Hinweis: Der Junge, den es nicht gab. Rezension

Hinweis auf die Rezension des Romans “Der Junge, den es nicht gab” von Sjón.

Nachdem ich vor einer Weile bereits Schattenfuchs von Sjón rezensiert hatte, wurde heute meine Rezension des Romans Der Junge, den es nicht gab beim Buchensemble veröffentlicht. 

Es geht um Liebe, Homosexualität und die Spanische Grippe in Island. Aus diesen und anderen Gründen bleibt ist die Geschichte aktuell und wird es wohl auch bleiben.

Die Liebe in Zeiten der Spanischen Grippe – Der Junge, den es nicht gab

Erschütterungen. Dann Stille.: Angerichtet

Über die Geschichte “Angerichtet” in “Erschütterungen. Dann Stille.”

Es ist angerichtet. Ich habe etwas angerichtet. Gerichte kann man essen oder man kann sich von ihnen verurteilen lassen.

In diesem Blogeintrag geht es um die kurze Erzählung Angerichtet im Buch Erschütterungen. Dann Stille., um Liebe und Kunst und die Symbolik von Zahlen. Wie immer ist das alles nicht ohne Spoiler machbar. Lest also bitte zuerst die Geschichte und dann diesen Blogeintrag.

Getrieben sein – oder – Manche Klischees sind keine, manche sehr wohl

Die grundsätzliche Idee für Angerichtet habe ich aus der Kunstgeschichte, und es ist mir peinlich, dass ich nicht mehr weiß, um welchen Künstler oder welche Epoche es sich handelte. Jedenfalls habe ich einmal von einem Maler gelesen, der sein Leben lang einer verheirateten Frau nachgejagt ist. Währenddessen hat er seine Sehnsucht und sein Leid genutzt als Antrieb für die Kunst. Viele Jahre, Briefe und Treffen später verließ die Dame seines Herzens ihren Gatten und bandelte mit dem Künstler an. Es brachen glückliche Zeiten an. Alles war gut. Das Problem war nur, dass der Künstler seinen Antrieb verloren hatte. Ohne Leid konnte er anscheinend nicht malen. Also verließ er die Frau.

Okay, hier ist das Problem (oder gleich mehrere):

  1. Dick move.
  2. Für viele Jahre hätte und habe ich derartigen Krempel gefeiert als Aufopferung für die Kunst.
  3. Aber er opfert nicht nur sein Glück, sondern auch ihres. Mal ganz davon abgesehen, dass wir uns, glaube ich, in dieser Geschichte in einer Zeit bewegen, in der die Frau tatsächlich mit Nichts mehr dagestanden hatte ohne Ehemann.
  4. Ist es das wirklich wert? Hat er es wirklich versucht? Hätte er es länger versuchen sollen? Das Klischee des ohne Leid nicht schaffen könnenden Künstlers hatte ich lange Jahre verinnerlicht. Es gehört noch immer zum Rollenbild der Kunstschaffenden. Das muss doch nicht sein. Zum Glück durfte ich inzwischen lernen, dass auch Kunst (in meinem Fall Literatur) Glück bringen und dass man auch ohne Krise schaffen kann.

Fazit: Er hat sich falsch entschieden. Ich hoffe, es war für die Dame in Frage die bessere Situation. Wer sich so entscheidet, wird nicht unbedingt gutes Partnerschaftsmaterial sein. Kommen wir zu trockeneren Themen.

Die Power der Uhr

Ist euch bewusst, welchen Einfluss die Zeitmessung auf das Leben der Menschen gehabt hat? Ist euch außerdem bewusst, dass es die Industrialisierung war, die die präzise Messung der Zeit massiv vorangetrieben hat, um Prozesse zu verbessern und Profite zu erhöhen? Wusstet ihr, dass es eine Zeit gegeben hat, relativ am Anfang der industriellen Revolution, in der Züge durch England gefahren sind und gelegentlich früher angekommen sind, als sie losgefahren sind? Es hat keine einheitliche Zeitangabe gegeben. Die Messung war die gleiche, aber die Uhren gingen buchstäblich überall anders, und gemessen hat die Kirchturmuhr. Alle Uhren im Ort zeigten die Zeit der Kirchturmuhr. Es hat keine Atom- und Funkuhren gegeben. Das waren noch Zeiten. Hat das alles etwas mit Angerichtet zu tun? Kaum.

Die Uhr als Symbol

Als ich einmal im Deutschunterricht wie selbstverständlich gesagt habe, die Jahreszeiten in einem Gedicht stünden für die Lebensabschnitte des Lyrischen Ichs, wurde ich mit großen Augen angeguckt. Nun, wird es euch wundern, dass man auch Uhrzeiten ähnlich nutzen kann?

Die Erzählung Angerichtet ist aufgeteilt in 4 Teilstücke, die jeweils mit der Angabe einer Uhrzeit beginnen. Morgens, nachmittags, abends, nachts. Am Morgen beginnt die Liebesgeschichte, am Mittag herrscht Ruhe, die Beziehung ist glücklich. Am Abend endet die Beziehung und in der Nacht blickt die Ich-Erzählinstanz auf den Tag zurück und rechnet ab, schaut sich an, was sie angerichtet hat.

Orientiert habe ich mich bei all dem nicht nur an der uralten Symbolik der Jahreszeiten, sondern auch an der Doomsday Clock: Die Doomsday Clock oder Weltuntergangsuhr oder Atomkriegsuhr oder Uhr des Jünsten Gerichts zeigt seit 1947 an, wie nahe wir einem Atomkrieg sind. Sie startete um „11.53 Uhr“ und Anfang 2020 wurde sie auf 100 Sekunden vor Mitternacht gestellt. 100 symbolische Sekunden vor dem Untergang der Welt durch eine atomare Apokalypse. Bekannt könnte die Doomsday Clock vielen aus den Watchmen Comics sein.

Ob nun Jahreszeitensymbolik, die am Ende des Jahres den Tod verortet, oder eine Uhr, die um Mitternacht das Ende der Welt fixiert hat, das Bild ist ähnlich und gut verständlich. Natürlich startet der Tag in Angerichtet auch im Bett, tatsächlich vormittags, was wenigstens am Anfang der Geschichte die Verwendung des Symbols natürlich erscheinen lässt.

Die verdammten Pythagoräer

Spätestens seit dem Blogeintrag Zahlen und Wunder, der von versteckten Zahlenbedeutungen in Sorck handelt, habe ich öffentlich kundgegeben, dass ich die bedeutungslose Nutzung von Zahlen in meinen Geschichten nicht leiden kann. Man könnte behaupten (und das werde ich auch tun), dass ich die Bedeutung der verwendeten Zahlen bereits ausreichend begründet habe. Trotzdem hatte ich versucht, jedem Detail, nicht nur der ungefähren Zeit, sondern der exakten, Bedeutung zuzuweisen. Dabei suchte ich mit schlechtem Erfolg bei den Pythagoräern nach Rat.

Die meisten kennen Pythagoras nur vom Satz des Pythagoras her und bringen ihn damit direkt mit der euklidischen Geometrie in Verbindung. Das ist nicht falsch. Pythagoras war allerdings nicht nur Mathematiker, sondern scharte auch Leute um sich in einer Art Sekte. Die Pythagoräer glaubten eine Menge wirres Zeug und vieles davon basierte auf Zahlenmystik – passend, oder?

Jedenfalls sind hier einige Dinge, die die Pythagoräer mit Zahlen in Verbindung brachten: Gerade Zahlen (besonders die 2) gelten als weiblich, ungerade als männlich. Daher war die 5 (2+3) das Symbol der Heirat. Die 1 war die Zahl der Gottheit, die der Welt zugrunde lag, und die 2, die erste Zahl darüber, stand auch für Kampf oder Diskussion oder Meinung. Viel Spaß dabei, die Uhrzeiten in Angerichtet auf diese paar pythagoräischen Bedeutungszuweisungen zu untersuchen! Es wird trotz aller Mühe nicht sauber klappen.

Und die Liebe? Die Liebe!

Angerichtet gehört zu den Geschichten in Erschütterungen. Dann Stille., die mir irgendwie rein erscheinen. Sie hat kein tiefes Problem, ist nicht überdreht oder großartig komplex. Es geht hauptsächlich um Gefühle, um die Entwicklung einer Beziehung und um eine Entscheidung, die wiederum in einem Gefühl mündet: Reue.

Was hinter der Entscheidung steht, was man sich als Leser*in selbst hinzuzudenken hat und Details haben natürlich eine gewisse Komplexität, aber man kann auch einfach lesen, schmunzeln und dann traurig werden. Es geht um Liebe, lasst das zu!

Erschütterungen. Dann Stille.: Übler Nachgeschmack

Über die Kurzgeschichte “Übler Nachgeschmack” aus “Erschütterungen. Dann Stille.”

Mit den Worten Sie liegt noch immer in der Küche beginnt die Kurzgeschichte Übler Nachgeschmack im Erzählband Erschütterungen. Dann Stille.. Was ich mit diesem Anfang bewirken wollte, wie es zur Erzählung gekommen ist und warum Sehnsuchtsgeschichten in jede Anthologie passen, kläre ich in diesem Blogartikel. Ohne Spoiler ist das nicht zu machen. Lest also bitte zuerst die Geschichte und dann den Artikel!

Content Notes: Mord, Essen, Liebe(skummer)

Hunde?

Die erste Assoziation, die ich selbst immer habe, wenn ich den Anfang von Übler Nachgeschmack wiederlese, ist eine Szene aus dem Film In China essen sie Hunde. (Vorsicht Filmspoiler!) Arvid, der Protagonist, hat seine dauernörgelnde Freundin umgebracht. Auf die Frage, wo sie sich befände, antwortet er: Zuhause. Im Flur… und in der Küche. Auch wenn es nichts mit meiner Geschichte zu tun hat, mag ich die Andeutung von extremer Wut in einem sonst ruhigen Charakter sehr. Arvid hatte die Schnauze voll und hat seine Freundin nicht bloß erschlagen, sondern offenbar mindestens in zwei Stücke zerlegt. Dass es ausgerechnet Gewalt gegen Frauen sein muss, die hier als Scherz genutzt wird, gibt natürlich einen üblen Beigeschmack. Zack, Überleitung.

Ähnliche, weniger spezifische Assoziationen würde ich bei Leser*innen von Übler Nachgeschmack gern auslösen mit dem ersten Satz. Da man noch nicht weiß, worauf sich das Sie zu Beginn bezieht, denkt man zuerst an eine Frau. Da sie noch immer in der Küche liegt, tut sie das wohl schon länger. Und warum sollte man ausgerechnet in der Küche liegen? Nur Verletzte und Tote liegen längere Zeit (regungslos) in der Küche herum. Das oder etwas Ähnliches hätte ich gern in die Köpfe der Leser*innen projiziert. Doch nicht die Partnerin ist tot, sondern die Liebe, und nicht sie liegt herum, sondern die Pizza.

Die Pizza

Ursprünglich ist die Geschichte entstanden, als jemand (auf Twitter oder in einem Forum?) dazu aufrief, Geschichten über Pizza zu schreiben. Das war Teil eines Scherzes, den ich vergessen habe, im Rahmen einer Unterhaltung, die ich ebenfalls vergessen habe. Und dennoch war das der Auslöser. Pizza. Was kann man mit Pizza literarisch anfangen? Gar nicht mal so wenig. Slice of Life – gilt das schon als Pun? – wäre eine passende Assoziation. Oder man nutzt die Pizza eben eher symbolisch, wie ich es getan habe.

Zwei Dinge sollte man mit der Pizza in Übler Nachgeschmack verbinden: Hunger und das Festhalten an Dingen, die man loslassen sollte. Die Ich-Erzählinstanz (oder Ich-Erzähler*in?) erwähnt den Hunger zum Zeitpunkt des letzten Streits des Paares. Aber man kann den Hunger auch als Sehnsucht interpretieren. Etwas fehlt, etwas Essenzielles. Nahrung, um zu überleben, oder Seelennahrung, Nähe, Liebe, um zu leben. Loslassen sollte die erzählende Person die Beziehung der beiden, die offensichtlich zerbrochen ist, schlecht geworden, nachdem sie zu lange schlechten Einflüssen ausgesetzt gewesen war. Irgendwann reicht es. Eine ungesunde Beziehung oder gammelige Lebensmittel sollte man wegwerfen, so schade es auch manchmal sein mag. (An dieser Stelle verlinke ich meinen Blogeintrag über Lebensmittelmetaphern in Alte Milch.)

Das große Fehlen

Ich habe keine Ahnung, wie glücklich du gerade bist. Du liest das hier. Das bedeutet, du hast immerhin die Zeit dazu. Vielleicht interessiert dich das Thema sogar und du liest nicht aus einem Gefühl der Verpflichtung heraus. Dann könntest du zufrieden sein. Wie groß ist der Anteil der zufriedenen Momente an deinem kompletten Leben? Oder einem Zeitabschnitt, sagen wir innerhalb dieses Jahres?

Auch wenn du glücklich bist, vermisst du sicherlich Dinge, Zeiten, Menschen. Sehnsucht ist etwas, das jede*r kennt. Oder? Ich weiß es nicht, vermute es aber. Auch wenn heutzutage klar ist, dass nicht alle (gesunden wie ungesunden) Menschen romantische Liebe empfinden, fühlen doch alle (gesunden) Menschen irgendeine Form von Liebe. Und immer gibt es in Biographien Zeiten, die es mehr oder weniger verdient haben, vermisst zu werden und Sehnsucht auszulösen. Sehnsucht ist menschlich (wie Irren, was zu Fehlern führt, was wiederum zu Sehnsucht führen kann).

Das große Fehlen von Dingen, Zeiten, Menschen, Zuständen treibt uns voran (und manchmal zurück). Sehnsucht ist ein Zustand, der uns beflügeln kann. Evolutionär sinnvoll. Emotional anstrengend. In der Literatur liegt man selten falsch, wenn man Liebe zum (Neben)Thema macht, und eben so wenig, wenn man Sehnsucht dazu macht. Deshalb sind Sehnsuchtsgeschichten, die auch gerne mal getarnt sind, immer eine gute Wahl für Anthologien. (An dieser Stelle verlinke ich mal wieder den Auftritt von Neil Hilborn: Neil Hilborn – OCD, einem perfekten Beispiel für einen Sehnsuchtstext.)

Du fehlst mir

Simplizität bedeutet Direktheit bedeutet schnelles Verstehen bedeutet Mitfühlen. Literatur kann und darf verkopft und seltsam und schwierig sein, aber geht es um Gefühle, geht es um Sehnsucht, ist nichts besser als eine direkte, knappe, scheinbar alltägliche, deutliche Aussage wie Du fehlst mir. Du fehlst mir hat mehr Macht als alle Jahreszeiten- und Blumenvergleiche der Welt. Du wirst mich niemals so an mich selbst und mein Leben und Leiden erinnern, als wenn du Aussagen nutzt, die auch Kindern einfallen könnten: Ich will nach Hause. Du fehlst mir. Lass mich! Ich brauche Hilfe.

Versucht man also, Gefühle in Leser*innen auszulösen, sind direkte Formulierungen unschlagbar. Sie sind da. Sie sind nah. Sie sind so kurz, dass sie sozusagen plötzlich im Auge, im Kopf, im Herzen der Leser*innen sind. Ist der Satz gelesen, ist er bereits verarbeitet und verknüpft. Kein Nachdenken. Nur Fühlen. Sätze mit etwa 2 oder 3 Wörtern brechen Herzen. Ich liebe dich. Ich vermisse dich. Du bedeutest mir nichts. Geh weg. Sätze, die man hört und sagt, wenn der Kopf im Chaos versinkt und nichts mehr hält. Stil ist egal. Du fehlst mir.

Erschütterungen. Dann Stille.: Not In Love

Über die Kurzgeschichte “Not In Love” in “Erschütterungen. Dann Stille.”

Viele Autor*innen schreiben gern mit Hintergrundmusik und haben dafür eigene Playlists oder Go-To-Songs. Eigentlich gehöre ich nicht zu diesen Autor*innen. Ich bevorzuge Stille oder White Noise. Doch manchmal kommen Musik und Schreibarbeit ungeplant zusammen. Dann entsteht etwas Neues. In diesem Blogeintrag geht es um die Geschichte Not In Love in Erschütterungen. Dann Stille.. Warnung: Spoiler sind unmöglich zu vermeiden.

Content Notes: Selbstverletzung, Alkohol, Liebeskummer, Verwirrung

Es ist Freitag, ich bin in Liebe

Der zitierte Tweet einer Twitter-Autorin ist aus einer Reihe ihrer Freitagstweets. It’s Friday, I’m in love hat Robert Smith 1992 zu singen begonnen und tut es in den Köpfen vieler noch immer. 2010 hat er etwas anderes zu singen begonnen: I’m not in love. Not In Love ist ein Cover von Crystal Castles (von 2010) mit Smith als Ausnahme-Sänger und im Original von Platinum Blonde aus dem Jahr 1983. Dies ist Song Nr. 1, der mich inspirierte.

Song Nr. 2 ist ebenfalls von Crystal Castles und heißt Sad Eyes. Er ist aus dem Jahr 2012, von einem anderen Album. Aus irgendwelchen Gründen wurden beide Titel in meiner Playlist direkt aufeinander folgend gespielt (so wie im Augenblick des Schreibens dieses Artikels auch). You can’t disguise sad eyes, heißt es dort. Und dann hat es mich gepackt. Ich habe beide Songs auf Dauer-Repeat gestellt und geschrieben.

Refrain: I’m not in love!

Vehement behauptet die Stimme: I’m not in love! I’m not in love! Sie behauptet es so häufig, dass es unglaubwürdig wird. Warum sollte irgendjemand wieder und wieder betonen, dass er nicht mehr liebt? Und wie eine Befreiung oder Aufklärung ändert sich der Text in We are not in love. Das Ich darf nicht mehr „in Liebe“ sein (ich mag und klaue diese Formulierung oder Direktübersetzung von Jess an dieser Stelle), weil das Paar nicht mehr existiert, weil das Wir nicht mehr „in Liebe“ ist – wie könnte es, wenn mindestens ein Part die Liebe aufgegeben hat?

Eine ähnliche Assoziationskette wollte ich auslösen mit der Wiederholung der Worte Not In Love in der Geschichte. Außerdem wollte ich mit der Wiederholung, die wie ein Mantra oder Refrain wirkt, auf den Song und die musikalische Herkunft der Erzählung hindeuten. Der Ich-Erzähler versucht, sich selbst zu überreden. Er singt sich seine Lügen vor, bis er sich endlich davon befreien kann.

Ja ja, die Liebe

Liebe in allen Variationen ist vermutlich das älteste und meist behandelte Thema der gesamten Literatur- und Kulturgeschichte der Welt. Als Thema wird es niemals ausgedient haben. Jedenfalls nicht, solange die Menschen noch lieben, noch in Liebe sind, noch die Liebe verlieren und vermissen und Sehnsucht haben und hoffen, immer wieder hoffen.

Ich habe vermutlich nicht mehr Ahnung von Vergnügen und Schmerz der Liebe als die meisten anderen, auch wenn es sich für jede*n so anfühlen mag, dass er gerade jetzt, gerade hier besonders heftig zugeschlagen hat.

Mir fällt gerade auf, dass ich einen Fehler begangen habe. Mal wieder habe ich Liebe mit romantischer Liebe gleichgesetzt. Nicht alle empfinden romantische Liebe und das ist okay. Ich würde tatsächlich gern mehr über andere Formen der Liebe (Freundschaft beispielsweise) lesen. Doch wer zu romantischer Liebe fähig ist (oder dazu verdammt, sie zu empfinden), wird mir vermutlich zustimmen, dass es wenig gibt, das sich intensiver anfühlt. Daher verzeihe man mir meine fehlerhafte Ausdrucksweise in Anbetracht der albernen Emotionsnostalgie, in die man verfallen kann, wenn man über romantische Liebe nachdenkt.

Tempo, und Stopp!

Not In Love ist verwischt, was das Tempo angeht. Die Erzählung ist nicht stabil, sondern rennt einmal voran und stoppt dann wieder, um einen kurzen Moment festzuhalten, der wichtiger zu sein scheint als die Jahre davor. Kennt ihr das aus der eigenen subjektiven Wahrnehmung der Zeit? Im Positiven kann es vorkommen, dass man tage- und wochenlang hetzt und nicht zur Ruhe kommt, und dann sitzt ihr da und haltet eine Hand in eurer Hand. Das Tempo ändert sich. Endlich. Im Negativen sieht es ähnlich aus, aber fühlt sich anders an. Alles rast in Gleichgültigkeit und in Stumpfsinn emotionslos vorbei, bis ihr die Hand, die euch gerettet hatte, in einer fremden Hand erblickt. Alles gefriert und splittert und brennt zugleich. Der Anblick eines vertrauten Menschen kann unfassbar schmerzhaft sein. Das ist es, was ich erreichen wollte, als ich die Szene hervorgehoben habe, in der der Ich-Erzähler seine ehemalige Partnerin entdeckt. Nicht mehr die Person zu sein, deren Hand gehalten wird, tut weh, nicht die Existenz der fremden Hand, sondern was sie bedeutet.

Kein toxischer Müll

Mir ging es um die Erfahrung des Verlassen-Werdens, des emotional Auf-Sich-Gestellt-Seins, der Einsamkeit und des Nicht-Loslassen-Könnens. Wichtig war mir dabei, dass die Darstellung nicht giftig wird. Kein Hass gegenüber der ehemals geliebten Person. Noch weniger wollte ich dieses ekelhafte Verhalten darstellen (oder gar romantisieren), das sich bei manchen zeigt: Verfolgung, übergriffige Rückeroberungsversuche, Gesten, die vielleicht schön sein sollen, aber auch Angst machen können.

Ein „ich bin immer in deiner Nähe“ kann unglaublich creepy sein und ist z.B. nicht zu vergleichen mit dem „ich lasse nachts die Tür auf, falls sie doch entscheidet, zurückzukommen“ wie in Neil Hilborns Auftritt , die ich im Artikel über die Erzählung Heimweg erwähnt hatte. Keine Liebe der Welt rechtfertigt es, die bewusst (und in geistig gesundem Zustand) getroffenen Entscheidungen anderer zu missachten.

Chaos der Wohnung als Chaos im Herzen

Zu Beginn von Not In Love zerschlägt der Ich-Erzähler einen Spiegel. Am Ende verletzt er sich selbst mit einer Scherbe des Spiegels. Wie viel Zeit dazwischen vergeht, lasse ich absichtlich offen, aber der Eindruck sollte entstehen, dass es sich um mehrere Monate handelt, wenigstens aber etliche Wochen. Was sagt es über den inneren Zustand des Ich-Erzählers aus, dass seine Wohnung nach Wochen und Monaten noch immer nicht aufgeräumt worden ist? Wer sich schon einmal aus Krisen gearbeitet hat, weiß, dass eine ordentliche Umgebung der inneren Genesung behilflich ist. Wir kümmern uns um das, was wir relativ einfach ändern können. Wir verändern die Welt, in der wir leben. Wir schaffen etwas. Wer stets im Chaos, in richtigem Chaos, lebt, hat vermutlich mehr Probleme als nur die Unordnung in der Wohnung. Auch das ist eine Assoziation, die ich auslösen wollte.

Klappe zu, Affe tot

Dieser Spruch bezieht sich übrigens auf Drehorgeln, soweit ich weiß. Im Fall des Erzählers sollte man eher sagen: „Finger ab, Problem gelöst“. Das ist natürlich Unfug. Niemand, der sich selbst verstümmelt, ist klar bei Verstand. So werden keine Probleme gelöst, wenn man nicht gerade in einem Saw-Szenario gefangen ist oder fernab der Zivilisation mit Wundbrand zu kämpfen hat.

Der abgetrennte Finger steht symbolisch für die Trennung vom bisherigen Lebensabschnitt. Der „Abschnitt“ wird wortwörtlich abgetrennt. Er liegt noch nicht hinter ihm. Der Stumpf wird bluten, der Finger herumliegen. Es wird weiterhin Schmerzen geben. Es ist sogar möglich, dass der Finger wieder angenäht wird.

Der Ich-Erzähler beginnt mit einer Rechtfertigung, in der er ganz klar sagt, dass seine Gedanken bei der Tat „ausgelöscht“ gewesen waren. Es war kein durchdachter Akt, aber auch keine blinde Zerstörungswut. Wenn wir ohne nachzudenken und drastisch handeln, führen wir oft symbolische Akte aus. Ich bin in einem ähnlichen Zustand einmal barfuß durchs Feuer gelaufen. Die Faust, die den Spiegel zerschlägt, ist ein weiterer Klassiker. Wir reden hier nicht von psychisch gesundem Umgang mit den eigenen Gefühlen, aber immerhin von etwas, das vielen vertraut sein könnte.

Der Finger und die Schwäche Wolverines

In der allerersten Version von Not In Love schneidet sich der Ich-Erzähler mit der Scherbe den Finger ab, aber das ist ziemlich schwierig und dauert eine Weile. Daher habe ich mich für die schnelle Abtrennung entschieden, wie sie in der Geschichte beschrieben steht. Der Knochen dürfte das größte Problem beim Vorgang darstellen, aber am Gelenk sollte es leichter gehen. So. Aufgepasst! Wolverine hat starke Selbstheilungskräfte und seine Knochen sind aus Adamantium, das weitestgehend unzerstörbar sein soll. Aber es gibt schließlich Gelenke und knochenlose Körperteile, Schwachstellen. Würde man beispielsweise Wolverines Arme an den Schultern abtrennen, verlöre er das Adamantium dort, auch wenn die Arme nachwachsen sollten. Man kann ihn auf diese Weise nicht umbringen, aber immens und dauerhaft schwächen. Nur so ein Gedanke.

Erschütterungen. Dann Stille.: Heimweg

Über die Kurzgeschichte “Heimweg” in “Erschütterungen. Dann Stille.”

Wohin geht der Weg, wenn man getrieben ist und sucht, ohne zu wissen, wonach man suchen sollte, oder, schlimmer noch, wissend, dass das, was man sucht, nicht gefunden werden kann, nicht gefunden werden will? Manchmal verläuft man sich. Heimweg ist eine Kurzgeschichte aus Erschütterungen. Dann Stille.. Im Folgenden werde ich um Spoiler zur Geschichte und auch zu Sorck nicht herumkommen. Zweitere sind jedoch von geringer Wichtigkeit. Lest am besten erst die Erzählung und dann diesen Blogeintrag.

Verlaufen

Schon in Das Maurerdekolleté des Lebens drehte sich vieles um das Bild des Verlaufens, des Suchens nach etwas, ohne genau zu wissen, was es ist. Martin stolpert durch die Stadt, immer auf der Flucht vor der Leere in den eigenen vier Wänden und der Sehnsucht nach dem Alleinsein. Er hat kein Zuhause mehr, weil sie sein Zuhause gewesen ist und das Gefühl der Geborgenheit mitgenommen hat. Martin hat sich verlaufen, weil er nirgendwo mehr hingehört. Die Punkte auf der Landkarte, an denen er rastet und Zeit verbringt, könnten willkürlich andere sein. So fühlt es sich manchmal an, wenn man verlassen ist. Gerade jetzt erinnert es mich an den großartigen Song Spiral Wings von John Doran & Gnod auf dem Album Hubris. Besonders die Stelle, an der der Sprecher realisiert: I ain’t even f*cking moving, obwohl er ein Leben lang die eigenen Spuren zu verfolgen gesucht hatte.

Martin, Martin Sorck?

Martin, der Protagonist in der Kurzgeschichte Heimweg ist, obwohl es nicht als Nebengeschichte zu Sorck gedacht ist, auch nicht ganz zufällig mit dem gleichen Namen bedacht wie Martin Sorck. Die Probleme des nachnamenlosen Martin aus Heimweg sind artverwandt und teilweise sogar die gleichen wie jene Sorcks. Beide sind unterwegs, trinken zu viel und sind einsam. Doch die Partnerin macht den Unterschied. Dieser Martin hier vermisst seine ehemalige Partnerin, während Martin Sorck sich nach der möglicherweise zukünftigen Partnerin Eva sehnt.

Wollte man Heimweg ins Sorck-Universum – was für ein geiler Begriff, oder? – einfügen, so wäre die Geschichte vermutlich eine frühere Episode. Der Martin Sorck nach der Kreuzfahrt wäre sich vermutlich der Theatralik der Szene bewusst und würde sie ironisch betrachten, anstatt sie auf gleiche Weise zu durchleiden. Satzfetzen wie eine Nacht, über die man am besten nur sagt, dass es nieselte hätten allerdings auch zum Protagonisten der Kreuzfahrt gepasst.

Inspiration

Wie ich im Blogartikel Verlaufen über einige Ideen hinter Das Maurerdekolleté des Lebens bereits geschrieben habe, habe ich mich im Leben häufiger verlaufen. Nicht selten ist das auf ähnlichen (ähnlich besoffenen) Spaziergängen passiert, wie jenem in Heimweg. Dass ich schon mehr als einmal verliebt gewesen und verlassen worden bin und hartnäckig vermisst habe, kann man sich wohl denken. Manche Gedichte in Alte Milch zeugen sehr deutlich davon. So viel oder so wenig zum persönlichen Hintergrund.

Eine weitere Inspirationsquelle, von der ich allerdings nicht mehr 100 % sicher bin, ob sie wirklich dazu beigetragen oder mich bloß sehr berührt hat, ist das Video eines Auftritts von Neil Hilborn: Neil Hilborn – OCD. Ob nun aus Interesse an meiner Arbeit oder warum auch immer, schaut es euch mal an! Mir hat es wehgetan, weil ich das grundsätzliche Gefühl gut nachempfinden konnte. Und auch in Heimweg ist nicht das Thema des Videos eingeflossen, sondern das Gefühl der kaum erträglichen Sehnsucht und der Hoffnung, die doch nichts als Schmerz bringt. Martin nutzt den Namen seiner ehemaligen Partnerin wie eine Beschwörungsformel, um Albträume fernzuhalten, und doch sind es die Träume, in denen sie auftaucht, die ihn am meisten mitnehmen.

Letzte Worte

An dieser Stelle würde ein Teil von mir gern einen Absatz über die Macht von Namen anfügen, geheimen Namen, mächtigen Namen und all das. Auch könnte ich an Albert Camus und Der Fremde erinnern, an die Szene, in der der Protagonist das einzige Mal im ganzen Roman laut wird und die Unfairness seines Schicksals beklagt, und wie diese Szene möglicherweise dem Ende von Heimweg ähnelt. Aber emotional gehört das nicht mehr hierhin, wäre es nicht mehr stimmig. Ich schließe an dieser Stelle, weil ich mich im Text verlaufen habe.