Torte isst, und würde gern abnehmen. Die Vernunft sagt: Iss weniger Torte! –, aber gleichzeitig sei der Mensch ein Wesen, das Gefühle und Triebe habe, also Dinge wolle, die der Vernunft widersprächen (er will Torte essen). Aus Müssen (Torte nicht essen, um abzunehmen) und Wollen (Lust auf Torte) entsteht Sollen. Ein grundsätzlicher innerer Widerspruch, dem wir nicht entkommen können. Wir können uns nur darin üben, unsere Gefühle zu akzeptieren und in gesundem Maße auf unsere Vernunft zu hören.

William Butler Yeats beklagt in seinem Werk Celtic Twilight den Verlust der Magie oder des magischen Denkens in der Welt. Er sammelte Erzählungen der irischen Landbevölkerung, Mythen und Geschichten, um sie zu bewahren und einen Eindruck einer Welt zu vermitteln, die so ganz anders ist als die, in der wir heute leben und die sich in seiner Zeit bereits stark herauskristallisierte. Aus einem Gemisch von Aberglauben, dem Glauben an das magische Volk, Feen, Dämonen und andere Wesen, und dem christlichen Glauben bildete sich ein Zusatz zum Alltag der Menschen in Irland (und sicherlich auch anderswo auf der Welt, hier und da), der nicht materialistisch und nicht materiell bedingt oder begrenzt war, sondern den Bereich des Magischen ganz natürlich integrierte.

Man kann sagen, dass das Christentum in unserem Erdteil diese Magie über Jahrhunderte gezielt zerstörte, um die religiöse Vormachtstellung aufzubauen und zu erhalten (gestützt von weltlicher Politik, die eigene Vorteile daraus zog). Nach der Spaltung des Christentums in Katholiken und Protestanten wurde diese Entwicklung fortgeführt und sogar verstärkt. Die protestantische Weltsicht konzentrierte sich stärker auf das Diesseits als die katholische und brachte schließlich neben anderen Bewegungen die Calvinisten hervor, die grob zusammengefasst glaubten, dass man sich das Himmelreich durch harte (weltliche und religiöse) Arbeit verdienen müsse. Auf die Calvinisten geht auch der Spruch „Zeit ist Geld“ zurück. Sie waren ein starker Antrieb für die Industrialisierung und damit eine Welt, in der Magie vollkommen verdrängt wurde durch Materialismus. Die Konzentration auf das Diesseits und das Materielle führte schließlich zu unserer jetzigen Welt, in der selbst das Christentum, das man noch als letzten Rest Magie und Glauben betrachten kann, immer weniger Anhänger hat und zu verschwinden droht.

Heutzutage wird der Mensch zu häufig als Funktion betrachtet und betrachtet sich selbst unbewusst auch so, Glück wird missverstanden als Erfolg beziehungsweise größerer Erfolg wird mit größerem Glück gleichgesetzt, also materieller Zugewinn oder Statusgewinn statt Selbstzufriedenheit ist zum Ziel der Glücksbemühungen geworden. Psychische Erkrankungen nehmen immer weiter zu. Wir kennen das. Die innere Widersprüchlichkeit ist nicht mehr in Waage, sondern zu stark in den Bereich vermeintlicher Vernunft gerückt, wobei „vermeintlich“ betont werden sollte, denn es ist eindeutig unvernünftig, sich selbst kaputt zu machen, um materielle Ziele zu erreichen, die bloß wieder neue Ziele und neue Bemühungen fordern.

Christa Wolf stellte diese Entwicklung Anfang der 1980er Jahre in ihrer Vorlesung Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra, also die Entwicklung hin zu totaler Rationalität, Kälte, geradlinigem Denken und eindeutigen/einseitigen Systemen (in Philosophie, Wissenschaft und Gesellschaft) und weg von gefühlsbetontem Denken oder der Anerkennung der Wichtigkeit der Emotionalität, in den Kontext des Patriarchats und der Machtübernahme der Männer in und seit vorgriechischer Zeit. Sie versucht zu rekonstruieren, wie aus einer matriarchalischen Gesellschaftsordnung und einer Verehrung von Göttinnen durch Priesterinnen eine Gesellschaft geworden ist, in der nur Männer Priester, Seher, Könige usw. werden konnten und in der alle Hauptgötter männlich waren. In diesem Gedankengang stellt sie heraus, dass die eher weiblich besetzte emotionalere Denkweise durch eine eher männliche, extrem rationale Denkweise ersetzt worden ist, die zwar Fortschritt mit sich bringt, aber auch Leid, Krieg, Zerstörung (damals die große Bedrohung eines Atomkriegs), Kälte und Unterdrückung. Zwar scheint mir die verallgemeinernde Zuteilung weiblich = emotional und männlich = rational, die man ein Stück weit herauslesen kann, überholt oder wenigstens fragwürdig, aber gebe ich ihr insofern Recht, dass eine zu rationale, wissenschaftliche, gewinnorientierte und materialistische Weltsicht ungesund ist und potentiell zu unserem Untergang führt (Klimawandel, Kriege, Ausbeutung, psychische Erkrankungen …).

Eine Erklärung, die nur einen einzigen Aspekt (Patriarchat, Christentum, Kapitalismus) beinhaltet, scheint mir von vornherein zum Scheitern verurteilt. Für komplexe Probleme gibt es keine einfachen Lösungen oder Erklärungen. Fakt ist aber, dass wir heutzutage nur noch wenig Zugang zu unseren Gefühlen und tiefen Bedürfnissen haben, die sich in früheren Zeiten möglicherweise auch in Form religiöser und magischer Welten und Erklärungsmodelle manifestiert oder sogar gelöst hatten, und auf persönliche und allgemeine Katastrophen zusteuern, die gestoppt werden könnten, deren Stopp aber der Logik unseres auf Wachstum und Geld konzentrierten Systems und teilweise sogar unserem ans System angepassten Denken widerspricht.

Der Mensch ist mehr und braucht mehr als das, was wir leben.

Unsere inneren Widerstände und Konflikte können nicht durch wirtschaftlichen Erfolg oder wissenschaftlichen Fortschritt gelöst werden, sondern erfordern eigene Aufmerksamkeit, Zeit und Konzentration. Kämpfe und Bedürfnisse von innen nach außen zu verlagern, ist im Endeffekt wie das Aufschütten riesiger Müllhalden. Sie werden nicht verschwinden und irgendwann werden sie zu einem großen, stinkenden Problem. Wir sind zu rational für Religionen und zu unreif und zu abgelenkt, um uns mit uns selbst zu beschäftigen, obwohl wir es tun sollten – Wir müssen, um zufriedener und gesünder zu leben, aber wir wollen lieber bequem und gedankenlos sein, und wieder wird aus Müssen und Wollen ein Sollen.

Begrenzung

Gedanken über Schellings Philosophie der Kunst in freier Anwendung.

Der Philosoph F.W.J. Schelling argumentierte, dass die Welt, wie wir sie kennen, und alles darin, inklusive uns selbst, unserer Gedanken und der Dinge, die wir nicht wahrnehmen können, durch Begrenzung abgetrennte Teile einer einzigen Entität, des Absoluten, seien. Diese Theorie schloss dementsprechend auch die Kunst ein. Jedes Kunstwerk kann man als durch Begrenzung entstandenen Part des Absoluten, als Mischung aus der Ganzheit der Dinge und der Individualität des Kunstschaffenden betrachten. Über den Begriff der Begrenzung möchte ich kurz und öffentlich nachdenken.

Die Philosophie Schellings ist interessant, aber überholt und seine Ansichten über die Kunst ebenfalls. Er hätte viele heutige Werke (genau wie viele aus seiner Zeit) nicht als echte Kunst akzeptiert. Gehen wir es daher etwas kleiner an und hangeln uns nicht an seinen Ansichten entlang, sondern nehmen sie nur als Anreiz. Beziehen wir den Begriff des Absoluten einfach mal auf einen Menschen als Ganzes. Er besteht aus einem Körper, einem genetisch vorprogrammierten Kern, der durch Erziehung, Sozialisation und andere äußere Einflüsse, sich weiterentwickelt hat und schließlich ein komplexer Erwachsener geworden ist (mit vielen Erfahrungen, eigenen Gedanken, einer Meinung, Wünschen, Träumen und Grundüberzeugungen). Gehen wir davon aus, dass ein Kunstwerk Ausdruck dieser Gesamtheit ist, entstanden aus der Fantasie dieses Menschen und in der geschaffenen Form einzig und allein von diesem bestimmten Menschen erschaffbar, einzigartig wie der Mensch selbst. Gehen wir weiter davon aus, dass das Ziel dieses Menschen wäre, sich selbst komplett durch die Kunst zu erfassen und auszudrücken. Dieses Ziel würde die unmögliche Aufgabe an ein Kunstwerk stellen, nicht nur alles Bisherige darzustellen, sondern auch alles, was während der Herstellung Bestehende und Vorgehende, und dürfte erst fertiggestellt sein, wenn der Mensch stirbt. Doch auch dann wäre es nicht vollständig, weil es den Tod und die Momente vor dem Tod nicht darstellen würde.

Diese Unmöglichkeit umgehen Künstler durch Begrenzung. Es wird ein Ausschnitt gewählt, ein Thema oder eine Erfahrung, ein Lebensgefühl oder eine Idee, und dieser Ausschnitt wird zu einem Kunstwerk umgesetzt. Man kann eventuell eine Gesamtheit hinter dem Ausschnitt vermuten, wenn man das Kunstwerk betrachtet, aber die Gesamtheit ist nicht dargestellt, kann nicht dargestellt werden. Von allem, was den Kunstschaffenden ausmacht, und allem, was er kann, ist immer nur ein begrenzter Teil, eben ein Ausschnitt, darstellbar. Wiederholt man den Prozess häufig genug, nähert man sich der Gesamtheit, die man ausdrücken möchte, aber erreicht sie nie. Hinzu kommt die oben erwähnte Veränderung des Künstlers beim Schaffensprozess sowie danach. Kunst ist immer auch Ausdruck des Zeitpunkts, in dem sie entsteht, und des Menschen, der zu diesem Zeitpunkt oder in einer bestimmten Zeitspanne existiert. Im Folgejahr entstünde aus der gleichen Idee ein anderes Werk. Das ist vielleicht nicht der einzige Grund, aber ein Grund, warum man niemals aufhört, Kunst zu schaffen.

Das fertige Werk würde in seiner Begrenzung trotz seiner Entfernung vom Gesamtanspruch an die Kunst absolut und abgeschlossen sein und dennoch in dieser Absolutheit oder dieser Absolutheit unbeschadet doch wieder ein Glied des Ganzen (des Menschen, der das Werk geschaffen hat, und der Kunst, dessen Teil es ist) sein. [Der zitierte Teilsatz stammt aus Philosophie der Kunst von Schelling und bezieht sich eigentlich auch Teilbereiche der Philosophie innerhalb der allgemeinen Philosophie.] Immer Teil von etwas Größerem und dennoch für sich vollständig wie wir, wie alles.

Begrenzung ist unumgänglich für den Menschen. Eine Gesellschaft funktioniert, weil sie ihre Mitglieder und die Mitglieder sich selbst und gegenseitig begrenzen. Täte jeder, was er wollte, bräche die Gesellschaft zusammen. Allerdings will auch fast jeder in einer Gruppe mit anderen leben. Diesen Konflikt aus sich widersprechenden Forderungen in uns spüren wir jeden Tag.

Die Freiheit des einen endet spätestens, wo die Freiheit des nächsten beginnt. Das ist der Kern einer funktionierenden demokratischen Gesellschaft. Das heißt, Freiheit selbst benötigt Begrenzung, sofern wir zusammen leben wollen (was wir ja wollen) und unsere Freiheit aufrecht erhalten wollen (was wir ebenfalls wollen). Inwieweit jeder einzelne seine Freiheit verteidigt oder eingrenzt, hängt vom freien Willen ab.

Der freie Wille scheint zunächst unbegrenzt, selbst wenn man äußerlich unfrei sein sollte. Unsere Entscheidungen sind in uns frei und scheinbar unabhängig von anderem, selbst wenn wir in der Ausführung gehindert werden. Doch das ist eine Illusion, wenigstens zum Teil. Freier Wille ohne Begrenzung wäre nicht bloß Willkür, sondern Chaos. Unsere Entscheidungen basieren auf unseren Erfahrungen, unserer Sozialisation und Glaubensgrundsätzen beziehungsweise Prinzipien sowie biologischen Faktoren. Eine Entscheidung kommt also nicht aus dem Nichts und sie funktioniert nur, weil sie begrenzt ist, nicht eingeschränkt, nicht unfrei, aber begrenzt. Wir können uns frei entscheiden in den Grenzen unserer Persönlichkeit. Das ist freier Wille.

Begrenzung ist das, was die Natur und damit uns ausmacht. Insofern gebe ich Schelling Recht. Betrachtet man die Gesamtheit der physikalischen Möglichkeiten der Welt, also das, was wäre, wenn es keine Begrenzung in der Natur gäbe, als das Absolute, könnte man ihm ebenfalls Recht geben. Allerdings ist unsere Welt nur durch die Begrenzung möglich und nicht aus einem Akt der Begrenzung entstanden – man kann keine Kausalbedingung herstellen, da die Gesamtheit ohne die Verbindung beider Dinge nicht möglich wäre: Begrenzung ohne das Absolute ist genau so wenig möglich wie das Absolute (so, wie es existiert) ohne Begrenzung. Dass ich auf einen Begriff wie das Absolute ausweichen muss, zeigt mir bereits, dass die Welt ohne jede Begrenzung eigentlich nicht einmal denkbar wäre – jedenfalls nicht für uns. Meine Begründung ist laienhaft, ich weiß. Man könnte behaupten, dass der Zustand des Universums vor dem Urknall das Absolute ohne Begrenzung gewesen sei und dass die Zeit danach eine zunehmende Begrenzung des Absoluten dargestellt hätte (Abkühlung, Entstehung von Teilchen, irgendwann Masse usw.), aber das ist keinesfalls, was Schelling meinte.

Stellen wir Schelling aber zur Ehrenrettung einen entfernt verwandten Gedanken von Jorge Luis Borges zur Seite. Borges betrachtete jedes einzelne Buch (oder literarische Werk) als Teil eines großen kosmischen Buches, das immer weiter geschrieben wird und alle Werke beinhaltet. Man könnte argumentieren, dass, auf die Literatur bezogen, das große Buch von Borges das Absolute darstellt und jedes einzelne Buch eine Begrenzung des Absoluten oder des absoluten Buches. Wohlgemerkt war Borges weder Philosoph noch gläubig, was man wohl sein müsste, um an ein absolutes Buch zu glauben, sondern spielte lediglich gern mit interessanten Gedanken. Er ging nicht ernsthaft von der Existenz des Buches der Bücher aus. Aber es ist ein schöner Gedanke.

So, jetzt sind wir alle verwirrt und brauchen eine Pause, oder? Ich habe diesen Artikel ohne größere Absicht verfasst, außer der, selbst nachzudenken und andere zum Denken anzuregen. Ich hoffe, das habe ich geschafft.

Experimentelle Gedanken

Ein Gedankenexperiment: Fiktion und Schöpfung.

Stellt euch einmal vor, ihr selbst wärt erfundene Figuren, und jetzt folgt mir in den Kaninchenbau!

Manche Philosophen betrachteten die Welt als Ausgestaltung eines einzigen Willens, der sich selbst betrachtet, um sich in allen Aspekten zu verstehen. Schöpfung als Notwendigkeit zur Selbsterkenntnis. Keine Sorge, es soll nicht wieder um Selbstfindung gehen, sondern um eine Idee, die ich neulich (erneut) umgesetzt habe.

Kommunikation mit der eigenen Schöpfung

Es ist in der Literatur schon lange nicht mehr experimentell, einen personalen oder allwissenden Erzähler und eine Figur miteinander kommunizieren zu lassen. Meist führt eine solche Kommunikation auch zu nichts und fühlt sich gezwungen an. Vermutlich liegt das daran, dass man eine klare Grenze zu ziehen gewohnt ist zwischen der Ebene, auf der Figuren agieren, und jener, auf der ein Erzähler (personal oder allwissend) sitzt. Aber was, wenn eine Geschichte die Ausformung eines Willens ist, der sich selbst zu verstehen sucht? Dieser Wille gehört zum Schreibenden. Damit wird die Geschichte zur Schöpfung, Autor*in zu Gott und das einzige, was noch fehlt, ist der Glaube an die Realität der Fiktion. Ist es denkbar, dass die Geschichte auf einer anderen Realitätsebene – vielleicht eine Stufe niedriger? – tatsächlich geschieht, so wie unsere Existenz eine Stufe unter der Gottes geschieht (sofern es Gott geben sollte). Um einen roten Faden zu ziehen in dieser Idee, müsste Gott ebenfalls so etwas wie Autor*in sein und unsicher, ob die von ihm geschaffene Fiktion möglicherweise real ist. Ihr müsst nicht daran glauben, ich tue es auch nicht, aber stellt es euch einmal vor. Ihr sitzt gerade am Computer oder am Smartphone, lest diese Worte und jetzt stellt euch intensiv vor, jemand denkt sich euch aus. Er/sie sitzt am Computer und beschreibt, wie ihr diesen Text lest, wie ihr reagiert, dass ihr euch vorstellt, er/sie würde euch erfinden. Ein kleiner Funken existentiellen Horrors sollte in euch aufglimmen und das Gleiche fühlt die Wesenheit, die euch erfindet und euch ungeschickterweise einen Einblick in seine/ihre Existenz gegeben hat.

Das Universum als Gehirn, der Mensch als Gedanke

Das Universum bildet mit unzähligen Sternen und Sternensystemen Muster, die mit ausreichend Abstand einem menschlichen Gehirn nicht unähnlich sind. Aus den Vorgängen im Kosmos entstand (und entsteht) Leben, das (beziehungsweise dessen Ausprägungen) im Vergleich dazu unendlich klein wirkt, völlig unbedeutend im Rahmen des großen Ganzen, wie eine Idee in einem Menschenleben. Aber manche Spezies setzt sich durch, bevölkert einen ganzen Planeten und dann noch einen und noch einen, wie eine durchdringende Idee, die Verbreitung findet und für Generationen gelesen und nachverfolgt wird. Literatur steht zum Menschen wie der Mensch zum Kosmos. Das klingt schrecklich esoterisch. Man sollte das keinesfalls glauben, sondern als Denkanschub verstehen. Ich möchte einen winzigen Zweifel sähen. Vielleicht ist Fiktion real, weil wir sie dazu machen. Stellt euch eine endlose Kette von Erfindungen vor, die jeweils Schöpfung sind, ohne dass es den Schöpfer*innen bewusst ist.

Die Psychologie der Schöpfung

Zurück zum existentiellen Horror einer Unterhaltung mit Gott. In Sorck hatte ich die Idee eines Näherrückens von literarisch-fiktiver und real-schöpferischer Welt kurz angedeutet in der Dachbodenszene. Die Figur verstand nicht, was sie sah, und wusste, dass sie an etwas kratzte, das größer ist als sie. Nach den oben ausgeführten Gedanken könnte man sagen, dass die Figur es deshalb nicht verstand, weil ich nicht wollte, dass sie es versteht. Schenke ich ihr Verständnis, versteht sie. Das wiederum würde bedeuten, dass die aus meiner Sicht unabdingbare Angst beim Kontakt mit einer höheren Stufe der Realität beziehungsweise mit einer Schöpfungsebene nicht unabdingbar sein muss, sondern es nur ist, weil ich sie dazu mache. Gehen wir noch weiter: Sofern es eine Schöpfungsebene über uns gäbe, die nach den gleichen Regeln funktionierte, hielte ich die angesprochene Angst für unumgänglich, weil die Wesenheit, die mich erfände, sie dafür hielte. Gott hätte Angst vor uns und wüsste, wir hätten Angst vor ihm. Dies würde zu einer Art Prädetermination bei gleichzeitiger Empfindung von Freiheit führen (was hier wiederum zu weit ginge).

Die Wahrheit

Die Wahrheit ist vermutlich erheblich einfacher. Menschen fürchten Dinge, die sie nicht verstehen. Deshalb beten, bitten und betteln wir in der Kirche, anstatt uns gechillt mit dem Herrgott zu unterhalten. Wir verstehen Gott allerdings nicht, weil er nicht antwortet. Das heißt, die Angst, die wir bei einer Begegnung mit Gott verspüren würden, würde schnell abflachen, sobald eine Kommunikation zustande käme. Ich stelle mir es vor, wie die erste Begegnung mit Aliens.

Jetzt fürchte ich, etwas abgedriftet zu sein, wie das so geht, wenn man einmal beginnt, die Grundlagen der Existenz in Frage zu stellen. Worum es mir ursprünglich ging, war, dass ich eine Geschichte geschrieben habe, in der die Ebenen der Figuren, der Erzähler (Plural) und des Autors (scheinbar) verwischt werden, und die Realität der Geschichte aus sich selbst heraus, das heißt von ihren Figuren, erfunden und erschaffen wird. Ich selbst bin fasziniert und begeistert davon. Die Geschichte beschäftigt mich weiter, obwohl sie im Grunde abgeschlossen ist. Warum ist das so? Warum versuche ich, einen Kontakt herzustellen zu meiner Erfindung, die über die Erfindung selbst hinauszugehen scheint? Jeder die Erfindung scheinbar transzendierende Kontakt ist noch immer Teil der Erfindung. Es ist das alte Spiel: Sprichst du mit Gott, ist alles okay, aber wenn er antwortet, hast du ein Problem. Ich kann mit tiefer Zufriedenheit verkünden, dass meine Figuren mir noch nichts geantwortet haben, das ich ihnen nicht in den Mund gelegt habe.

Gastbeitrag: All der Horror! Was stimmt denn nicht mit dir?

Ein Beitrag des Horrorautors Michael Leuchtenberger über die Motivation, Horror-/Gruselliteratur zu schreiben.

Mein Name ist Michael Leuchtenberger, ich schreibe und lese mit Vorliebe Horror-geschichten und übersinnliche Thriller. Und manchmal denke ich darüber nach, warum eigentlich.
Wenn jemand zum Beispiel über eines meiner Werke schreibt: „Es ist schon lange her, dass ein Buch mich so viele Fingernägel gekostet hat“, macht mich das als Autor glücklich. Ich verbreite gerne Angst und Schrecken, lasse mit Vergnügen Monströses und Unbegreifliches auf mein Publikum los. Weil ich Leute quälen will? Nein. Ich bin einfach überzeugt, dass andere an Horror genauso viel Freude haben wie ich.

Horror, das gemütliche Heim

Ich kann Bücher durchaus aus anderen Gründen interessant finden. Wegen Themen, Figuren, dem Humor. Der Abwechslung und neuer Eindrücke wegen lese ich zwischendurch gern andere Genres. Aber immer wieder kehre ich sehr schnell zum Horror zurück, was sich anfühlt, wie nach Hause zu kommen.
Es ist gar nicht nötig, mich deswegen als Sonderling zu inszenieren. Horror ist ein Genre mit jahrhundertelanger Tradition und großer Anhängerschaft. Auch über den Reiz und die Funktion von Schauerliteratur wurde schon viel geschrieben, Stephen King tat dies in „Danse Macabre – Die Welt des Horrors“, Lovecraft in seinen Essays noch viel früher. Trotzdem möchte ich der Frage „Warum Horror?“ einmal persönlich und unbefangen auf den Grund gehen.
Denn ich kann verstehen, dass viele einen weiten Bogen um Horror machen. Wer hat schon gerne Angst?
Eine berechtigte Frage, aus der sich die nächsten ergeben: Was stimmt nicht mit mir, dass ich – zumindest beim Lesen und Schreiben – eine Freude daran habe, mich zu fürchten oder zu ekeln? Warum kriege ich nicht genug von Geschichten, in denen andere Todesängste ausstehen, wahnsinnig werden oder qualvoll umkommen? Und warum muss es auch in meinen eigenen Geschichten düster und bedrohlich zugehen?

Horror beruhigt!

So sehr das Lesen als Leidenschaft Menschen vereint, so divers scheinen zumindest auf den ersten Blick die Bedürfnisse zu sein, die die erzählten Geschichten befriedigen. Sie bewegen sich zwischen zwei Extremen: Will ich etwas lesen, das mich beruhigt, oder etwas, das mich beunruhigt? Sollen Bücher mir ein Gefühl der Bestätigung, Geborgenheit und Sicherheit geben? Oder mir suggerieren, dass möglicherweise etwas „da draußen“ ist, das genau diese Sicherheit bedroht?
Ich habe mich schon immer für die zweite Option entschieden. Aber etwas daran erscheint mir widersprüchlich: Auch ich lese doch, um mich abzulenken. Auch ich will dabei den Alltag zurücklassen. Warum lese ich dann etwas, das mir Furcht einflößt?
Doch vielleicht ist da gar kein Widerspruch. Denn ich schalte ab, gerade weil die Geschichten spannend und gruselig sind. Sie fesseln mich – während Bücher, mit denen andere sich pudelwohl fühlen, in denen aber nur Alltägliches geschieht und Harmonie herrscht, mich sofort langweilen. Von Abschalten kann dann bei mir keine Rede sein.
Als Beispiel: Eine realistische Erzählung über die Donner Party, die 1846 tatsächlich in Nordamerika verschwand, mag an sich schon interessant sein. Aber wenn die Reisenden plötzlich von fremdartigen Bestien heimgesucht werden, wie in Alma Katsus Roman „The Hunger“, fängt für mich der Spaß erst richtig an. Andere dagegen verstört es allzu sehr oder sie rollen ob dem Dreh ins Phantastische abschätzig mit den Augen.
Zugespitzt kann ich sagen: Die Unruhe einer Horrorgeschichte beruhigt mich. Habe ich also doch das gleiche Grundbedürfnis wie die, die Liebesromane oder die Känguru-Chroniken lesen?

I want to believe – but I can’t

Dass ich Horror überhaupt so erleben kann, liegt daran, dass ich zwischen Realität und Fiktion sehr klar trenne. Das ist keine besondere Leistung, sondern mein Wesen. Ich kann gar nicht anders. Ich neige nicht zu Albträumen und habe – auch nach einem gruseligen Film – noch nie Angst gehabt, einen langen, dunklen Flur entlang zu gehen. Ja, beim Schreiben habe ich eine blühende Fantasie. Aber dafür lege ich einen Schalter um. In meinem Alltag bin ich Realist. Und manchmal fast neidisch auf Leute, die mehr sehen als das, was in meiner Wirklichkeit existiert.
Die Anspannung, die ich beim Ansehen eines gruseligen Film verspüre, empfinde ich als sehr positiv. Diese Spannung macht den Reiz am Horror für mich aus, während ich mit Splatter nichts anfangen kann und bei explizitem Body Horror schnell an eine Ekelgrenze stoße. Echte Angst empfinde ich nicht, oder zumindest überträgt sie sich nicht von der Fiktion in meine Realität.
Vielleicht gerade weil das so ist, habe ich schon immer eine Sehnsucht nach fiktiven Welten verspürt. Schon als Kind habe ich Märchen und fantastische Geschichten geliebt, in denen Reales auf Phantastisches trifft, allen voran „Die unendliche Geschichte“, später die Reihe „Wintersonnenwende“ und Jules Vernes Erzählungen über abenteuerliche Reisen.

Das morbide Kind

Schon damals haben mich die finsteren Elemente, die Geister und Ungeheuer, am meisten fasziniert. Ygramul und Gmork. Der Afanc. Die kreischenden Wilddruden in „Ronja Räubertochter“. Oder die Vorstellung, wie Professor Lidenbrock in einen Vulkan hinabzusteigen, der direkt in den Mittelpunkt der Erde führt – höllische Assoziationen inklusive.
Der Hang zum Morbiden setzte sich nahtlos fort, als ich Stephen King entdeckte, etwa seine Reihe „Der dunkle Turm“, später die Klassiker von Poe, Lovecraft und E.T.A. Hoffmann. In die gleiche Zeit fiel der Hype um die Serie „Akte X“, der auch mich voll erwischte. Der Kosmos voller Monster, Mutanten und sonstiger unerklärlicher Phänomene hatte es mir angetan. Der spezielle Reiz lag für mich auch hier wieder im Einbruch des Übersinnlichen in eine ansonsten realistische Welt.
Und natürlich stehen auf der Liste meiner Lieblingsfilme die schaurigen und rätselhaften ganz weit oben. „The Shining“ zieht mich vor allem mit seinem unheimlichen Ort in seinen Bann: das labyrinthische Overlook-Hotel spricht eine Urangst an, die mir auch in meinen Träumen und eigenen Texten immer wieder begegnet. Oder „Mulholland Drive“, das mir als Musterbeispiel dafür scheint, wie nah eine Geschichte an einem verwirrenden Albtraum sein, wie sie mit Identität und Realität spielen und damit das Publikum verunsichern kann.

Ist die Realität nicht schlimm genug?

Für die Sehnsucht nach dem Phantastischen habe ich schon eine mögliche Erklärung genannt, aber warum dieser ständige Hang zur Düsternis? Das ist eine Veranlagung, die nicht nur mit Geschichten zu tun hat. Auch Musik hat eine große Bedeutung für mich, und von ein paar Ausnahmen abgesehen sind es dunkle, melancholische Klänge, die mich besonders anziehen, Richtungen wie Darkwave, Coldwave und verwandte. Erkenne ich mich darin wieder? Bestätigen dunkle Geschichten und schwermütige Musik meine Weltsicht?
Während ich das schreibe, merke ich, wie es mir widerstrebt, in eine Schublade gesteckt zu werden. Ja, ich bin introvertiert und kein Partymensch. Aber nicht spaßbefreit oder ständig deprimiert. Nicht nur Grusel und Gothic haben mich geprägt, sondern auch Loriot und „Friends“. Ich liebe den Sommer und höre auch mal normale Popsongs.
Aber mir wäre eine reine Spaßgesellschaft zuwider, in der alles, was dunkel und bedrohlich ist, verdrängt wird. Ja, die Realität ist schlimm genug, und vielleicht will ich das Böse gerade deswegen auch in Geschichten erleben, das Nachdenkliche in der Musik hören. Davon lesen, sehen oder hören, dass Menschen Angst haben, weil das zu jeder Existenz dazugehört. Bei zu viel Happiness klingen in mir Alarmglocken: Oberflächlich! Heuchlerisch!

Das Ventil oder: Horror ist ein Kinderspiel

Das läuft nicht immer bewusst ab. Und es ist vor allem nichts darüber gesagt, ob ich mit dem Grauen im realen Leben besser umgehen kann als andere, nur weil ich mich in der Fiktion ständig damit konfrontiere. Denn das bezweifle ich. Nicht umsonst ist es meist phantastischer Horror, der mich besonders begeistert, seltener die Stories über Serienkiller oder andere, ganz irdische Gräueltaten.
Ich stimme King daher zu, wenn er – wie in “Danse Macabre” – Horrorgeschichten als eine Art Sicherheitsventil für reale Ängste beschreibt. Er spricht an dieser Stelle von den Konsument*innen von Horrorfilmen, aber ich glaube, es lässt sich auf Lesende und auch die Autor*innen übertragen.
Das Ventil scheint bei mir zudem seinen Zweck zu erfüllen, obwohl oder gerade weil ich die Angst in der Fiktion nicht als real Angst erlebe. Sind es am Ende dann also doch wir Horrorfans, die vor der Realität flüchten? Haben andere das Überdruckventil gar nicht nötig, weil sie die wahren Schrecken unserer Welt besser verarbeiten?
Wahrscheinlich ist es so, wie Matthias, der Betreiber dieses Blogs, es gedeutet hat (nachdem ich ihm den ersten Entwurf dieses Artikels zum Gegenlesen zuschickte, der an dieser Stelle endete): Horror hat etwas von einem Kinderspiel, von einer Probe für den Ernstfall. Ich weiß um das Übel in dieser Welt und habe Angst davor, damit eines Tages unvorbereitet konfrontiert zu sein. Mit diesem Gedanken kann ich mich sehr gut anfreunden, da ich beispielsweise auch nicht selten über den Tod nachdenke.

Von Horrorfans wie Nicht-Horrorfans würde mich interessieren: Was sind eure Gedanken dazu?

Portrait Michael Leuchtenberger - Foto von Matthias Hewing

Michael Leuchtenberger (Jahrgang 1979) veröffentlichte 2018 als Selfpublisher seinen Debütroman, den geisterhaften Thriller Caspars Schatten. 2019 gewann er mit seiner Kurzgeschichte Lampionfest den Schreib-wettbewerb zum Thema Zeitgeist 2020 von Litopian e.V. Ebenfalls 2019 erschien mit Derrière La Porte – elf sonderbare Kurzgeschichten sein erster Erzählband. Aktuell arbeitet er an einer Fortsetzung seines Debütromans mit dem Arbeitstitel Pfad ins Dunkel.

(Fotograf: Matthias Hewing)

Auf Papierkrieg.Blog bisher über Michael Leuchtenberger erschienen:
Michael Leuchtenberger: Derrière la Porte | Alte Akten und wilde Spekulationen

Kombination aus Erfahrungen und Gedanken

Über Selbsterkenntnisse, Musik und ein Buch von Hans-Joachim Maaz.

In der Suche nach Erkenntnis geht es immer um das große Ganze, auch wenn man bloß Teilaspekte untersucht oder zu untersuchen meint. Manchmal kommt man nicht weiter, ohne größere Zusammenhänge einzubeziehen, oder man stößt auf etwas, das Verbindungen herstellt und plötzlich alles deutlicher macht. Letzteres ist mir gewissermaßen passiert, als ich das Buch Das falsche Leben von Hans-Joachim Maaz gelesen habe. Daher ist dieser Beitrag entweder für Leser*innen, die regelmäßig meine Einträge verfolgen, oder für Personen, die bereit sind, etwas mehr zu lesen, damit der Gesamtzusammenhang deutlicher wird. Im Grunde könnte man für mein heutiges Vorhaben alle bisherigen Beiträge zu Rate ziehen, aber ich werde mich der Einfachheit halber auf 4 konzentrieren.

Im Eintrag Eine Erfahrung zwischen Schmerz und Glück habe ich den Besuch des Konzerts der Band Dopethrone und meine Gefühle und Eindrücke dabei beschrieben. Ihr erinnert euch? Es ging um die Gefühle, die durch die Musik zutage traten und mich wie eine Welle überschwemmten, um sich dann körperlich zu entladen. Eine Befreiung, die ich sonst selten erlebe. Auch der Blogeintrag Slipknot und die Wahrheit über aggressive Musik behandelt die Wirkung und Notwendigkeit selbiger von Musik, um Emotionen ausleben zu können und sich in der Kunst anderer wiederzuerkennen. Dazu passt folgendes Zitat von Maaz:

Die anerzogene Gefühlsunterdrückung mit der Akzeptanz der Gefühlsbeherrschung ist als Wegbereiter für viele Erkrankungen verhängnisvoll, lässt aber andererseits nach Ersatzwegen der Gefühlsentladung suchen. So benutzen wir Musik, Filme, Bücher, Kulturevents, Sport und Nachrichten, um Gelegenheiten für Gefühlsanregungen zu finden, auf die wir unsere verborgenen und aufgestauten Gefühle aufsatteln können. Wir lassen uns emotional Huckepack nehmen. Sportereignisse, vor allem Fußball, die hysterische Verehrung von Stars auf der Bühne, das Lachen im Kabarett, die Trauer beim Tod von Prominenten, die Empörung über Vorgesetzte und Politiker sind insofern Ersatzgefühle, als der Fühlende nicht unmittelbar betroffen ist, sondern nur per Projektion. Über die verehrte Person oder das besondere Ereignis werden Gefühlsreaktionen animiert, die dann öffentlich auch toleriert werden oder sogar erwünscht sind.

[…]

Nur wenn man den Transportcharakter dieser Sekundargefühle erkennt, werden auch die heftigen Begeisterungsstürme, das hysterische Schreien oder eine abgrundtiefe Trauer ohne wirkliche persönliche Betroffenheit als bemühte Befreiung aus einem Gefühlsstau verständlich.

Das Moshpit-Regelwerk geht in eine ähnliche Richtung, auch wenn sich der Text auf die allgemeinen Abläufe und Vorkommnisse auf Metal- und Punk-Konzerten konzentriert, und nimmt auf die Gruppendynamik derartiger Events Bezug. Passend dazu folgendes Zitat:

In der Freizeit wird die Gefühlsanregung auch in der Gemeinschaft gesucht, um sich durch andere und die Sozialenergie der Gruppe emotional beleben und mitnehmen zu lassen.

Dass ich ein derartiges Ausleben von Gefühlen oder Sekundargefühlen häufiger nötig habe und doch wieder zum unentspannten Alltagszustand zurückkehre, das heißt, meine Gefühle oder deren Anstauung nicht tatsächlich auslebe und abreagiere, trifft Maaz folgendermaßen auf den Kopf:

Das Besondere an diesen Ersatzgefühlen ist, dass sie zwar auch Entlastung unterstützen, aber keine Erkenntnis über die wirklichen seelischen Prozesse befördern und damit auch keine befreiende Wirkung aus innerster Anspannung ermöglichen. Wie bei allen Ersatzerfüllungen dominiert bald wieder innere Spannung, die nach nächsten Events suchen lässt.

Hier kommt das große Aber beziehungsweise meine Hoffnung und eine Bestätigung, dass ich mich auf dem richtigen Weg befinde. Im Beitrag Die ständige Suche nach dem Warum gehe ich darauf ein, warum ich blogge oder warum ich die Themen wähle, die ich wähle, warum ich überhaupt nachfrage und in mich horche. Ich suche aktiv die Erkenntnis über die wirklichen seelischen Prozesse und Lösungen für fehlerhaftes, ungesundes oder unangenehmes Verhalten, also nach Wegen, um die innere Spannung zu reduzieren.

Diese Suche, die auch die Lektüre von Das falsche Leben beinhaltete, hat nun zur Zusammenführung mehrerer Erfahrungen geführt, die ich ohne ihre mühseligen Teilschritte nicht erlangt hätte. Ich weiß nun, dass ich daran zu arbeiten habe, meine wahren Gefühle zu entdecken, zu erreichen und sie auszudrücken, dass die Gefühle, die beispielsweise bei Konzerten zutage treten, nicht zwangsläufig die echten sein müssen, aber einen Einblick gewähren in Sphären, die ich sonst schwer oder gar nicht erreiche, und wie es sich anfühlen kann, wenn man Zufriedenheit und Ausgeglichenheit durch den Abbau eines Gefühlsstaus (s. den Dopethrone-Bericht) erreicht. Es geht also mal wieder um Selbstfindung oder echtes Leben, wie Maaz es nennen würde. Nach Maaz fühlt sich ein Kontakt zu den echten Gefühlen ungefähr (und sehr grob zusammengefasst) so an, wie ich es in Eine Erfahrung zwischen Schmerz und Glück beschreibe: Unannehmlichkeit – Gefühlsausbruch (auch und gerade körperlich) – Entspannung. Das sehe ich als Erfolg für mich an. Ein bisschen Verklemmung weniger – Hurra!

Zum Abschluss etwas Klärung, damit es nicht so klingt, als hätte das angesprochene Buch alle Weisheiten der Welt in sich versammelt oder als sei es frei von Kritik zu betrachten. Die Psychoanalyse hat meiner Meinung nach die Schwäche, dass sie droht, in Interpretationen und Zuschreibungen zu weit zu gehen (bis in Ebenen, die einfach nicht mehr beweisbar sind), und dadurch gelegentlich Gefahr läuft, wie Esoterik zu klingen beziehungsweise die Grenzen zu unsachlichen Behauptungen und Methoden überschreitet. Manche Feststellungen der Psychoanalyse werden für mich immer fragwürdig klingen, auch wenn Maaz’ Buch sehr sachlich geschrieben ist. Auch dürften sich manche Leser*innen an Begriffen wie Mütterlichkeit und Väterlichkeit stoßen (wobei er anmerkt, dass Frauen die väterliche Rolle und Männer die mütterliche Rolle übernehmen können) oder an seiner Kritik zu liberaler und zu kritikfeindlicher Einstellung. Es ist kein perfektes Buch, wie gesagt. Die sachliche Richtigkeit kann ich schlicht nicht überprüfen. Doch für mich ist der Wert eines Buches auch und besonders daran bemessen, was es mir an Denkvorlagen liefert – und dafür können auch hanebüchene Behauptungen oder völlig überholte religiöse und philosophische Konzepte dienen. Sollte also entgegen jeder Wahrscheinlichkeit jede These im Buch falsch sein oder nur auf mich zutreffen, hätte ich dennoch Erkenntnisse daraus gezogen und das ist, was für mich in diesem Fall zählt.

Göffel

Über das Wort “Göffel” im Gedicht “Archäologie” im Lyrikband “Alte Milch”.

Göffele albern durch mein Fleisch
Weil mein Geist nicht greifbar ist

Ich mag neue und seltsame Wörter. Deshalb mochte ich den Begriff Göffel sofort, als ich ihn zum ersten Mal gehört hatte. Ein Göffel ist eine Mischung aus einer Gabel und einem Löffel, dafür gedacht, dass man beispielsweise beim Camping weniger mitschleppen muss und doch alles Nötige parat hat.

Die oben zitierte Zeile gehört zum Gedicht Archäologie aus dem Gedichtband Alte Milch. Im Text geht es um Selbstsuche, wie man unschwer bereits in der ersten Zeile erkennen kann. Es geht darum, wie das lyrische Ich in sich selbst nach sich selbst sucht wie Archäologen in der Erde und in Felsen nach Spuren der Vergangenheit stöbern. Das Problem ist allerdings, dass es für eine ausführliche Selbstsuche meist am richtigen Werkzeug mangelt. Wie spürt man die Ursachen der eigenen Probleme und Entwicklung auf? Da man zu häufig die psychologischen und erinnerungstechnischen Spitzhacken und Pinsel nicht zur Hand hat, greift man zum falschen Equipment, das entweder nicht zureichend für die Aufgabe ist oder bei der Suche das Findbare zerstört und verklärt. Drogen beispielsweise wurden von vielen Befürwortern als Mittel der Selbsterkenntnis genutzt und gepriesen. Das kann sicherlich funktionieren, aber nicht bei allen und sicherlich nicht zwangsläufig. Durch die Drogen kann man sich auch schlicht abstumpfen und Entwicklungen und Erinnerungen begraben. Auch kann man mit Drogen neue Verknüpfungen herstellen, die die Vergangenheit in neues Licht stellen, das die Sicht verklärt. Diese neue Belichtung ist aber auch, was zur Erkenntnis führen kann. Ich habe ein zwiespältiges Verhältnis zu dieser Suche, die ich mit Erfolgen und Misserfolgen durchgeführt und schließlich aufgegeben habe.

Durch viel Nachdenken kann man ebenfalls zum Erfolg kommen, sofern man sich nicht im Kreis dreht, sich selbst auf falsche Fährten führt oder Dinge rationalisiert, die gefühlt werden müssten, und dabei vergisst, dass die Rationalisierung bereits Teil des Problematik sein kann, deren Ursachen man aufzuspüren sucht. Man sollte also auch über das Denken nachdenken und zwar kritisch. Auch diese Methode, die wohl die beste ist, scheint also nicht ideal zu sein. Manches, das unbewusst stattgefunden hat oder stattfindet oder verdrängt wurde, ist auf diese Weise gar nicht auffindbar.

Der Göffel im Gedicht repräsentiert die unzureichenden Mittel, die die meisten zur Verfügung haben, um zur Selbsterkenntnis zu kommen. Das Wort an sich wirkt bereits albern (und als Verb erst recht) und in Verbindung mit Fels-Bildern im Rahmen des Archäologe-Themas scheint der gesamte Versuch lächerlich. Vergleicht man die Gesamtheit des eigenen Geistes mitsamt aller Erinnerungen und Entwicklungen mit einem Berg, in dem irgendwo das Geheimnis des Selbst verborgen ist, und die für die Aufgabe, den Berg abzutragen und zu durchsuchen, nur ein Göffel zur Verfügung steht, spürt man die Verzweiflung einer Sisyphos-Aufgabe. Hinzukommt, dass es absolut keine eindeutigen Hinweise darauf gibt, wo man mit der Suche ansetzen sollte. Der Geist ist nicht greifbar. Trage ich einen Berg von der Spitze her ab oder von unten? Es scheint manchmal leichter, wenn man ihn einfach sprengen könnte, oder? Doch das darf keine Option sein. Es wäre niemand mehr da, der den Schutthaufen durchsuchen könnte. Eine solche Sprengung, die einem Suizid bedeutete, wird durch das in der dritten Zeile erwähnte Küchenmesser angedeutet.

Ein Göffel ist jedoch nicht nur ein unpraktisches Mittel, um Felsen zu abzutragen, sondern auch ein praktisches Hilfsmittel, um Nahrung zu sich zu nehmen, sich also zu stärken, und vor allem bedeutet er leichtes Gepäck. Alles Unnötige muss abgelegt werden auf der großen Suche, wie die Felsen, die man in den Abgrund stößt, um die wenigen Edelsteine oder Kohleflöze der Erkenntnis – ja, ich weiß, ein komisches Bild … – freizulegen.

Bei aller Schwierigkeit darf man nicht vergessen, dass der Aufbruch zur Suche nach sich selbst und damit nach Zufriedenheit und Freiheit bereits ein Sieg ist, und dass diese Suche schon Informationen in sich trägt, denn bei weitem nicht jede*r macht sich die Mühe einer solchen Lebensaufgabe. Dazu fällt mir ein Zitat von Hermann Hesse aus Demian ein: „Nichts ist dem Menschen mehr zuwider als den Weg zu gehen, der ihn zu sich selber führt.“

Ich bin der Meinung, dass Selbsterkenntnis nicht nur zu einem besseren Leben für einen selbst führt, sondern auch zu einem besseren zusammenleben, mehr Verständnis, besserer Kommunikation, weniger Vorurteilen, Hass und Gewalt. Es ist eine Reise, die jede*r für sich gehen muss, damit alle gemeinsame Vorteile daraus ziehen können, fair und gerecht.